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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_653/2010 
 
Urteil vom 24. November 2010 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber, 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
SWICA Krankenversicherung AG, c/o SWICA Gesundheitsorganisation, Boulevard de Grancy 39, 1001 Lausanne, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil AG, vertreten durch Dr. med. V.________ und Dr. iur. H.________, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Krankenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Schiedsgerichts gemäss Art. 89 KVG des Kantons Luzern vom 18. Juni 2010. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die im Kanton Schwyz wohnhafte T.________ (geb. 1935) leidet seit einem im Jahre 1977 erlittenen Unfall an sensomotorisch inkompletter Tetraplegie. Zur Behandlung verschiedener Komplikationen hielt sie sich vom 28. August bis 23. September 2006 im Schweizerischen Paraplegikerzentrum Nottwil (nachfolgend: SPZ) auf, welches nicht auf der Spitalliste des Kantons Schwyz figuriert. Das von ihr vorgängig, am 21. Juni 2006 gestellte Gesuch um Kostengutsprache lehnte die Swica Krankenversicherung insofern ab, als sie nur den für die Klinik Balgrist geltenden Tarif (Fr. 430.- pro Tag) anzuerkennen bereit war. Das SPZ wehrte sich erfolglos gegen die Tariffestsetzung; die Swica hielt an ihrem Standpunkt fest. Da auch im Verlaufe der weiteren Korrespondenz keine Einigung erzielt werden konnte, rief das SPZ gemäss dem von ihm mit santésuisse, Die Schweizer Krankenversicherer, geschlossenen Vertrag die Paritätische Vertrauenskommission an. Diese erklärte sich am 30. August 2007 als nicht zuständig für einen die Spitalliste des Kantons Schwyz betreffenden Entscheid; indessen bejahte sie die vertragliche Indikation für die Hospitalisation im SPZ. 
 
B. 
Am 26. September 2007 reichte das SPZ Klage ein mit dem Rechtsbegehren, die Swica sei zu verpflichten, ihm für die Hospitalisation der T.________ vom 28. August bis 23. September 2006 den Betrag von Fr. 35'910.- (27 Tage à Fr. 1'330.-) nebst Zins zu 5 % seit 1. November 2006 zu bezahlen; alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen. 
 
Mit Entscheid vom 18. Juni 2010 hiess das Schiedsgericht gemäss Art. 89 KVG des Kantons Luzern die Klage insofern gut, als es die Swica verpflichtete, der Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil AG für den Aufenthalt der T.________ vom 28. August bis 23. September 2006 den Tarif von Fr. 1'330.- pro Tag zu vergüten. Die Gerichtskosten wurden der Swica auferlegt. Eine Parteientschädigung wurde nicht zugesprochen. 
 
C. 
Die Swica erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der schiedsgerichtliche Entscheid sei aufzuheben, unter Kostenfolgen zulasten der Beschwerdegegnerin. 
Die Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil AG schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Streitigkeiten zwischen Versicherern und Leistungserbringern entscheidet ein Schiedsgericht (Art. 89 Abs. 1 KVG). Nach Rechtsprechung (BGE 134 V 269 E. 2.1 S. 271; 132 V 303 E. 4.1 S. 303 f. und 352 E. 2.1 S. 353; 131 V 191 E. 2 S. 193; SVR 2008 KV Nr. 2 S. 5, K 129/06 E. 3) und Lehre (Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2003, Rz. 7 zu Art. 57 ATSG; Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV [nachfolgend: SBVR], 2. Aufl. 2007, S. 813 f. Rz. 1204; Eugster, Bundesgesetz über die Krankenversicherung [nachfolgend: KVG], 2010, N. 2 ff. zu Art. 89 KVG) ist das Schiedsgericht für alle Streitigkeiten zwischen Krankenversicherer und Leistungserbringer zuständig, wenn und soweit die Streitigkeit Rechtsbeziehungen zum Gegenstand hat, die sich aus dem KVG ergeben oder aufgrund des KVG eingegangen worden sind, wie beispielsweise Honorar- und Tariffragen (BGE 131 V 191 E. 2 S. 193; SVR 2008 KV Nr. 2 S. 5, K 129/06 E. 3; RKUV 2004 Nr. KV 286 S. 291, K 36/03 E. 4). Der Streitgegenstand muss die besondere Stellung der Versicherer oder Leistungserbringer im Rahmen des KVG betreffen (BGE 134 V 269 E. 2.1 S. 271). Die Zuständigkeit ist auch im System des Tiers garant (Art. 42 Abs. 1 KVG) gegeben (Art. 89 Abs. 3 KVG; SVR 2008 KV Nr. 2 S. 5, K 129/06 E. 3 und 5.2; RKUV 2004 Nr. KV 287 S. 298, K 124/02 E. 2.2 mit Hinweisen). 
 
1.2 Entgegen den von der Beschwerdeführerin geäusserten Zweifeln ist die Zuständigkeit des Schiedsgerichts im zu beurteilenden Fall ohne weiteres zu bejahen. Es stehen sich die Swica als Versicherer (im System des tiers payant) und die Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil AG als Leistungserbringer gegenüber. Sie sind sich uneinig, welcher Tarif für die ausserkantonale Hospitalisation der Versicherten anwendbar ist. Dass dabei auch die Frage nach der Notwendigkeit der ausserkantonalen Hospitalisation zu beantworten ist, vermag an der schiedsgerichtlichen Zuständigkeit nichts zu ändern. 
 
2. 
2.1 Die Hospitalisation erfolgte im Jahre 2006. Anwendbar ist somit das Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG; SR 832.10) in der bis Ende 2008 gültig gewesenen Fassung, in welcher es nachfolgend auch zitiert wird. 
 
2.2 Gemäss Art. 41 Abs. 1 KVG können die Versicherten unter den zugelassenen Leistungserbringern, die für die Behandlung ihrer Krankheit geeignet sind, frei wählen (Satz 1). Bei stationärer oder teilstationärer Behandlung muss der Versicherer die Kosten höchstens nach dem Tarif übernehmen, der im Wohnkanton der versicherten Person gilt (Satz 3). 
 
Beanspruchen Versicherte aus medizinischen Gründen einen anderen Leistungserbringer, richtet sich die Kostenübernahme nach dem Tarif, der für diesen Leistungserbringer gilt (Art. 41 Abs. 2 Satz 1 KVG). Medizinische Gründe liegen bei einem Notfall vor oder wenn die erforderlichen Leistungen nicht angeboten werden: bei stationärer oder teilstationärer Behandlung im Wohnkanton oder in einem auf der Spitalliste des Wohnkantons nach Art. 39 Abs. 1 lit. e aufgeführten ausserkantonalen Spital (Art. 41 Abs. 2 Satz 2 lit. b KVG). 
 
Beansprucht die versicherte Person aus medizinischen Gründen die Dienste eines ausserhalb ihres Wohnkantons befindlichen öffentlichen oder öffentlich subventionierten Spitals, so übernimmt der Wohnkanton die Differenz zwischen den in Rechnung gestellten Kosten und den Tarifen des betreffenden Spitals für Einwohner und Einwohnerinnen des Kantons (Art. 41 Abs. 3 Satz 1 KVG). 
 
3. 
3.1 Da das SPZ - wie feststeht und unbestritten ist - nicht auf der Spitalliste des Kantons Schwyz figuriert und kein Notfall im Sinne von Art. 41 Abs. 2 KVG vorliegt, ist für die streitige Kostenübernahme, entgegen der von der Vorinstanz vertretenen Auffassung, entscheidend, ob die erforderliche Leistung in einem auf der Spitalliste des Kantons Schwyz aufgeführten kantonalen oder ausserkantonalen Spital angeboten worden wäre. 
 
3.2 Nicht gefolgt werden kann insoweit dem angefochtenen Entscheid, in welchem als massgebend betrachtet wird, dass es sich bei den Angaben im Gesuch ("Para- und Tetraplegiker mit plegiebedingen Komplikationen, insbesondere Dekubitalulzera oder Affektionen des Urogenitalsystems") um Indikationen gemäss Tarifvertrag handle und damit die Voraussetzungen gemäss dem zwischen der santésuisse und dem SPZ geschlossenen Vertrag erfüllt seien, was zur Anwendbarkeit des vertraglich vereinbarten Tarifes führe. Denn der Tarifvertrag kann nicht Leistungspflichten begründen, die von Gesetzes wegen nicht bestehen (vgl. Eugster, KVG, N. 13 zu Art. 41 KVG). Die vertraglich festgelegten Tarife gelten unter der Voraussetzung, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Tarifs (Art. 41 Abs. 2 KVG) erfüllt sind. Aus diesem Grunde ist unerheblich, ob die tarifvertragsmässige Indikation für die Behandlung im SPZ gegeben war. 
 
3.3 Ist die streitentscheidende Frage, ob die beanspruchte Leistung in einem auf der Spitalliste des Kantons Schwyz aufgeführten kantonalen oder ausserkantonalen Spital angeboten worden wäre, zu verneinen, liegt ein eine ausserkantonale Hospitalisation im SPZ rechtfertigender medizinischer Grund im Sinne von Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG vor und sind die Kosten nach dem (von der Beschwerdeführerin nicht bestrittenen) Tarif des SPZ (Fr. 1'330.- pro Tag) zu übernehmen. Ist sie zu bejahen, liegt kein medizinischer Grund im Sinne von Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG vor und erfolgt die Kostenübernahme nach dem im Kanton Schwyz geltenden Tarif (Art. 41 Abs. 1 Satz 3 KVG). 
 
3.4 Wie sich aus den Akten ergibt, figuriert auf der Spitalliste des Kantons Schwyz keine spezialisierte Paraplegie-Klinik (die eine solche führende Universitätsklinik Balgrist ist nur mit dem Leistungsauftrag "Orthopädie" aufgeführt). Zu prüfen bleibt, ob die Leistung in einem auf der Spitalliste des Kantons Schwyz stehenden kantonalen oder ausserkantonalen Spital angeboten worden wäre. Massgebend hiefür ist, ob die Behandlung derart plegiespezifisch war, dass sie nur in einer spezialisierten Paraplegie-Klinik durchgeführt werden konnte oder zumindest dort ein erheblicher medizinischer (diagnostischer und/oder therapeutischer) Mehrwert resultierte (BGE 127 V 138 E. 5 S. 146 f.; RKUV 2004 Nr. KV 307 S. 467, K 112/03 E. 3.2, 2004 Nr. KV 273 S. 119, K 22/03 E. 3.3.2 [nicht publ. in: BGE 130 V 87]; Eugster, KVG, N. 20 zu Art. 41 KVG). 
 
Mit der demnach entscheidenden Frage, ob die Behandlung nur in einer spezialisierten Paraplegie-Klinik durchgeführt werden konnte, hat sich die Vorinstanz nicht auseinandergesetzt. Sie lässt sich aufgrund der vorliegenden Akten auch nicht beantworten. Namentlich kann aus der Tatsache, dass die Versicherte Tetraplegikerin ist, nicht ohne weiteres geschlossen werden, dass die Behandlung plegiespezifisch war (vgl. Urteil K 124/04 vom 17. November 2005 E. 5.2). Auch dass die Beschwerdeführerin Kostengutsprache im Rahmen des für die Klinik Balgrist geltenden Tarifs erteilt hat, bedeutet nicht, dass sie rechtsverbindlich anerkannt hätte, dass für die Behandlung eine spezialisierte Paraplegie-Klinik erforderlich sei. Insofern erweist sich die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung als unvollständig. 
 
3.5 Da die Akten nicht erlauben, die Frage, ob die Behandlung nur in einer spezialisierten Paraplegie-Klinik möglich war oder auch in einem auf der Spitalliste aufgeführten (kantonalen oder ausserkantonalen) Spital hätte vorgenommen werden können, zu beantworten, ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie dies abkläre. Ist die Frage zu bejahen, erfolgt die Kostentragung nach dem Tarif dieses Spitals, allenfalls nach dem Referenztarif. Ist sie zu verneinen, liegt ein medizinischer Grund für eine Behandlung in einer spezialisierten Paraplegie-Klinik vor; dabei ist nach dem Gebot der Wirtschaftlichkeit der Leistungen (Art. 32 Abs. 1 KVG) grundsätzlich das kostengünstigste Angebot massgebend (BGE 127 V 138 E. 5 S. 147). 
 
Wie die Beschwerdegegnerin mit Recht vorbringt, kann indessen diesbezüglich nicht ohne weiteres der Tarif einer nicht subventionierten Klinik mit demjenigen einer öffentlichen oder öffentlich subventionierten verglichen werden, zumal bei letzteren ja zusätzlich zu dem von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu bezahlenden Betrag noch die Differenzzahlung des Kantons (Art. 41 Abs. 3 KVG) käme. Aus diesem Grunde müsste vielmehr ein Gesamtkostenvergleich vorgenommen werden (vgl. Brigitte Pfiffner Rauber, Das Recht auf Krankheitsbehandlung und Pflege, 2003, S. 264 ff.; Guy Longchamp, Conditions et étendue du droit aux prestations de l'assurance-maladie sociale, 2004, 308 ff. und 417). Dabei dürfte die Wirtschaftlichkeit nicht schon bei einem relativ geringfügigen Kostenunterschied zu verneinen sein (vgl. Eugster, KVG, N. 12 zu Art. 32 KVG; BGE 124 V 196 E. 3 S. 200 f.; RKUV 1998 Nr. K 988 S. 1, K 29/96 E. 3c). 
 
4. 
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Schiedsgerichts gemäss Art. 89 KVG des Kantons Luzern vom 18. Juni 2010 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie die Klage im Sinne der Erwägungen neu beurteile. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1900.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Schiedsgericht gemäss Art. 89 KVG des Kantons Luzern und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 24. November 2010 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: 
 
Meyer Keel Baumann