Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
6B_541/2014  
   
   
 
 
 
Urteil vom 23. September 2014  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Mathys, Präsident, 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, 
Bundesrichter Oberholzer, 
Gerichtsschreiberin Schär. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Antonius Falkner, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Schützengasse 1, 9001 St. Gallen,  
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Zustellung eines Strafbefehls ins Ausland; Wiederherstellung der Einsprachefrist, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 8. April 2014. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
 X.________, wohnhaft im Fürstentum Liechtenstein, fuhr am 5. Oktober 2013 als Lenker eines Personenwagens auf der Haagerstrass in Gams SG. Ihm wird vorgeworfen, die signalisierte Höchstgeschwindigkeit missachtet und die Sicherheitsgurten nicht getragen zu haben. 
 
B.  
 
 Das Untersuchungsamt Altstätten erliess am 19. Dezember 2013 gegen X.________ einen Strafbefehl, mit dem es ihn der groben Verletzung der Verkehrsregeln und der Übertretung der Verkehrsregelnverordnung schuldig sprach und ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu Fr. 100.-- und einer Busse von Fr. 2'500.-- verurteilte. Der Strafbefehl wurde dem Beschuldigten am selben Tag an seine Wohnadresse in A.________ im Fürstentum Liechtenstein versandt und von der dortigen Post am 20. Dezember 2013 zur Abholung gemeldet. Da X.________ die Postsendung innert Frist nicht abgeholt hatte, wurde sie am 30. Dezember 2013 an das Untersuchungsamt Altstätten retourniert. Am 14. Januar 2014 wurde X.________ der Strafbefehl per A-Post erneut zugesandt. Am 17. Januar 2014 erhob X.________ Einsprache gegen den Strafbefehl vom 19. Dezember 2013 und stellte gleichzeitig ein Gesuch um Wiederherstellung der Einsprachefrist. 
 
C.  
 
 Das Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland trat am 26. Februar 2014 auf die Einsprache gegen den Strafbefehl wegen Verspätung nicht ein und wies das Fristwiederherstellungsgesuch ab. Die Beschwerde von X.________ gegen den Entscheid des Kreisgerichts Werdenberg-Sarganserland wies die Anklagekammer des Kantons St. Gallen am 8. April 2014 ab. 
 
D.  
 
 X.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, es sei auf die Einsprache vom 17. Januar 2014 einzutreten und das ordentliche Strafverfahren durchzuführen. Eventualiter sei der Entscheid der Anklagekammer aufzuheben und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht beantragt X.________, der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Schliesslich ersucht er für das bundesgerichtliche Verfahren um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 7 Abs. 2 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 (SR 0.351.1; nachfolgend: EUeR) und von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO
 
1.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz sei in Anwendung von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO davon ausgegangen, der Strafbefehl vom 19. Dezember 2013 gelte am siebten Tag nach der Avisierung durch die Post als zugestellt und habe in der Folge seine Einsprache vom 17. Januar 2014 als verspätet erachtet. Da er im Fürstentum Liechtenstein respektive im Ausland wohne, gelange in Bezug auf die Zustellung behördlicher Mitteilungen nicht Art. 85 StPO, sondern Art. 87 Abs. 2 StPO zur Anwendung. Gemäss dieser Bestimmung habe ein im Ausland wohnhafter Adressat ein Zustellungsdomizil in der Schweiz zu bezeichnen, es sei denn, und dieser Fall sei gegenständlich beachtlich, es bestünden für eine solche Zustellung staatsvertragliche Regelungen. Eine Zustellfiktion sei den im Verhältnis zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der Schweiz geltenden Abkommen nicht zu entnehmen. Gemäss Art. 52 Abs. 1 des Schengener Durchführbarkeitsübereinkommens vom 19. Juni 1990 (SDÜ; Amtsblatt der EU Nr. L 239 vom 22. September 2000, S. 19-62) könne die Zustellung gerichtlicher Urkunden zwar unmittelbar per Post erfolgen. Dies ändere aber nichts daran, dass der Empfang der jeweiligen Dokumente nach Art. 7 Abs. 2 EUeR mittels einer vom Empfänger unterschriebenen Empfangsbestätigung nachgewiesen werden müsse. Diesem Erfordernis könne mit der Anwendung der Zustellfiktion nicht Genüge getan werden. Abschliessend macht der Beschwerdeführer geltend, Zustellungen würden sich auf liechtensteinischem Territorium nach dem liechtensteinischen Zustellgesetz richten. Eine Ausweitung der schweizerischen Zustellregeln auf internationales Gebiet sei nicht rechtmässig.  
 
1.2. Die Vorinstanz erwägt, sowohl Art. 32 des Vertrages zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der Republik Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Sicherheits- und Zollbehörden vom 27. April 1999 (SR 0.360.163.1; nachfolgend: Vertrag mit Österreich und Liechtenstein) als auch Art. 52 Abs. 1 SDÜ sähen die direkte postalische Zustellung gerichtlicher Urkunden ins jeweilige Ausland vor. Diese beiden jüngeren Vereinbarungen gingen dem älteren Europäischen Rechtshilfeübereinkommen, welches grundsätzlich eine behördliche Zustellung verlange, vor. Auf ein Strafverfahren in der Schweiz, bei dem der einzige Auslandsbezug der Wohnsitz des Beschuldigten sei, gelange grundsätzlich die Schweizerische Strafprozessordnung und damit auch die Zustellfiktion des Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO zur Anwendung. Selbst wenn die Folgen einer nicht abgeholten Postsendung als eine Frage der internationalen Rechtshilfe betrachtet würden, gebe es hierzu keine staatsvertraglichen Regelungen. Aus diesem Umstand könne aber nicht geschlossen werden, dass eine solche Postsendung als nicht rechtskonform zugestellt zu betrachten sei. Der Strafbefehl vom 19. Dezember 2013 sei von der liechtensteinischen Post am 20. Dezember 2013 zur Abholung gemeldet worden. Da der Beschwerdeführer die Postsendung nicht abgeholt habe, jedoch mit der Zustellung habe rechnen müssen, gelte der Strafbefehl spätestens am 27. Dezember 2013 als zugestellt. Die am 17. Januar 2014 erfolgte Einsprache sei daher verspätet.  
 
1.3. Die Zustellung eines Strafbefehls ins Ausland stellt einen formellen Akt der Gerichtsbarkeit dar und hat grundsätzlich auf dem Rechtshilfeweg zu erfolgen. Zur Vereinfachung internationaler Zustellungen wurden verschiedene Staatsverträge abgeschlossen, gemäss welchen Mitteilungen im Rahmen eines Strafverfahrens dem Empfänger im Ausland direkt per Post zugestellt werden dürfen (vgl. Art. 48 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 SDÜ). Im Geltungsbereich dieser Vereinbarungen kann auf eine rechtshilfeweise Zustellung verzichtet werden (vgl. DANIELA BRÜSCHWEILER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 2 zu Art. 87 StPO).  
 
 Im Verhältnis zwischen der Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein existieren entsprechende staatsvertragliche Vereinbarungen. Gemäss Art. 32 des Vertrages mit Österreich und Liechtenstein kann jeder Vertragsstaat Personen, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Vertragsstaates aufhalten, gerichtliche und andere behördliche Schriftstücke unmittelbar durch die Post übersenden, sofern Rechtshilfe nach dem Europäischen Rechtshilfeübereinkommen und den zwischen den Vertragsstaaten geltenden ergänzenden Vereinbarungen zu diesem Übereinkommen zulässig ist. Eine im Wesentlichen gleich lautende Bestimmung findet sich in Art. 52 Abs. 1 SDÜ. Sowohl die Schweiz als auch Liechtenstein haben Erklärungen abgegeben, wonach Strafbefehle als gerichtliche Urkunden im Sinne des Art. 52 Abs. 1 SDÜ gelten (Botschaft vom 1. Oktober 2004 zur Genehmigung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, einschliesslich der Erlasse zur Umsetzung der Abkommen [«Bilaterale II»], BBl 2004 6164 Ziff. 2.6.8.4.4; Liechtensteinische Erklärung zu Art. 52 Abs. 1 SDÜ, BuA Nr. 79/2008, S. 98). 
 
 Gestützt auf Art. 32 des Vertrages mit Österreich und Liechtenstein und Art. 52 Abs. 1 SDÜ durfte die Zustellung des Strafbefehls vom 19. Dezember 2013 unmittelbar auf dem Postweg erfolgen. Die Bestimmung von Art. 7 Abs. 2 EUeR bezieht sich auf rechtshilfeweise Zustellungen. Da der Rechtshilfeweg gar nicht beschritten wurde, ist auf die Rüge, der Strafbefehl sei dem Beschwerdeführer unter Verletzung von Art. 7 Abs. 2 EUeR zugestellt worden, nicht einzutreten. Die kantonalen Strafverfolgungsbehörden wenden auf die von ihnen geführten Strafverfahren die Schweizerische Strafprozessordnung an (vgl. Art. 1 Abs. 1 StPO). Inwiefern durch die Anwendung von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO Bundesrecht verletzt sein soll, ist nicht ersichtlich. 
 
 Unbegründet ist die Beschwerde auch, soweit der Beschwerdeführer vorbringt, die Zustellung auf liechtensteinischem Territorium richte sich ausschliesslich nach dem liechtensteinischen Zustellgesetz, zumal auch das liechtensteinische Zustellgesetz eine Zustellfiktion kennt (vgl. Art. 19 Abs. 3 des Gesetzes vom 22. Oktober 2008 über die Zustellung behördlicher Dokumente [172.023; ZustG/FL]). Diese tritt jedoch, im Gegensatz zur Zustellfiktion der Schweizerischen Strafprozessordnung, nicht erst am siebten, sondern bereits am ersten Tag der Abholfrist ein (Art. 19 Abs. 3 Satz 3 ZustG/FL). Somit kann der Beschwerdeführer aus seiner Argumentation, die Zustellung richte sich auf liechtensteinischem Staatsgebiet nach liechtensteinischem Recht, ebenfalls nichts zu seinen Gunsten ableiten. 
 
2.  
 
 Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist in Anwendung von Art. 64 BGG abzuweisen, weil die Rechtsbegehren aussichtslos erschienen. Den finanziellen Verhältnissen des Beschwerdeführers ist bei der Bemessung der Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG). Mit dem Entscheid in der Sache ist das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos geworden. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.   
Das Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren wird abgewiesen. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 23. September 2014 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Mathys 
 
Die Gerichtsschreiberin: Schär