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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 7} 
U 374/06 
 
Urteil vom 29. Juni 2007 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Ersatzrichter Maeschi, 
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold. 
 
Parteien 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
T.________, 1952, Beschwerdegegner, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung, 
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 12. Juni 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
T.________, geboren 1952, ist bei der Firma E.________ AG als Labormitarbeiter angestellt und bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (nachfolgend: SUVA) obligatorisch für die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Am 24. März 1998 erlitt er mit seinem Personenwagen einen Auffahrunfall, bei dem er sich ein Distorsionstrauma der Halswirbelsäule (HWS) zuzog. Die SUVA erbrachte die gesetzlichen Leistungen und schloss den Fall auf den 30. August 1999 ab (Verfügung vom 23. Februar 2000). Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 19. März 2001 fest. Auf Beschwerde hin hob das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern den Entscheid auf und wies die Sache an die SUVA zurück, damit sie ergänzende Abklärungen, insbesondere in neurologischer Hinsicht, vornehme und über den Leistungsanspruch neu befinde (Entscheid vom 6. Juni 2002). Nach Einholung eines am 2. Dezember 2002 erstatteten Gutachtens von Dr. med. M.________, Leitender Arzt Neurologie, Spital X.________, übernahm die SUVA weitere Heilbehandlungskosten. Mit Verfügung vom 9. März 2005 sprach sie T.________ für das Zervikovertebralsyndrom eine Integritätsentschädigung von 10 % zu, welche sie wegen degenerativer Veränderungen um 50 % kürzte, was zur Ausrichtung einer Entschädigung von 5 % führte. Die gegen die Kürzung der Entschädigung gerichtete Beschwerde wies sie mit Einspracheentscheid vom 9. Juni 2005 ab. 
B. 
In Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde änderte das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern den Einspracheentscheid insofern ab, als die SUVA verpflichtet wurde, T.________ eine ungekürzte Integritätsentschädigung aufgrund einer Integritätseinbusse von 10 % auszurichten (Entscheid vom 12. Juni 2006). 
C. 
Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Eidgenössische Versicherungsgericht (seit 1. Januar 2007: Bundesgericht) mit dem Begehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei der Einspracheentscheid vom 9. Juni 2005 zu bestätigen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern enthält sich in seiner Stellungnahme eines Antrags. T.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1. 
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach dem Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 16. Dezember 1943 (OG; Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). 
2. 
Streitig ist allein, ob die SUVA die dem Versicherten gestützt auf Art. 24 f. UVG und Art. 36 UVV zustehende Integritätsentschädigung von 10 % zu Recht um 50 % gekürzt hat. 
2.1 Nach Art. 36 Abs. 2 UVG werden die Invalidenrenten, Integritätsentschädigungen und die Hinterlassenenrenten angemessen gekürzt, wenn die Gesundheitsschädigung oder der Tod nur teilweise die Folge eines Unfalles ist. Gesundheitsschädigungen vor dem Unfall, die zu keiner Verminderung der Erwerbsfähigkeit geführt haben, werden dabei nicht berücksichtigt. Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 113 V 54 E. 2 S. 59 in fine ausgeführt hat, ist Satz 2 dieser Bestimmung auf Integritätsentschädigungen nicht anwendbar, weil er dem Wortlaut nach nur die Renten beschlägt, kann sich doch das dort verwendete Kriterium der "Erwerbsfähigkeit" lediglich auf die Invalidenrenten beziehen. Dass das der Wille des Gesetzgebers ist, ergibt sich (entgegen der Auffassung von Maurer, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Bern 1985, S. 470 Fn 1228a) klar aus dem französischen und italienischen Text von Satz 2 des Art. 36 Abs. 2 UVG, in welchem ausdrücklich von den Renten die Rede ist ("Toutefois, en réduisant les rentes, on ne tiendra pas compte des états antérieurs qui ne portaient pas atteinte à la capacité de gain" / "Per la riduzione delle rendite non si terrà tuttavia conto delle affezioni anteriori non pregiudizievoli alla capacità di guadagno"). Damit übereinstimmend hat das Gericht in BGE 116 V 156 E. 3c S. 157 festgestellt, dass beim Zusammentreffen mehrerer, teils versicherter, teils nicht versicherter Ereignisse (Vorzustand, nicht versicherter Unfall), welche einen einzigen Integritätsschaden verursachen, der Integritätsschaden gesamthaft zu bemessen ist und in einem zweiten Schritt die Entschädigung nach Massgabe von Art. 36 Abs. 2 UVG entsprechend dem Kausalanteil der nicht versicherten Ereignisse am gesamten Integritätsschaden zu kürzen ist. Zu einer Kürzung geben nicht nur Vorzustände, sondern sämtliche unfallfremden Einwirkungen, insbesondere auch interkurrente Erkrankungen Anlass (BGE 121 V 326 E. 3a S. 331; Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts U 344/01 vom 11. September 2002; vgl. auch Thomas Frei, Die Integritätsentschädigung nach Art. 24 und 25 des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung, Diss. 1997, Freiburg 1998, S. 125 ff.). 
2.2 Im Widerspruch zu dieser Rechtsprechung hat die Vorinstanz die von der SUVA verfügte Leistungskürzung mit der Begründung aufgehoben, die Integritätsentschädigung dürfe bei Vorzuständen, die zu keiner Verminderung der Erwerbsfähigkeit geführt haben, nicht gekürzt werden. In der Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde führt das kantonale Gericht aus, der ursprüngliche Wortlaut von Art. 36 Abs. 2 UVG gemäss Botschaft des Bundesrates vom 18. August 1976 (BBl 1976 III 141 ff.) habe vorgesehen, dass vorbestehende Gesundheitsschädigungen für die Kürzung der Renten nicht berücksichtigt werden (Separatausgabe S. 112). Im Kommentar zu dieser Bestimmung werde aber klar erwähnt, dass für Renten und Integritätsentschädigungen eine Milderung der Kürzungsregel und damit eine gewisse Abschwächung des Kausalitätsprinzips vorgesehen werde (a.a.O., S. 57). Grund dazu sei gewesen, dass Kürzungen wegen nicht manifester Gesundheitsschäden für die Berechtigten schwer verständlich seien und oft Anlass zu Streitigkeiten gäben (a.a.O., S. 35). Wohl aus diesem Grund sei - zumindest in der deutschen Fassung - der Gesetzestext in Satz 2 von Art. 36 Abs. 2 UVG in der definitiven Fassung geändert bzw. an den Botschaftstext angepasst worden. Es stelle sich somit die Frage, ob diese Anpassung in der französischen und italienischen Fassung versehentlich unterlassen worden sei. 
Diese Annahme findet in den Materialien keine Stütze. Die Feststellung auf S. 57 der Botschaft, wonach u.a. auch für Integritätsentschädigungen eine Milderung der bisherigen Kürzungsregelung und damit eine Abschwächung des Kausalitätsprinzips vorgesehen war, ergibt sich weder aus Ziffer 347 der Botschaft (a.a.O., S. 34 ff.) - worauf in den Bemerkungen zur Gesetzesbestimmung ausdrücklich verwiesen wird - noch aus dem Wortlaut des Gesetzesentwurfs. Der vorgeschlagene Art. 36 Abs. 2 Satz 2 sah in allen drei Sprachversionen eine Ausnahme von der Kürzungsregel von Satz 1 der Bestimmung lediglich für Renten und Hilflosenentschädigungen vor. Bei der parlamentarischen Beratung der Gesetzesvorlage ist die nationalrätliche Kommission einem Antrag, wonach auch Hilflosen- und Integritätsentschädigungen generell nicht gekürzt werden sollten, nur bezüglich der Hilflosenentschädigung gefolgt. Dagegen wurde auf ein Votum des zuständigen Bundesrates an der Kürzungsmöglichkeit bei der Integritätsentschädigung festgehalten mit der Begründung, diese könne nur gewährt werden, soweit die Schädigung Unfallfolge sei. Es wurde daher beschlossen, in Abs. 1 von Art. 36 auch die Hilflosenentschädigungen von der Kürzung auszunehmen und Abs. 2 entsprechend anzupassen. Eine Änderung von Satz 2 in dem Sinne, dass die Kürzungsausnahme nicht nur für Renten, sondern auch für Integritätsentschädigungen Geltung hat, stand nicht zur Diskussion (Protokoll der Sitzung vom 2./3. November 1977, S. 78 f.). Die Kommission des Ständerates hat daran nichts geändert (Protokoll der Sitzung vom 28./29. Januar 1980, S. 35). Im Plenum der beiden Räte wurde die Bestimmung diskussionslos verabschiedet (AB 1979 N 250, 1980 S 481). Es entspricht somit dem Willen des Gesetzgebers, Satz 2 von Art. 36 Abs. 2 UVG auf Integritätsentschädigungen nicht anzuwenden. Zu einer Änderung der bisherigen Rechtsprechung besteht kein Anlass (BGE 131 V 107 E. 3.1 S. 110 mit Hinweisen). 
3. 
Wie schon im kantonalen Verfahren bestreitet der Versicherte in der Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde die materielle Richtigkeit der verfügten Leistungskürzung. 
3.1 Aus den Akten geht hervor, dass der Versicherte bereits unmittelbar nach dem Unfall vom 24. März 1998 degenerative Veränderungen an der HWS aufgewiesen hat. Der Röntgenbefund des Zentrums Y.________, vom 16. April 1998 lautete auf fortgeschrittene Osteochondrose C6/7 mit relativer Spinalkanalstenose. Es bestand eine erhebliche Verschmälerung des Intervertebralraums C6/7 mit marginalen Spondylophyten, die zu einer Einengung des Spinalkanals führten. Der behandelnde Arzt, Dr. med. W.________, Facharzt für Allgemeine Medizin, gelangte aufgrund dieser Befunde zum Schluss, am Heilungsverlauf seien unfallfremde Faktoren in Form degenerativer Wirbelsäulenveränderungen beteiligt. Der Kreisarzt Dr. med. B.________, Facharzt für Chirurgie, bezeichnete den radiologischen Befund als recht bedeutsam und vertrat die Auffassung, der Unfall habe zur Traumatisierung eines beträchtlichen degenerativen Vorzustandes geführt. Dieser habe einen längeren Heilungsverlauf erwarten lassen. Dennoch sei davon auszugehen, dass die durch den Unfall bewirkte Weichteilschädigung als abgeheilt zu betrachten sei. Es sei zu erwarten, dass der Versicherte unter geeignetem Muskelaufbau wieder beschwerdefrei werde, auch seitens der degenerativen Problematik. Es habe wahrscheinlich nur eine temporäre und keine richtunggebende Verschlimmerung stattgefunden. Eine MRI-Untersuchung vom 8. Juli 1999 zeigte degenerative Veränderungen in den Segmenten C4-7 mit Protrusion C5/6 und C6/7 sowie Osteochondrose C6/7 mit Verschmälerung des Spinalkanals in diesem Bereich. Dr. med. H.________, Facharzt für Neurologie, bezeichnete die degenerativen Veränderungen am 16. November 2000 als mässig und erachtete die Spinalkanalverengung als nicht signifikant. Dr. med. M.________ gelangte im Gutachten vom 2. Dezember 2002 zum Schluss, der Vorzustand sei klinisch völlig latent gewesen. Unfallfremd seien höchstens mässige degenerative Veränderungen der HWS auf Höhe von C6/7; die Osteochondrose könne nicht als fortgeschritten bezeichnet werden. Eine erhebliche Beeinträchtigung der körperlichen Integrität bestehe nicht. Eine erneute röntgenologische Untersuchung im Zentrum Y.________ vom 2. Dezember 2004 zeigte demgegenüber erhebliche degenerative Veränderungen vor allem an der unteren HWS und eine massiv eingeschränkte Beweglichkeit der HWS; ferner fanden sich eine diskrete Diskopathie L4/L5 sowie leichte degenerative Veränderungen der kleinen Wirbelgelenke. In der Abschlussuntersuchung vom 28. Januar 2005 schloss Dr. med. C.________, Facharzt für orthopädische Chirurgie, SUVA, im Vergleich zu den Befunden vom 15. April 1998 auf eine deutliche Zunahme der degenerativen Veränderungen C5-7 und auf nicht progrediente leichte Veränderungen an der LWS. Den Anteil der vorbestehenden degenerativen Veränderungen schätzte er in Beurteilung des Integritätsschadens vom 2. März 2005 auf 50 %. 
3.2 Aufgrund der medizinischen Akten ist davon auszugehen, dass zwar ein Vorzustand in Form degenerativer Veränderungen der HWS bestanden hat. Auch wenn die ärztlichen Beurteilungen der Röntgenbefunde teilweise auseinander gehen, ist anzunehmen, dass bis zum Unfall vom 24. März 1998 noch keine wesentliche Beeinträchtigung bestanden hat und eine deutliche Verschlimmerung erst später eingetreten ist. Davon geht auch die SUVA aus, wenn sie in der Vernehmlassung zur erstinstanzlichen Beschwerde ausführt, Dr. med. M.________ stütze sich auf die Röntgenbilder von 1998 und es seien die Veränderungen zwischen 1998 und 2004 gewesen, welche dazu geführt hätten, dass im Unterschied zur Beurteilung von Dr. med. M.________ der Anspruch auf eine Integritätsentschädigung bejaht worden sei. Diese Feststellung deckt sich mit den Angaben in der ärztlichen Beurteilung des Dr. med. C.________ vom 28. Januar 2005. Daraus geht hervor, dass die Erheblichkeit des Integritätsschadens unter Berücksichtigung der radiologisch deutlichen Zunahme der segmentalen Veränderungen an der HWS bejaht wurde. Inwieweit die nachträglichen Veränderungen unfall- oder krankheits- bzw. altersbedingt waren, lässt sich naturgemäss nur schwer feststellen. Wenn Dr. med. C.________ am 2. März 2005 den Integritätsschaden gemäss Tabelle 7 (Integritätsentschädigung bei Wirbelsäulenaffektionen) der von der SUVA herausgegebenen Richtlinien mit 10 % (entsprechend einer Osteochondrose mit Befall mehrerer Segmente und Schmerzfunktionsskala ++ - +++) bemessen und den Anteil der degenerativen Veränderungen am Zervikalsyndrom mit 50 % gewichtet hat, so erscheint dies als angemessen. Anhaltspunkte dafür, dass die Zunahme der degenerativen Veränderungen ausschliesslich unfallbedingt war, bestehen nicht. Etwas anderes lässt sich entgegen den Ausführungen des Versicherten weder daraus ableiten, dass sich die degenerativen Veränderungen innert lediglich sechs Jahren deutlich verschlimmert haben, noch daraus, dass die Veränderungen an der LWS praktisch unverändert geblieben sind. Im Gegenteil stellt sich die Frage, ob die Verschlimmerung des Befundes nicht in einem weitergehenden Mass oder gar vollumfänglich als krankheitsbedingt zu betrachten ist. Zu einem von der SUVA abweichenden Entscheid besteht indessen kein Anlass. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 12. Juni 2006 aufgehoben. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt. 
Luzern, 29. Juni 2007 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: