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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
H 98/05 
 
Urteil vom 6. Dezember 2005 
IV. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin Keel Baumann 
 
Parteien 
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
B.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Dr. Peter Bont, Dornacherstrasse 24, 4600 Olten, 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn 
 
(Entscheid vom 12. Mai 2005) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die Firma I.________ AG, war der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn vom 1. Mai 1993 bis 30. April 2003 als beitragspflichtige Arbeitgeberin angeschlossen. Am 14. Juni und am 24. September 2002 sowie am 22. Januar 2003 wurden der Ausgleichskasse definitive Verlustscheine infolge Pfändung für ausstehende Beiträge einschliesslich Folgekosten ausgestellt. Im April 2003 fiel die Firma I.________ AG in Konkurs. 
 
Mit Verfügung vom 15. Dezember 2003 verpflichtete die Ausgleichskasse B.________ als Präsidenten des Verwaltungsrates unter solidarischer Haftung mit V.________, Mitglied des Verwaltungsrates, zur Bezahlung von Schadenersatz für entgangene AHV/IV/EO/ALV-Beiträge (einschliesslich Verwaltungskosten, Mahngebühren, Betreibungskosten und Verzugszinsen) in der Höhe von Fr. 174'955.80. Daran hielt sie auf Einsprache des B.________ hin fest (Entscheid vom 9. August 2004). 
B. 
Die von B.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 12. Mai 2005 gut, hob den Einspracheentscheid sowie die Schadenersatzverfügung auf und verpflichtete die Kasse, B.________ eine Parteientschädigung von Fr. 1'600.- (einschliesslich Auslagen und Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
C. 
Das Bundesamt für Sozialversicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt die Aufhebung des kantonalen Entscheides. 
 
B.________ lässt auf Abweisung und die Ausgleichskasse auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist vollumfänglich einzutreten, da die Ausgleichskasse mit Verfügung vom 15. Dezember 2003 (Einspracheentscheid vom 9. August 2004) lediglich Schadenersatz für entgangene Beiträge kraft Bundesrechts geltend macht (BGE 124 V 146 Erw. 1 mit Hinweisen). 
2. 
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). 
3. 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Ausgleichskasse die Schadenersatzforderung gemäss Art. 52 AHVG mit Verfügung vom 15. Dezember 2003 rechtzeitig geltend gemacht hat. 
4. 
4.1 Gemäss Art. 82 Abs. 1 AHVV in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung verjährt die Schadenersatzforderung, wenn sie nicht innert Jahresfrist seit Kenntnis des Schadens durch Erlass einer Schadenersatzverfügung geltend gemacht wird, auf jeden Fall aber mit Ablauf von fünf Jahren seit Eintritt des Schadens. Nach der Rechtsprechung handelt es sich dabei - entgegen dem Wortlaut - um Verwirkungsfristen (BGE 128 V 12 Erw. 5a, 17 Erw. 2a, je mit Hinweisen). Die diese Norm ablösende, auf 1. Januar 2003 (mit der Einführung des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG] vom 6. Oktober 2000) in Kraft getretene Bestimmung des Art. 52 Abs. 3 AHVG sieht vor, dass der Schadenersatzanspruch zwei Jahre, nachdem die zuständige Ausgleichskasse vom Schaden Kenntnis erhalten hat, und jedenfalls fünf Jahre nach Eintritt des Schadens verjährt (Satz 1). Diese Fristen können unterbrochen werden (Satz 2). Der Arbeitgeber kann auf die Einrede der Verjährung verzichten (Satz 3). Dabei handelt es sich, wie das Eidgenössische Versicherungsgericht unlängst unter Hinweis auf den Gesetzeswortlaut und die Materialien (BBl 1994 V S. 983 f., 1999 V S. 4763) entschieden hat, um Verjährungsfristen (in SJ 2005 I S. 272 publiziertes Urteil F. vom 30. November 2004, H 96/03, Erw. 5.1). 
 
Weder das AHVG noch das ATSG enthalten eine spezielle Übergangsbestimmung betreffend die Anwendbarkeit der Verwirkungsfrist nach aArt. 82 Abs. 1 AHVV und der Verjährungsfrist nach Art. 52 Abs. 3 AHVG
4.2 Kenntnis des Schadens ist in der Regel von dem Zeitpunkt an gegeben, in welchem die Ausgleichskasse unter Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit erkennen muss, dass die tatsächlichen Gegebenheiten nicht mehr erlauben, die Beiträge einzufordern, wohl aber eine Schadenersatzpflicht begründen können (BGE 119 V 92 Erw. 3). Bei Betreibung auf Pfändung besteht Kenntnis des Schadens mit der Zustellung des definitiven Pfändungsverlustscheines (BGE 113 V 257 f.; ZAK 1991 S. 127 Erw. 2a). 
5. 
5.1 Die im Zentrum des Rechtsstreits stehende Frage des anwendbaren Rechts (aArt. 82 Abs. 1 AHVV oder Art. 52 Abs. 3 AHVG) hat die Vorinstanz in Ermangelung einer speziellen Übergangsbestimmung (vgl. Erw. 4.1 hievor) gestützt auf den Grundsatz entschieden, wonach für den Fall einer Änderung der gesetzlichen Grundlagen diejenige Ordnung Anwendung findet, welche zur Zeit galt, als sich der zu Rechtsfolgen führende Sachverhalt verwirklicht hat. Dementsprechend hielt sie die bei Ausstellung der (zumutbare Schadenskenntnis begründenden) definitiven Verlustscheine am 14. Juni und 24. September 2002 in Kraft gewesene Bestimmung des aArt. 82 AHVV für anwendbar und gelangte zum Ergebnis, dass die darin vorgesehene (altrechtliche) einjährige Verwirkungsfrist bei Erlass der Schadenersatzverfügung am 15. Dezember 2003 bereits abgelaufen war. 
5.2 Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Denn wie das Eidgenössische Versicherungsgericht im zur Publikation in BGE 131 V bestimmten Urteil R. vom 27. September 2005, H 53/05, unter Hinweis auf die von Rechtsprechung (BGE 102 V 207 Erw. 2; BGE 111 II 193, 107 Ib 203 f. Erw. 7b/aa) und Lehre (Rhinow/Krähenmann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Nr. 15 B III d; Attilio Gadola, Verjährung und Verwirkung im öffentlichen Recht, in: AJP 1/95, S. 58) für den Bereich der Verjährung/Verwirkung entwickelten übergangrechtlichen Grundsätze entschieden hat, gelangt auf Schadenersatzansprüche, die bei Inkrafttreten des neuen Rechts am 1. Januar 2003 noch nicht verwirkt waren, die eine zweijährige Verjährungsfrist vorsehende Norm des Art. 52 Abs. 3 AHVG zur Anwendung. Dies trifft auf die am 15. Dezember 2003 verfügungsweise geltend gemachte Schadenersatzforderung zu, steht doch fest und ist unbestritten, dass die Ausgleichskasse mit der Ausstellung der definitiven Pfändungsverlustscheine am 14. Juni und 24. September 2002 Kenntnis vom Schaden erlangt hat (BGE 113 V 257 f.; ZAK 1991 S. 127 Erw. 2a), so dass die einjährige Verwirkungsfrist am 1. Januar 2003 noch nicht abgelaufen war. Wie im Urteil R. vom 27. September 2005, H 53/05 (Erw. 5.3), kann auch hier offen bleiben, ob die unter altem Recht abgelaufene Zeit an die zweijährige Verjährungsfrist anzurechnen ist oder die zweijährige Frist erst mit Inkrafttreten des neuen Rechts zu laufen begann, weil die Schadenersatzforderung mit der Verfügung vom 15. Dezember 2003 auf jeden Fall rechtzeitig geltend gemacht worden ist. 
5.3 Da das kantonale Gericht zum gegenteiligen Ergebnis gelangt ist, d.h. Verwirkung der Schadenersatzforderung angenommen hat, erübrigte sich eine Prüfung der Haftungsvoraussetzungen gemäss Art. 52 AHVG. Die Sache geht daher an die Vorinstanz zurück, damit sie über die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid der Kasse vom 9. August 2004 neu entscheide. 
6. 
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 in Verbindung mit Art. 135 OG). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 12. Mai 2005 aufgehoben, und es wird die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie über die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn vom 9. August 2004 neu entscheide. 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn zugestellt. 
Luzern, 6. Dezember 2005 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: