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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
5P.410/2006 /bnm 
 
Urteil vom 16. November 2006 
II. Zivilabteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Raselli, Präsident, 
Bundesrichterin Nordmann, Bundesrichter Meyer, 
Gerichtsschreiber Gysel. 
 
Parteien 
X.________ (Ehefrau), 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
Y.________ (Ehemann), 
Beschwerdegegner, 
vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Dominik Hasler, 
Obergericht des Kantons Thurgau, Promenadenstrasse 12A, 8500 Frauenfeld. 
 
Gegenstand 
Art. 9 und Art. 29 Abs. 2 BV sowie Art. 6 EMRK (vorsorgliche Massnahmen im Scheidungsprozess), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 17. Juli 2006 (ZR.2005.76). 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die Eheleute Y.________ (Ehemann) und X.________ (Ehefrau), die zwei heute volljährige Töchter haben, leben seit Dezember 2000 getrennt. Am 29. November 2004 stellte X.________ ein Eheschutzbegehren mit dem Antrag, ihr rückwirkend ab 1. Januar 2004 Unterhaltsbeiträge von monatlich Fr. 850.-- zu zahlen. Der Vizepräsident des Bezirksgerichts B.________ behandelte das Gesuch angesichts des am 13. Dezember 2004 eingereichten gemeinsamen Scheidungsbegehrens als Gesuch um Erlass vorsorglicher Massnahmen für die Dauer des Scheidungsprozesses und wies es am 21. Juni 2005 ab. 
B. 
X.________ erhob mit Eingabe vom 14. Juli 2005 Rekurs. Sie beantragte, Y.________ zu verpflichten, ihr ab 1. Januar 2004 bis zur Beendigung der Ausbildung einer der beiden Töchter persönliche Unterhaltsbeiträge von monatlich Fr. 850.-- und anschliessend von monatlich Fr. 1'600.-- zu bezahlen. Durch Schreiben vom 15. September 2005 erhöhte sie das Unterhaltsbegehren mit Wirkung ab 1. Januar 2004 auf monatlich Fr. 2'204.-- und verlangte, dass die Unterhaltsbeiträge für die Zeit nach Beendigung der Erstausbildung einer der beiden Töchter zu gegebener Zeit neu festzusetzen seien. 
 
Das Obergericht des Kantons Thurgau beschloss am 17. Juli 2006, dass der Rekurs geschützt werde, soweit darauf eingetreten werden könne, hob die bezirksgerichtliche Verfügung auf und verpflichtete Y.________, X.________ ab 1. Januar 2004 bis zum Eintritt der Rechtskraft des Scheidungsurteils einen vorauszahlbaren persönlichen Unterhaltsbeitrag von monatlich Fr. 850.-- zu bezahlen. Mit einlässlicher Begründung errechnete es zwar einen Unterhaltsbeitrag von monatlich Fr. 878.--, stellte aber fest, dass einem Unterhaltsbeitrag von mehr als Fr. 850.-- die Dispositionsmaxime entgegenstehe, da im Begehren vom 29. November 2004 ein Unterhaltsbeitrag lediglich in dieser Höhe verlangt worden sei. 
C. 
X.________ hat staatsrechtliche Beschwerde und zivilrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde erhoben. Mit der staatsrechtlichen Beschwerde beantragt sie, der Beschluss des Obergerichts sei insoweit aufzuheben, als auf das erweiterte Begehren, ihr einen Unterhaltsbeitrag von Fr. 2'204.-- (d.h. von mehr als Fr. 850.--) zuzusprechen, nicht eingetreten worden sei, und die Sache zu neuem Entscheid an die kantonale Instanz zurückzuweisen. 
 
Vernehmlassungen zur Beschwerde sind nicht eingeholt worden. 
D. 
Mit Urteil vom heutigen Tag hat die erkennende Abteilung die Nichtigkeitsbeschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten war. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Beim angefochtenen Beschluss handelt es sich um einen von der letzten kantonalen Instanz gefällten Entscheid betreffend Eheschutz bzw. vorsorgliche Massnahmen im Ehescheidungsverfahren. Nach der Rechtsprechung gilt ein solcher nicht als Endentscheid im Sinne von Art. 48 Abs. 1 OG; er ist daher nicht mit Berufung anfechtbar (BGE 127 III 474 E. 2c S. 480; 126 III 261 E. 1 S. 263, mit Hinweisen). Die staatsrechtliche Beschwerde ist daher zulässig (Art. 84 Abs. 2 OG). 
2. 
2.1 Das Obergericht führt aus, die Beschwerdeführerin habe im erstinstanzlichen Verfahren beantragt, den Beschwerdegegner zu verpflichten, ihr rückwirkend ab 1. Januar 2004 einen persönlichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 850.-- im Monat zu bezahlen. An dieses Rechtsbegehren sei sie auch heute noch in dem Sinn gebunden, dass sie keine grösseren Leistungen verlangen könne. Die persönlichen finanziellen Ansprüche einer Partei im Scheidungsprozess und damit auch im Verfahren betreffend vorsorgliche Massnahmen nach Art. 137 Abs. 2 ZGB unterstünden der Dispositionsmaxime. Unter Hinweis auf § 90 Abs. 2 Ziff. 1 der Thurgauer Zivilprozessordnung (ZPO) bemerkt die kantonale Rekursinstanz alsdann, die eingebrachten Rechtsbegehren dürften nach Rechtshängigkeit eines Verfahrens nur eingeschränkt, nicht aber erweitert oder geändert werden. Die Beschwerdeführerin könne folglich im Rekursverfahren für sich persönlich Unterhaltsbeiträge von monatlich höchstens Fr. 850.-- verlangen. Eine Erhöhung im Sinne ihrer Rekursschrift vom 14. Juli 2005 bzw. ihrer weiteren Eingabe vom 15. September 2005 auf Fr. 1'600.-- bzw. Fr. 2'204.-- falle ausser Betracht. Es könne nur zur Diskussion stehen, ob die erste Instanz zu Recht zum Schluss gekommen sei, der Beschwerdeführerin stehe für die Dauer des Scheidungsverfahrens kein Unterhaltsanspruch zu, oder ob es angebracht sei, dass sie vom Beschwerdegegner eine monatliche Unterstützung von höchstens Fr. 850.-- erhalte. Auf Grund eingehender Berechnungen gelangte das Obergericht zum Schluss, es stünde der Beschwerdeführerin an sich ein Unterhaltsbeitrag von monatlich Fr. 878.-- zu. Ihr diesen Betrag zuzusprechen, gehe indessen nicht an, weil dem die in § 97 ZPO verankerte Dispositionsmaxime entgegenstehe, wonach einer Partei nicht mehr zugesprochen werden dürfe, als sie verlangt habe. Die kantonale Rekursinstanz hiess den Rekurs daher lediglich in dem Umfang gut, dass sie der Beschwerdeführerin monatlich Fr. 850.-- zusprach. 
2.2 Die im angefochtenen Beschluss geäusserte Auffassung entspricht den Feststellungen des Obergerichts in dem von Barbara Merz (Die Praxis zur thurgauischen Zivilprozessordnung, Bern 2000, N. 1b zu § 230) zitierten Entscheid vom 15. September 1998, wonach neue materielle Anträge in der Berufungs- bzw. Rekurseingabe unter Vorbehalt der Einschränkung des Rechtsbegehrens nie zulässig seien und daran nichts ändere, dass nach § 230 Abs. 3 in Verbindung mit § 146 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO Vorbringen und Anträge, die erst durch den Verlauf des Prozesses ausgelöst worden seien, auch noch im Rechtsmittelverfahren gestellt werden könnten; unter "Vorbringen und Anträge" fielen nur Tatsachenbehauptungen, Bestreitungen und Einreden, nicht aber neue Anträge auf materielle Erledigung des Prozesses, mithin keine neuen Berufungs- bzw. Rekursanträge. 
3. 
Nach Auffassung der Beschwerdeführerin beruht der Entscheid des Obergerichts auf einer willkürlichen Anwendung kantonalen Prozessrechts. 
3.1 Willkür im Sinne von Art. 9 BV liegt nach ständiger Rechtsprechung nicht schon dann vor, wenn eine andere Lösung als die beanstandete ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre. Das Bundesgericht hebt einen kantonalen Entscheid wegen materieller Rechtsverweigerung nur dann auf, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder sonst wie in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Die Aufhebung eines kantonalen Entscheids rechtfertigt sich in jedem Fall nur dort, wo nicht nur die Begründung, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist (BGE 132 I 13 E. 5.1 S. 17 mit Hinweisen). 
Das Bundesgericht prüft nicht von Amtes wegen, ob ein kantonaler Entscheid verfassungswidrig ist. Art. 90 Abs. 1 lit. b OG verlangt die Darlegung, inwiefern verfassungsmässige Rechte und Rechtssätze verletzt worden seien, was appellatorische Kritik, wie sie allenfalls im Rahmen eines Berufungsverfahrens zulässig ist, ausschliesst. Wird Willkür gerügt, ist klar und detailliert aufzuzeigen, inwiefern der kantonale Entscheid qualifiziert unrichtig sein soll (BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 262 mit Hinweisen). 
3.2 
3.2.1 Die Beschwerdeführerin weist auf § 240 ZPO hin, wonach im Rekursverfahren bezüglich des Novenrechts die Vorschriften der §§ 229 und 230 ZPO (zum Berufungsverfahren) sinngemäss gälten. Nach § 230 Abs. 3 ZPO seien unter den Voraussetzungen von § 146 Abs. 2 ZPO neue Vorbringen in allen Fällen zulässig. § 146 Abs. 2 ZPO erkläre Vorbringen und Anträge, die erst durch den Verlauf des Prozesses ausgelöst worden seien, als zulässig, sofern dadurch Verfahrensart und Zuständigkeit nicht geändert würden. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung folge zwingend, dass im Berufungs- und im Rekursverfahren neue Begehren zulässig seien. Eine gegenteilige Meinung widerspreche dem Sinn des Gesetzes und sei willkürlich. In ihren Eingaben an das Obergericht vom 15. September 2005 und vom 30. November 2005 habe sie - nach dem kantonalen Recht fristgemäss - neue Anträge eingereicht, die durch den Verlauf des Prozesses ausgelöst worden seien. 
3.2.2 Der von der Beschwerdeführerin angerufene § 146 ZPO ist im Abschnitt über die Hauptverhandlung im ordentlichen Verfahren untergebracht und regelt die Eventualmaxime. Gemäss § 146 Abs. 1 ZPO sind neue Anträge nach dem letzten Vortrag in der Hauptverhandlung grundsätzlich ausgeschlossen. Zulässig sind gemäss § 146 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO neue Vorbringen und Anträge, die erst durch den Verlauf des Prozesses ausgelöst worden sind. Diese Bestimmung gilt kraft der Verweisung in § 230 Abs. 3 ZPO, wonach unter den Voraussetzungen von § 146 Abs. 2 ZPO neue Vorbringen in allen Fällen zulässig sind, auch für das Berufungsverfahren. Es fällt allerdings auf, dass in § 230 Abs. 3 ZPO nur von neuen Vorbringen die Rede ist, während § 146 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO von neuen Vorbringen und Anträgen spricht. Aus dieser Sicht ist es daher fraglich, ob es willkürlich ist, im Berufungsverfahren neue Anträge auszuschliessen. 
 
Zu beachten ist sodann jedoch, dass der angefochtene Entscheid nicht im Berufungs-, sondern im Rekursverfahren ergangen ist und dass gemäss dem unter anderem das Novenrecht in diesem Verfahren beschlagenden § 240 ZPO die Bestimmung von § 230 ZPO nur sinngemäss zur Anwendung gelangt. Die Beschwerdeführerin müsste demnach darlegen, inwiefern das Nichtzulassen neuer Anträge im Rekursverfahren ungeachtet dessen willkürlich sein soll, dass § 230 ZPO bloss sinngemäss anwendbar ist und insbesondere dass Eheschutzmassnahmen wie auch vorsorgliche Massnahmen im Scheidungsprozess bei veränderten Verhältnissen jederzeit abgeändert werden können (Art. 179 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 137 Abs. 2 ZGB). Solche Ausführungen sind der Beschwerde nicht zu entnehmen. Dieser kann daher bereits aus diesem Grund kein Erfolg beschieden sein. 
3.2.3 Des Weiteren wäre darzutun, dass die im Rekursverfahren neu gestellten Anträge erst durch den Verlauf des Prozesses ausgelöst worden sind (§ 146 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO). Die Beschwerdeführerin macht - ohne nähere Ausführungen - geltend, sie habe dies hauptsächlich in ihren - beim Obergericht nachträglich eingereichten - Eingaben vom 15. September 2005 und vom 30. November 2005 getan. Bei der von ihr selbst vorgetragenen Sachlage genügt es nicht, aufzuzeigen, weshalb es willkürlich sei, im Rekursverfahren neue Anträge auszuschliessen; zusätzlich hätte die Beschwerdeführerin darzutun, dass dies auch dann der Fall sei, wenn die nach Gesetz zur Rechtfertigung neuer Anträge verlangten Umstände nicht schon in der Rekursschrift, sondern in erst nach dieser eingereichten Eingaben vorgebracht wurden. Auch Ausführungen dieser Art finden sich in der Beschwerde nicht. Anzumerken ist im Übrigen, dass Barbara Merz die Rechtsprechung des Obergerichts zu § 146 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO zwar als zu restriktiv kritisiert (a.a.O. N. 4a zu § 146), aber dafür hält, das Novenrecht beziehe sich im Rekursverfahren einzig auf die Rekursschrift und die Rekursantwort (a.a.O. N. 7 a.E. zu § 230). 
3.2.4 Eine willkürliche Anwendung der kantonalen Bestimmungen zum Novenrecht ist nach dem Gesagten nicht dargetan. Damit ist der Rüge der Beschwerdeführerin, das Obergericht habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) missachtet und deswegen auch gegen Art. 6 EMRK verstossen, die Grundlage entzogen: Die von ihr angerufenen Bestimmungen verleihen nämlich nur insoweit Anspruch, mit Anträgen und Vorbringen gehört zu werden, als diese nach dem einschlägigen Prozessrecht frist- und formgerecht in das Verfahren eingebracht worden sind. 
4. 
Schliesslich macht die Beschwerdeführerin eine Verletzung bundesrechtlicher Vorschriften über die Abgrenzung der sachlichen oder örtlichen Zuständigkeit der Behörden im Sinne von Art. 84 Abs. 1 lit. d OG geltend. Zur Begründung dieser Rüge führt sie aus, das Obergericht habe als Scheidungsgericht nicht die Befugnis gehabt, über die Höhe von Unterhaltsleistungen an mündige Kinder zu befinden, und hätte aus diesem Grund bei der Ermittlung des Notbedarfs des Beschwerdegegners den Bedarf der mündigen Töchter der Parteien nicht mitberücksichtigen dürfen. 
 
Welche bundesrechtliche Vorschrift über die Abgrenzung der sachlichen oder örtlichen Zuständigkeit der Behörden durch das Vorgehen des Obergerichts verletzt worden sein soll, legt die Beschwerdeführerin nicht dar. Die Rüge stösst im Übrigen ohnehin ins Leere, vermöchte doch auch eine Veränderung der Bedarfspositionen nichts daran zu ändern, dass der im massgeblichen Rechtsbegehren verlangte Unterhaltsbeitrag von monatlich Fr. 850.-- nach der von der Beschwerdeführerin ohne Erfolg beanstandeten Auffassung des Obergerichts nicht überschritten werden konnte. 
5. 
Die staatsrechtliche Beschwerde ist nach dem Gesagten abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang ist die Gerichtsgebühr der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG). Da keine Vernehmlassungen eingeholt worden sind und dem Beschwerdegegner somit keine Kosten erwachsen sind, entfällt die Zusprechung einer Parteientschädigung. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'500.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 16. November 2006 
Im Namen der II. Zivilabteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: