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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.295/2002 /sta 
 
Urteil vom 14. Juni 2002 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Bundesrichter Aeschlimann, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Féraud, Reeb, 
Gerichtsschreiber Steiner. 
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Pascal Veuve, c/o Hablützel Veuve Blöchlinger, Lutherstrasse 4, Postfach 3176, 8021 Zürich, 
 
gegen 
 
Bezirksamt Lenzburg, Bezirksgebäude, Metzgplatz 18, Postfach, 5600 Lenzburg 2, 
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Präsidium, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau. 
 
Art. 9, 10 und 29 Abs. 2 BV, Art. 5 Ziff. 1 EMRK (Haftentlassung) 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Haftverlängerungsverfügung des Obergerichts des Kantons Aargau (Präsidium der Beschwerdekammer) vom 22. Mai 2002 
 
Sachverhalt: 
A. 
Das Bezirksamt Lenzburg ermittelt gegen X.________ wegen Widerhandlungen gegen die sexuelle und körperliche Integrität seiner Ehefrau. Am 9. Mai 2002 wurde er aufgrund der Anzeige seiner Gattin verhaftet. Mit Verfügung vom 13. Mai 2002 setzte der Bezirksamtmann-Stellvertreter als amtlichen Verteidiger Rechtsanwalt Pascal Veuve ein, der den Beschwerdeführer auch im Eheschutzverfahren vor Bezirksgericht Lenzburg vertritt. Nachdem er dem Angeschuldigten eröffnet hatte, dass er die Verlängerung der Untersuchungshaft bis zum Eingang der Anklage beim Gericht beantrage, überwies er diesen Antrag mit Fax vom 22. Mai 2002 an den Vizepräsidenten der Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Aargau; der Vertreter des Beschwerdeführers erhielt "im Sinne des rechtlichen Gehörs" - ebenfalls per Fax - eine Kopie des Antrags sowie des Protokolls über die Eröffnung des Antrags. Der Vizepräsident der Beschwerdekammer verfügte noch am 22. Mai 2002 die Haftverlängerung wie beantragt, ohne dem amtlichen Verteidiger Gelegenheit zu schriftlicher Stellungnahme gegeben zu haben. Mit Verfügung vom 23. Mai 2002 bezeichnete er die Eingabe vom gleichen Tage, mit welcher Rechtsanwalt Pascal Veuve um Akteneinsicht und Ansetzung einer kurzen Frist zur Stellungnahme ersuchte, als gegenstandslos. 
B. 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 29. Mai 2002 gelangt X.________ ans Bundesgericht mit den Anträgen, die Verfügung der Vorinstanz vom 22. Mai 2002 sei aufzuheben und der Beschwerdeführer sei allenfalls unter Anordnung von Ersatzmassnahmen unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Zudem wird beantragt, dem Beschwerdeführer sei für das vorliegende Verfahren die unentgeltliche Prozessführung und Prozessverbeiständung zu bewilligen. 
 
Der Bezirksamtmann-Stellvertreter Lenzburg schliesst mit Vernehmlassung vom 4. Juni 2002 sinngemäss auf Abweisung der Beschwerde. Aufgrund der gesamten Umstände und des klaren Wissens um die besonderen Charakterzüge des Beschuldigten bestehe grösste Kollusionsgefahr. Für "die weiteren Details" verweise er auf die Stellungnahme des Präsidenten der Beschwerdekammer. Ebenfalls mit Eingabe vom 4. Juni 2002 verzichtet der Vizepräsident der Beschwerdekammer unter Hinweis auf die Ausführungen im angefochtenen Entscheid auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Der Beschwerdeführer ficht eine Haftverlängerungsverfügung gemäss § 76 Abs. 2 des Gesetzes über die Strafrechtspflege des Kantons Aargau vom 11. November 1958 (StPO; SR 251.100) an und verlangt nebst der Aufhebung dieser Verfügung die unverzügliche Entlassung aus der Untersuchungshaft. Obwohl die staatsrechtliche Beschwerde grundsätzlich rein kassatorischer Natur ist, ist im Rahmen der Beschwerde wegen Verletzung der persönlichen Freiheit das Begehren zulässig, die kantonalen Behörden seien anzuweisen, den Beschwerdeführer aus der Haft zu entlassen (BGE 124 I 327 E. 4b/aa S. 333; 115 Ia 293 E. 1a S. 297). Auf die gegen einen kantonal letztinstanzlichen Entscheid erhobene und im Übrigen frist- und formgerechte Beschwerde ist daher einzutreten. 
2. 
Der Beschwerdeführer wirft dem Vizepräsidenten der Beschwerdekammer nebst der Verletzung des Akteneinsichtsrechts sowie der Begründungspflicht in der Hauptsache vor, die Garantie des rechtlichen Gehörs dadurch verletzt zu haben, dass seinem amtlichen Verteidiger keine Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben worden sei. 
2.1 Aus der in Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 5 Ziff. 4 EMRK (vgl. auch Art. 31 Abs. 3 und 4 BV) statuierten Garantie des rechtlichen Gehörs wird unter anderem der Anspruch des Inhaftierten abgeleitet, vor Erlass eines richterlichen Haftprüfungs- bzw. Haftverlängerungsentscheides schriftlich oder mündlich Stellung nehmen zu können. Nach der übereinstimmenden Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Bundesgerichts hat der Angeschuldigte im Haftprüfungsverfahren des Recht, zu jeder Vernehmlassung der Strafverfolgungsbehörde zu replizieren, und zwar unbekümmert darum, ob die Behörde neue Tatsachen vorbringt oder nicht (BGE 126 I 172 E. 3c S. 175 f.; 125 Ia 113 E. 2a S. 115 mit Hinweisen). Dadurch wird das Gebot der Verfahrensbeschleunigung durch die rechtsstaatlichen Garantien in gewisser Weise relativiert (vgl. BGE 115 Ia 293 E. 4b S. 301). 
2.2 Im vorliegenden Fall hat der Bezirksamtmann-Stellvertreter Lenzburg zunächst Rechtsanwalt Pascal Veuve mit Verfügung vom 13. Mai 2002 als amtlichen Verteidigter des Angeschuldigten eingesetzt. Diesem liess er "im Sinne des rechtlichen Gehörs" per Fax eine Kopie des Haftverlängerungsantrages vom 21. Mai 2002 (Eingang beim Vizepräsidenten der Beschwerdekammer: 22. Mai 2002, 15.05 Uhr) zukommen (Eingang bei Rechtsanwalt Pascal Veuve nach dessen Angaben: 22. Mai 2002, ca. 11.30 Uhr). Dem amtlichen Verteidiger wurde indes vom Vizepräsidenten der Beschwerdekammer keine Frist zur Stellungnahme angesetzt. Nachdem dieser dem Haftverlängerungsantrag bereits mit Verfügung vom 22. Mai 2002 entsprochen hatte, war dem Antrag des amtlichen Verteidigers vom 23. Mai 2002, es sei ihm Akteneinsicht zu gewähren und eine kurze Frist von 24 Stunden zur schriftlichen Stellungnahme anzusetzen, der Boden entzogen. Entsprechend verfügte der Vizepräsident der Beschwerdekammer am 23. Mai 2002, "die Eröffnung einer Frist zur Stellungnahme" sei mit bereits ergangener Verlängerungsverfügung gegenstandslos. 
2.3 Es ist nach dem Gesagten offensichtlich, dass der Vizepräsident der Beschwerdekammer keine Stellungnahme des amtlichen Verteidigers im Hinblick auf die Haftverlängerungsverfügung eingeholt hat. Aus dem Antrag selbst - und damit auch für den Vizepräsidenten der Beschwerdekammer erkennbar - geht zudem hervor, dass der Bezirksamtmann-Stellvertreter Rechtsanwalt Pascal Veuve den Haftverlängerungsantrag "im Sinne des rechtlichen Gehörs" (und nicht etwa "zur Kenntnis") in Kopie zugestellt hatte. Nun ist denkbar, dass der Vizepräsident der Beschwerdekammer davon ausgegangen ist, es stehe Rechtsanwalt Pascal Veuve mit Bezug auf das Verfahren der Haftverlängerung gemäss § 76 Abs. 2 StPO - obwohl dies durch den Bezirksamtmann-Stellvertreter gleichsam in Aussicht gestellt worden war - nicht zu, sich zu äussern. Diesfalls hätte er dem amtlichen Verteidiger des Beschwerdeführers angesichts der Tatsache, dass er sich mit dieser Einschätzung in Widerspruch zur Ankündigung des Bezirksamtmann-Stellvertreters gesetzt hätte, hierzu das rechtliche Gehör gewähren und die Haftverlängerung in diesem Punkt zumindest summarisch begründen müssen. Ansonsten war er gehalten, Rechtsanwalt Pascal Veuve eine kurze Frist zur Stellungnahme zum Haftverlängerungsantrag selbst anzusetzen, um die Garantie des rechtlichen Gehörs zu wahren. Damit erübrigt sich die Prüfung der Frage, ob dem amtlichen Verteidiger angesichts der mangelnden Rechtskundigkeit des Angeschuldigten selbst, welche auch aus dem vom Bezirksamtmann-Stellvertreter erstellten Protokoll über die Eröffnung des Haftverlängerungsantrags ersichtlich sei, jedenfalls Gelegenheit zu einer Stellungnahme hätte gegeben werden müssen, wie dies geltend gemacht wird. Zusammenfassend erweist sich der Vorwurf des Beschwerdeführers, ihm sei vor Ergehen der Haftverlängerungsverfügung vom 22. Mai 2002 das rechtliche Gehör nicht gewährt worden, als offensichtlich begründet im Sinne von Art. 36a OG. Damit bedarf es bezüglich der ebenfalls erhobenen Rügen der Verletzung des Akteneinsichtsrechts sowie der Begründungspflicht keiner weiteren Erörterungen. 
3. 
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur. Seine Verletzung führt zwar - ungeachtet der Frage der Begründetheit der Beschwerde, namentlich soweit der Beschwerdeführer die Kollusionsgefahr und teilweise den dringenden Tatverdacht bestreitet - zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides, nicht aber zur Haftentlassung des Beschwerdeführers. Vielmehr hat das Präsidium der Beschwerdekammer das rechtliche Gehör zu gewähren und unverzüglich neu über den Haftverlängerungsantrag des Bezirksamtmann-Stellvertreters Lenzburg zu entscheiden (BGE 125 Ia 113 E. 3 S. 118). 
4. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Der Kanton Aargau hat dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer jedoch eine angemessene Parteientschädigung zu entrichten (Art. 159 OG). Damit erweist sich der Antrag betreffend unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung als gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht 
im Verfahren gemäss Art. 36a OG
 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit auf sie eingetreten werden kann, und die Verfügung des Vizepräsidenten der Beschwerdekammer vom 22. Mai 2002 wird aufgehoben. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen. 
4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bezirksamt Lenzburg und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Präsidium, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 14. Juni 2002 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber: