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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_11/2008 
 
Urteil vom 29. April 2008 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Parteien 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
S.________, Beschwerdegegnerin, 
vertreten durch Rechtsanwalt Arthur Andermatt, Teufener Strasse 8, 9000 St. Gallen. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 3. Dezember 2007. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Mit Verfügung vom 18. Juni 2002 sprach die IV-Stelle des Kantons St. Gallen der 1948 geborenen S.________ ab 1. Januar 2002 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zu. Im März 2005 leitete die Verwaltung von Amtes wegen ein Revisionsverfahren ein und traf entsprechende Abklärungen. Mit Verfügung vom 4. Mai 2006 hob sie die Rente auf mit der Begründung, der Gesundheitszustand der Versicherten habe sich verbessert und die Erzielung eines rentenausschliessenden Einkommens sei möglich. Mit Einspracheentscheid vom 14. August 2006 bestätigte die IV-Stelle die Rentenaufhebung mit der substituierten Begründung, die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung der Verfügung vom 18. Juni 2002 seien erfüllt. 
 
B. 
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde der S.________ hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 3. Dezember 2007 den Einspracheentscheid vom 14. August 2006 auf und wies die Sache zur Behandlung der Einsprache im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück. 
 
C. 
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 3. Dezember 2007 sei aufzuheben und eventuell die Streitsache an das kantonale Gericht zur Beurteilung der Voraussetzungen einer Wiedererwägung zurückzuweisen. 
 
S.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen und um unentgeltliche Rechtspflege ersuchen. Das kantonale Gericht beantragt die Abweisung der Beschwerde, das Bundesamt für Sozialversicherungen deren Gutheissung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Der vorinstanzliche Entscheid hebt den Einspracheentscheid vom 14. August 2006 auf, soweit dieser eine Wiedererwägung der Verfügung vom 18. Juni 2002 nach Art. 53 Abs. 2 ATSG anordnete, und weist die Sache für eine allfällige Revision der ganzen Rente im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG nach weiteren Abklärungen an die IV-Stelle zurück. 
 
Angefochten ist einzig die Aufhebung des Einspracheentscheides, soweit sie auf der von der Vorinstanz als rechtswidrig erachteten Wiedererwägung der Verfügung vom 18. Juni 2002 beruht. 
 
2. 
Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs. 1 ATSG). Anlass zur Rentenrevision gibt somit jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch zu beeinflussen (BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349; Urteil U 35/07 vom 28. Januar 2008 E. 3). 
 
Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG kann die IV-Stelle auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Die Wiedererwägung im Sinne dieser Bestimmung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung einschliesslich unrichtiger Feststellung im Sinne der Würdigung des Sachverhalts (BGE 117 V 8 E. 2c S. 17 mit Hinweis; Urteil 9C_215/2007 vom 2. Juli 2007 E. 3.1). 
 
Die Wiedererwägung ist jederzeit möglich (vgl. Art. 53 Abs. 3 ATSG), insbesondere auch wenn die Voraussetzungen der Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG nicht erfüllt sind. Wird die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung erst vom Gericht festgestellt, so kann es die im Revisionsverfahren verfügte Aufhebung der Rente mit dieser substituierten Begründung schützen (BGE 125 V 368 E. 2 S. 369; Urteil I 61/2007 vom 4. Mai 2007 E. 3). 
 
3. 
Nach Auffassung der Vorinstanz hätte die IV-Stelle über die wiedererwägungsweise Aufhebung der ganzen Rente eine Verfügung erlassen müssen und nicht im Rahmen des Einspracheentscheids zur Rentenrevision darüber befinden dürfen. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach das Gericht eine mangels einer nachträglichen Sachverhaltsänderung zu Unrecht ergangene Revisionsverfügung mit der substituierten Begründung, die ursprüngliche Rentenzusprache sei zweifellos unrichtig und die Berichtigung von erheblicher Bedeutung, schützen könne, lasse sich nicht auf das verwaltungsinterne Rechtsmittel der Einsprache übertragen. Die mit der Beurteilung einer Einsprache gegen die eigene Revisionsverfügung befasste IV-Stelle befinde sich in einer ganz anderen Situation als das kantonale Versicherungsgericht. Sie könne das hängige Einspracheverfahren sistieren und parallel dazu ein gegen die ursprüngliche Rentenzusprache gerichtetes Wiedererwägungsverfahren eröffnen. Werde die Rente wiedererwägungsweise aufgehoben, könne das hängige Einspracheverfahren als gegenstandslos abgeschrieben werden. Ein solches Vorgehen sei für die versicherte Person nicht nachteilig und bedeute für die IV-Stelle keinen höheren Aufwand. Denn bei blosser Auswechslung des Verfahrensgegenstandes hätten die Versicherten im Rahmen des rechtlichen Gehörs de facto die Möglichkeit, hinsichtlich der Wiedererwägung materiell Stellung zu nehmen. Anders als bei einer gerichtlichen Beurteilung bestehe für die Verwaltung keine Notwendigkeit, im Einspracheverfahren die unzulässige revisionsweise Rentenaufhebung wiedererwägungsweise zu ersetzen. Sie könne ohne weiteres den verfahrensrechtlich korrekten Weg gehen und eine mit Einsprache anfechtbare Wiedererwägungsverfügung erlassen. 
 
Im Übrigen beruhe die bundesgerichtliche Praxis auf einem Irrtum darüber, was effektiv substituiert würde. Das Bundesgericht gehe implizit davon aus, das Dispositiv der angefochtenen Rentenrevisionsverfügung sei durch die Substitution der Begründung nicht tangiert, da nur diese ausgewechselt werde. Dahinter stehe die Auffassung, dass sich das Dispositiv der Revisions- und jenes der Wiedererwägungsverfügung ex nunc auf die Festsetzung des (neuen) Rentenbetrages und des Wirkungszeitpunktes beschränkten. Das Bundesgericht übersehe, dass die Wiedererwägungsverfügung eine frühere Verfügung aufhebe, die Revisionsverfügung eine solche aber nur ablöse, weshalb deren Aufhebung nicht angeordnet werden müsse. Somit werde nicht nur die Begründung, sondern auch das Dispositiv der angefochtenen Revisionsverfügung ausgewechselt, wenn die Rechtsmittelinstanz die Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG durch eine Wiedererwägung (ex nunc) nach Art. 53 Abs. 2 ATSG ersetze. Dahinter stehe die Auswechslung des Verfahrensgegenstandes. Eine Wiedererwägung könne aufgrund des für sie typischen Widerrufs der früheren Leistungsverfügung ohnehin nicht ex nunc wirken. Die sogenannte "Wiedererwägung ex nunc" sei im Ergebnis nichts anderes als ein von Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG nicht gedeckter und deshalb rechtswidriger Verzicht auf die Rückerstattung zu Unrecht ausgerichteter Leistungen. 
 
4. 
4.1 Mit der IV-Stelle und dem Bundesamt ist nicht einzusehen, weshalb das Gericht befugt sein soll, eine Verfügung auf Beschwerde hin mit einer gegenüber der Verwaltung abweichenden Begründung zu schützen, der Verwaltung aber ein solches Vorgehen im Rahmen des Einspracheverfahrens verwehrt sein soll. Die fehlende Notwendigkeit, die Begründung im Einspracheverfahren resp. im Einspracheentscheid zu substituieren, kann nicht mit der Unzulässigkeit eines solchen Vorgehens gleichgesetzt werden. Die IV-Stelle kann zwar den von der Vorinstanz aufgezeigten Weg einschlagen. Rechtlich korrekt ist aber auch, die Einsprache gutzuheissen und gleichzeitig (in Form einer anfechtbaren Verfügung) die Rentenherabsetzung oder -aufhebung wiedererwägungsweise anzuordnen. Dieses Vorgehen ist im Ergebnis dasselbe, wie wenn die IV-Stelle dem Versicherten im Einspracheverfahren das rechtliche Gehör zur Substitution der Begründung gewährt. Schliesslich hat das nach Auffassung der Vorinstanz verfahrensrechtlich korrekte Vorgehen gemäss Aufsichtsbehörde keine prozessökonomischen Vorteile. Durch ein parallel zum hängigen Einspracheverfahren eröffnetes Wiedererwägungsverfahren würden zweifelsohne die gesamte Verfahrensdauer verlängert und der Verfahrensaufwand erhöht. 
 
4.2 Soweit die Vorinstanz die Rechtsprechung, wonach das Gericht die im Revisionsverfahren verfügte Aufhebung der Rente mit der substituierten Begründung, die ursprüngliche Rentenzusprache sei zweifellos unrichtig und die Berichtigung von erheblicher Bedeutung, bestätigen kann, in Frage stellt, besteht kein Anlass für eine Praxisänderung (vgl. zu den Voraussetzungen BGE 132 V 257 E. 2.4 S. 262). 
4.2.1 Bei der Wiedererwägung einer formell rechtskräftigen Verfügung oder eines formell rechtskräftigen Einspracheentscheides, sei es im Rahmen der substituierten Begründung bei Gelegenheit eines Revisionsverfahrens nach Art. 17 Abs. 1 ATSG und Art. 87 ff. IVV, sei es sonst von Amtes wegen oder auf Gesuch hin, gilt es, wenn spezifisch IV-rechtliche Aspekte zur Diskussion stehen, mit Wirkung ex nunc et pro futuro einen rechtskonformen Zustand herzustellen (Art. 85 Abs. 2, Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV; BGE 110 V 291 E. 3 S. 293 ff.; Urteil 9C_215/2007 vom 2. Juli 2007 E. 6.1). Um die Frage nach dem zukünftigen Rentenanspruch prüfen zu können, muss die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung festgestellt sein. Ist dies der Fall und die Berichtigung von erheblicher Bedeutung, was auf periodische Dauerleistungen regelmässig zutrifft (vgl. BGE 119 V 475 E. 1c S. 480 mit Hinweisen; Urteil 9C_655/2007 vom 4. Januar 2008 E. 2), sind die Anspruchsberechtigung und allenfalls der Umfang des Anspruchs pro futuro zu prüfen (Urteil 9C_215/2007 vom 2. Juli 2007 E. 6.1). Es kann somit nicht mit der Feststellung der zweifellosen Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung sein Bewenden haben. Vielmehr ist wie bei einer materiellen Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG auf der Grundlage eines richtig und vollständig festgestellten Sachverhalts der Invaliditätsgrad im Zeitpunkt der Verfügung oder des Einspracheentscheides zu ermitteln (in diesem Sinne auch Urteil I 859/05 vom 10. Mai 2006 E. 2.3), woraus sich die Anspruchsberechtigung und allenfalls der Umfang des Anspruchs ergeben (Art. 28 Abs. 1 IVG). 
 
Aufgrund des Gesagten kann sich im vorliegenden Fall mangels Anhaltspunkten für eine Meldepflichtverletzung (Art. 88bis Abs. 2 lit. b in Verbindung mit Art. 77 IVV) die Frage einer Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen (Art. 25 Abs. 1 ATSG) von vornherein nicht stellen. Insofern kann auch nicht von einer Auswechslung des Verfahrensgegenstandes gesprochen werden. 
4.2.2 Im Weiteren stellt die Wiedererwägung formell rechtskräftiger Verfügungen oder Einspracheentscheide im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG eine Befugnis und nicht eine Verpflichtung der Verwaltung dar (BGE 133 V 50 E. 4.1 und E. 4.2.1 S. 52 ff.), und zwar in grundsätzlicher, masslicher und zeitlicher Hinsicht. Geht es jedoch um die wiedererwägungsweise Herabsetzung oder Aufhebung einer Invalidenrente, ist die Herstellung einer rechtmässigen Anspruchsberechtigung positivrechtlich geregelt, indem die Anspruchsänderung - von den hier nicht interessierenden Ausnahmen einer unrechtmässigen Erwirkung der Leistung oder einer Meldepflichtverletzung (Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV) abgesehen - in analoger Anwendung von Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV vom ersten Tag des zweiten der Zustellung der Verfügung folgenden Monats an wirksam wird (Urteile 9C_215/2007 vom 2. Juli 2007 E. 6.1 und I 546/03 vom 3. August 2003 E. 2.2 mit Hinweis). 
 
4.3 Nach dem Gesagten besteht kein Grund, die von der Vorinstanz in Frage gestellte Rechtsprechung (E. 2) aufzugeben. Ausserdem ist diese Praxis auch im Verwaltungsverfahren anwendbar. Dies ergibt sich zwingend aus dem Grundsatz der Einheit des Verfahrens, wonach die Vorinstanz mindestens die gleichen Befugnisse hat wie die Beschwerdeinstanz (vgl. Art. 111 BGG). Dabei ist der versicherten Person im Vorbescheid- oder im Einspracheverfahren das rechtliche Gehör zur Substitution der Begründung zu gewähren (BGE 128 V 272 E. 5b/bb S. 278, 122 V 35 E. 2c S. 37). 
Die Vorinstanz hat somit zu Unrecht den Einspracheentscheid vom 14. August 2006 aufgehoben und die Frage der wiedererwägungsweisen Aufhebung der ganzen Rente durch die IV-Stelle nicht materiell geprüft. Das wird sie nachzuholen haben. 
 
5. 
Dem Begehren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG) kann entsprochen werden, weil die Bedürftigkeit auf Grund der eingereichten Unterlagen als ausgewiesen gelten kann, die Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin als geboten erscheint und die Rechtsbegehren nicht als aussichtslos bezeichnet werden können (BGE 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135, 128 I 225 E. 2.5.3 S. 235). Die Beschwerdegegnerin wird der Gerichtskasse jedoch Ersatz zu leisten haben, wenn sie später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 3. Dezember 2007 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie über die wiedererwägungsweise Aufhebung der Rente durch die IV-Stelle entscheide. 
 
2. 
Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt. 
 
3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen. 
 
4. 
Rechtsanwalt Arthur Andermatt wird als unentgeltlicher Anwalt der Beschwerdegegnerin bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1000.- ausgerichtet. 
 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
Luzern, 29. April 2008 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: 
 
i.V. Lustenberger Dormann