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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_434/2022  
 
 
Urteil vom 25. November 2022  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine, 
Gerichtsschreiberin Polla. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich, Zürcherstrasse 8 (Neuwiesen), 8400 Winterthur, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Arbeitslosenversicherung 
(Arbeitslosenentschädigung; Zwischenverdienst), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich 
vom 12. Mai 2022 (AL.2021.00186). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1977 geborene A.________ war seit dem 8. Januar 2018 bei der B.________ GmbH, zuletzt in einem Pensum von 60 %, als Projektleiter E-Commerce angestellt. Daneben betreibt er seit dem 25. August 2015 als alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der C.________ GmbH einen Online-Handel für Kinderkleider (www..ch). Die B.________ GmbH kündigte das Arbeitsverhältnis aus betrieblichen Gründen am 24. Februar 2020 auf den 30. April 2020. Am 26. März 2020 meldete sich A.________ im Ausmass von 60 % beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zur Arbeitsvermittlung an und beantragte ab 1. Mai 2020 Arbeitslosenentschädigung. Infolge Stellenantritts meldete sich A.________ per 31. Oktober 2020 wieder von der Arbeitslosenversicherung ab. Mit Verfügungen vom 2. Dezember 2020 setzte die Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich den versicherten Verdienst auf Fr. 6094.- fest und berücksichtigte bei den Taggeldleistungen für die Monate Mai bis Oktober 2020 einen fiktiven Zwischenverdienst. Daran hielt die Arbeitslosenkasse mit den Einspracheentscheiden Nr. 1395 (die Festsetzung des versicherten Verdienstes betreffend) und Nr. 1396 (die Anrechnung eines Zwischenverdienstes betreffend) vom 19. Mai 2021 fest. 
 
B.  
Die gegen den Einspracheentscheid Nr. 1395 erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ab. In Gutheissung der gegen den Einspracheentscheid Nr. 1396 geführten Beschwerde hob es diesen auf und stellte fest, dass kein fiktiver Zwischenverdienst anzurechnen sei (Urteil vom 12. Mai 2022). 
 
C.  
Die Arbeitslosenkasse reicht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ein und beantragt die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils. 
A.________ schliesst sinngemäss auf Abweisung der Beschwerde. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).  
 
1.2. Das Bundesgericht kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Überdies muss die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG).  
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie dem Beschwerdegegner für die Monate Mai bis Oktober 2020 ein volles Taggeld der Arbeitslosenversicherung zusprach, ohne Anrechnung eines fiktiven Zwischenverdienstes im Sinne eines orts- und branchenüblichen Lohnes.  
 
2.2. Als Zwischenverdienst gilt jedes Einkommen aus unselbstständiger oder selbstständiger Erwerbstätigkeit, das der Arbeitslose innerhalb einer Kontrollperiode erzielt. Der Versicherte hat Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfalls (Art. 24 Abs. 1 erster und zweiter Satz AVIG). Als Verdienstausfall gilt die Differenz zwischen dem in der Kontrollperiode erzielten Zwischenverdienst, mindestens aber dem berufs- und ortsüblichen Ansatz für die betreffende Arbeit, und dem versicherten Verdienst. Ein Nebenverdienst nach Art. 23 Abs. 3 AVIG bleibt unberücksichtigt (Art. 24 Abs. 3 AVIG).  
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz erwog, der Beschwerdegegner habe sich nach seiner Anmeldung bei der Arbeitslosenversicherung weiterhin einen Tag pro Woche der Kinderbetreuung gewidmet und im gleichen Umfang von 20 % die durch die C.________ GmbH betriebene Online-Plattform für Kinderbekleidung (www..ch) aufgebaut, deren alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer mit Einzelunterschrift er sei. Es handle sich dabei um eine in arbeitgeberähnlicher Stellung ausgeübte unselbstständige Tätigkeit, weshalb ein Zwischenverdienst grundsätzlich anzurechnen sei. Es bestehe aber kein Raum für eine fiktive Anrechnung eines solchen, da unbestrittenermassen kein Einkommen erzielt werde und jegliche Hinweise auf einen Missbrauchstatbestand fehlten. Es sei inkonsequent, wenn die Beschwerdeführerin bei der Ermittlung des versicherten Verdienstes aus der Tätigkeit für die C.________ GmbH kein Einkommen anrechne, aber bei der Höhe des Taggeldes einen fiktiven Zwischenverdienst berücksichtige.  
 
3.2. Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, es sei unbestritten, dass der Beschwerdegegner nach Verlust der Anstellung bei der B.________ GmbH weiterhin in arbeitgeberähnlicher Stellung für die C.________ GmbH unselbstständig erwerbstätig sei, weshalb ein Einkommen hieraus klar als Zwischenverdienst anzurechnen sei. Da sich der Beschwerdegegner in der Zeit von Mai bis Oktober 2022 keinen Lohn ausbezahlt habe, sei ein orts- und branchenüblicher Lohn nach Art. 24 Abs. 3 AVIG anzunehmen. Entgegen der Auffassung im angefochtenen Urteil bestehe durchaus eine Missbrauchsgefahr mit Blick auf die arbeitgeberähnliche Stellung des Beschwerdegegners im Betrieb sowie die dadurch fehlende Überprüfbarkeit seiner Angaben zu Arbeitsleistung und Entlöhnung. Es widerspreche zudem der arbeitslosenversicherungsrechtlichen Intention, wenn sich eine versicherte Person in arbeitgeberähnlicher Stellung keinen Lohn ausbezahle, weil sich die Unternehmung noch im Aufbau befinde, aber die volle Arbeitslosenentschädigung erhalte. Die Arbeitslosenversicherung decke das Unternehmerrisiko nicht ab.  
 
4.  
 
4.1. Es steht fest, dass sich der Beschwerdegegner aufgrund des Verlusts seiner Anstellung im 60%-Pensum bei der B.________ GmbH als Projektleiter E-Commerce arbeitslos meldete und sich in diesem Umfang der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stellte. Ebenso steht fest, dass er weiterhin als alleiniger Gesellschafter und einzelzeichnungsberechtigter Geschäftsführer der C.________ GmbH im Umfang von 20 % unselbstständig erwerbstätig blieb, ohne sich einen Lohn auszuzahlen. Die AHV-rechtliche Qualifizierung des Beschwerdegegners als Arbeitnehmer steht mithin nicht in Frage (vgl. BGE 126 V 212 E. 2; in BGE 133 V 133 nicht veröffentlichte Erwägung E. 2.2 aber in SVR 2007 AlV Nr. 8 S. 24 und Urteil C 266/05 vom 13. Juni 2006 E. 2.2.1).  
 
4.2.  
 
4.2.1. Eine unentgeltlich ausgeübte Tätigkeit ist einem Arbeitsverhältnis im Sinne von Art. 10 Abs. 1 und Abs. 2 lit. b AVIG gleichzusetzen, wenn ein Vertrag mit gegenseitigen Rechten und Pflichten besteht, oder wenn normalerweise nach den Umständen oder den beruflichen und örtlichen Usanzen für die geleistete Arbeit Lohn zu erwarten ist (vgl. Art. 320 Abs. 2 OR und ARV 2000 Nr. 32 S. 172 E. 1c mit Hinweis, C 217/99; vgl. auch Urteil C 107/05 vom 18. Juli 2006 E. 4.1 mit Hinweisen). Insoweit ist entgegen der Ansicht der Vorinstanz für die hier strittige Frage nach der Anrechenbarkeit eines Zwischenverdienstes im Bereich der Arbeitslosenversicherung nicht entscheidend, dass sich der Beschwerdegegner keinen Lohn ausbezahlt hat (vgl. vorstehende E. 4.1). Sinn und Zweck von Art. 24 Abs. 3 AVIG ist es zu verhindern, dass auf Kosten der Arbeitslosenversicherung Tätigkeiten mit einem gewissen wirtschaftlichen Wert ausgeübt werden, die normalerweise entlöhnt werden (vgl. BGE 129 V 102 E. 3.3.; vgl. auch Urteil C 263/96 vom 28. Februar 1997 E. 1c mit Hinweisen). Dass dies hier nicht der Fall sein soll, wurde zu keinem Zeitpunkt eingewendet.  
 
4.2.2. Bei der gegebenen Sach- und Rechtslage hält die Auffassung der Vorinstanz vor Bundesrecht nicht stand, wie die Beschwerdeführerin zu Recht einwendet. Die Bestimmung des Art. 24 Abs. 3 AVIG bildet die gesetzliche Grundlage dafür, einen fiktiven berufs- und ortsüblichen Lohn für die geleistete Arbeit als Zwischenverdienst für die Monate Mai bis Oktober 2020 aus der Tätigkeit für die C.________ GmbH anzurechnen, wie es die Beschwerdeführerin getan hat, auch wenn gänzlich auf eine Lohnzahlung verzichtet wurde. Das angefochtene Urteil ist daher nicht zu schützen, nachdem die Berufs- und Ortsüblichkeit auch im Falle einer unbezahlt ausgeübten Tätigkeit zu berücksichtigen ist (vgl. BGE 129 V 102 E. 3; ARV 2002 S. 110, C 135/98 E. 2 und E. 5, 2000 Nr. 32 S. 173, C 217/99 E. 2b; Urteile 8C_411/2018 vom 21. September 2018 E. 4.2; 8C_774/2008 vom 3. April 2009 E. 2 und C 107/05 vom 18. Juli 2006 E. 4.3; vgl. auch nicht veröffentlichtes Urteil C 121/98 vom 5. März 1999 E. 2b betreffend eine unbezahlte Tätigkeit für eine nicht-gewinnorientierte Hilfsorganisation und Weisung des SECO gemäss AVIG-Praxis ALE, Rz. C134 vom Januar 2013). Die Beschwerde ist begründet.  
 
5.  
Der unterliegende Beschwerdegegner trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 12. Mai 2022 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid Nr. 1396 der Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich vom 19. Mai 2021 bestätigt. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und dem Amt für Wirtschaft und Arbeit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 25. November 2022 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Polla