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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_122/2011 
 
Urteil vom 8. Juli 2011 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber, 
Gerichtsschreiber R. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
B.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Freiburg, Route du Mont-Carmel 5, 1762 Givisiez, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Freiburg vom 21. Dezember 2010. 
Sachverhalt: 
 
A. 
Mit Verfügung vom 4. Mai 2007 lehnte die IV-Stelle des Kantons Freiburg das Gesuch der 1951 geborenen, an einer Lungenkrankheit leidenden B.________ um Zusprechung einer Invalidenrente ab, weil sie mit einer angepassten Tätigkeit Erwerbseinkünfte etwa in gleicher Höhe wie bis Dezember 2004 bei der A.________ AG in der Elektronik-Montage verdienen könnte. 
B.________ liess Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, unter Aufhebung der angefochtenen Verfügung sei ihr eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragte sie u. a., es sei eine öffentliche Verhandlung durch zu führen. Mit Entscheid vom 21. August 2009 wies das Kantonsgericht Freiburg die Beschwerde ab, ohne eine öffentliche Verhandlung durchgeführt zu haben. 
 
B. 
Die von B.________ hiegegen eingereichte Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten hiess das Bundesgericht in dem Sinne gut, dass es den angefochtenen Entscheid vom 21. August 2009 aufhob und die Sache an das Kantonsgericht Freiburg zurückwies, damit es die beantragte öffentliche Verhandlung durchführe und hernach über die Beschwerde materiell neu befinde (Urteil vom 8. Juni 2010, 9C_870/2009). Am 9. November 2010 führte das Kantonsgericht Freiburg eine öffentliche Verhandlung durch. Mit Entscheid vom 21. Dezember 2010 wie es die Beschwerde ab. 
 
C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt B.________ beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides vom 21. Dezember 2010 sei die IV-Stelle zu verpflichten, ihr eine ganze Invalidenrente zu gewähren. Ferner verlangt sie die Zusprechung einer Parteientschädigung für das mit Entscheid vom 21. August 2009 abgeschlossene kantonale Verfahren und ersucht um die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege. 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u. a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2. 
Die Vorinstanz stellte nach Wiedergabe der gesetzlichen Bestimmungen und der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Invaliditätsbemessung in Würdigung der umfassenden medizinischen Unterlagen, namentlich des Gutachtens der Medizinischen Abklärungsstelle X.________ (MEDAS) vom 23. August 2006 fest, der Beschwerdeführerin wäre trotz ihres progredienten Lungenleidens in der Zeitspanne bis Verfügungserlass (4. Mai 2007) sowohl aus pulmonaler wie auch psychischer Sicht eine leichte Arbeit in vollem Umfang zumutbar gewesen. Damit entfalle ein Invalidenrentenanspruch. 
 
3. 
Die Beschwerdeführerin rügt zunächst, dass die nach Verfügungserlass verfassten Berichte des Lungenzentrums Y.________ nicht in die Beurteilung miteinbezogen worden seien. In verschiedenen Punkten kritisiert sie sodann die Beweiswürdigung. Ferner erkennt sie mehrere Verletzungen der EMRK, so des Grundsatzes der Waffengleichheit, weil Verwaltung und Vorinstanz auf eine nicht unabhängige Expertise der Versicherung abgestellt hätten. Weil keine Parteieinvernahme im Sinne einer öffentlichen Befragung durchgeführt wurde, habe das kantonale Gericht ebenfalls Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt. Des Weiteren habe die Vorinstanz Bundesrecht missachtet, indem sie trotz Parteilichkeit der Experten die Anordnung eines Obergutachtens abgelehnt hat. Schliesslich beantragt die Beschwerdeführerin, es sei ihr für das erste kantonale Verfahren eine Parteientschädigung zuzusprechen, weil der damals angefochtene Entscheid der Vorinstanz vom Bundesgericht aufgehoben wurde. 
 
4. 
Die Verneinung des Rentenanspruchs seitens der Vorinstanz lässt sich, soweit aufgrund der Kognitionsregelung (E. 1 hievor) einer Überprüfung durch das Bundesgericht zugänglich, nicht beanstanden. 
 
4.1 Über weite Strecken übt die Beschwerdeführerin Kritik an Arztberichten und der vorinstanzlichen Beweiswürdigung, ohne jedoch zu begründen, inwiefern das kantonale Gericht den rechtserheblichen medizinischen Sachverhalt offensichtlich unrichtig oder in Verletzung von Bundesrecht festgestellt haben soll. Die rein appellatorische Kritik an der Ermittlung und Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz ist indessen im Rahmen der gesetzlichen Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts unzulässig (E. 1 hievor). 
 
4.2 Soweit die Versicherte beanstandet, die Vorinstanz habe die Berichte des Lungenzentrums nicht in die Beurteilung einbezogen, ist ihr entgegen zu halten, dass diese aus der Zeit nach Verfügungserlass stammen, worauf in der Beschwerde im Übrigen ausdrücklich aufmerksam gemacht wird. Massgebend ist nach der Rechtsprechung jedoch der Sachverhalt, wie er zur Zeit des Verfügungserlasses gegeben war. Ausnahmsweise kann das Gericht aus prozessökonomischen Gründen auch die Verhältnisse nach Erlass der Verfügung in die Beurteilung miteinbeziehen, das heisst den das Prozessthema bildenden Streitgegenstand in zeitlicher Hinsicht ausdehnen. Eine solche Ausdehnung des richterlichen Beurteilungszeitraums ist jedoch nur zulässig, wenn der nach Verfügungserlass eingetretene, zu einer neuen rechtlichen Beurteilung der Streitsache ab jenem Zeitpunkt führende Sachverhalt hinreichend genau abgeklärt ist und die Verfahrensrechte der Parteien, insbesondere deren Anspruch auf rechtliches Gehör, respektiert worden sind (BGE 130 V 138 E. 2.1 S. 140). Ob die Voraussetzungen, unter denen das kantonale Gericht auch die Berichte des Lungenzentrums hätte heranziehen können, erfüllt sind, kann offen bleiben. Denn eine Verpflichtung der Vorinstanz, diese nach dem massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses verfassten Arztberichte bei der Beurteilung mitzuberücksichtigen, besteht nicht, weshalb die entsprechende Unterlassung des Kantonsgerichts kein Bundesrecht verletzt. 
 
4.3 
4.3.1 Die Beschwerdeführerin zitiert verschiedene Grundsätze (Prinzip der Waffengleichheit, Anspruch auf ein faires Verfahren), die im vorliegenden Beweisverfahren verletzt worden sein sollen, weil die Vorinstanz hauptsächlich auf das Gutachten der MEDAS abgestellt habe. Stattdessen hätte dem Beweisantrag auf Einvernahme des Hausarztes und weiterer Mediziner stattgegeben werden müssen. Ebenso hätte ein Obergutachten angeordnet werden sollen. 
4.3.2 In BGE 136 V 376 hat sich das Bundesgericht einlässlich zur Beweistauglichkeit von Administrativgutachten der Medizinischen Abklärungsstellen (MEDAS) unter den Aspekten der Unabhängigkeit sowie der Verfahrensfairness und Waffengleichheit geäussert. Es hat die Rechtsprechung über die Beweiskraft versicherungsmedizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351, 122 V 157) bestätigt und an BGE 135 V 465 E. 4 S. 467 festgehalten, wonach bei formell einwandfreien und materiell schlüssigen medizinischen Entscheidungsgrundlagen des Versicherungsträgers (Administrativgutachten) kein Anspruch auf eine gerichtliche Expertise besteht (E. 4.1.2 S. 378). Ebenso hat das Gericht in E. 4.2 S. 378 f. die im Sozialversicherungsverfahren schwergewichtig auf Stufe Verwaltung erfolgende Beweisführung als mit Art. 6 EMRK vereinbar und den Grundsatz des fairen Verfahrens im Einklang mit zahlreichen innerstaatlichen Urteilen wie auch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte als gewahrt erklärt. Die Rügen betreffend fehlende EMRK-Konformität des vorinstanzlichen Gerichtsverfahrens sind somit unbegründet. Weiterungen im Lichte des zur Publikation vorgesehenen Urteils 9C_243/2010 vom 28. Juni 2011 entfallen, weil bei einer gesamthaften Berücksichtigung aller (medizinisch) relevanten Umstände kein Anhaltspunkt dafür besteht, der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin sei, was die Entwicklung bis zum Verfügungserlass vom 4. Mai 2007 anbelangt, nicht korrekt erfasst worden. Was die Zeit seither anbelangt, steht der Beschwerdeführerin das Neuanmeldungsrecht nach Art. 87 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 3 IVV zu. 
 
4.4 Nicht gefolgt werden kann der Beschwerdeführerin insbesondere soweit sie unsubstanziiert Parteilichkeit der Experten und Fehlen eines Obergutachtens rügt. Weil das Gutachten der MEDAS fachlich-inhaltlich schlüssig ist und den Anforderungen an eine Expertise genügt, besteht kein Anlass für die Einholung eines Obergutachtens. 
 
4.5 Das kantonale Gericht hat die vom Beschwerdegegner im Urteil vom 8. Juni 2010 angeordnete öffentliche Verhandlung durchgeführt. Der Anspruch auf öffentliche Verhandlung nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK umfasst nicht die öffentliche Beweisabnahme (vgl. BGE 122 V 47 E. 3a S. 55). Indem die Vorinstanz der Versicherten die Gelegenheit eingeräumt hat, ein Plädoyer zu halten, wurde ihrem Anspruch Genüge getan. 
 
4.6 Dass die Vorinstanz keine Parteieinvernahme durchgeführt hat, ist ebenfalls nicht bundesrechtswidrig. Angesichts des Ergebnisses des von der Verwaltung durchgeführten Beweisverfahrens bestand kein Anlass zu einer Parteibefragung vor dem Kantonsgericht, von welcher überdies keine neuen Erkenntnisse erwartet werden konnten. Ebenso wenig begründet ist die Behauptung, die Vorinstanz habe es zu Unrecht unterlassen, Ärzte als Zeugen einzuvernehmen. Für eine derartige Beweismassnahme bestand schon deshalb kein Grund, weil die beteiligten Haus- und Fachärzte ihre Beurteilungen des Gesundheitszustandes und Stellungnahmen zur Arbeitsunfähigkeit der Beschwerdeführerin bereits schriftlich, in Form von Berichten und Gutachten, abgegeben hatten. Es gibt im gesamten umfangreichen Dossier keinen aus der Zeit bis zum Verfügungserlass vom 4. Mai 2007 datierenden Bericht, der die Annahme der fachärztlichen Administrativgutachter gemäss Expertise vom 23. August 2006 (mit pneumologischem und versicherungspsychiatrischem Teilgutachten vom 14. und 26. Juli 2006) in Frage stellen würde, die Beschwerdeführerin könne (damals) eine leichte Berufstätigkeit wie die bisher verrichtete als Löterin weiterhin "in lufthygienisch optimaler Umgebung" ausüben. 
 
4.7 Schliesslich macht die Beschwerdeführerin geltend, da sie mit der ersten Beschwerde ans Bundesgericht ein Rückweisungsurteil (9C_870/2009 vom 8. Juni 2010) erwirkt hat, hätte sie für das kantonale Verfahren Anspruch auf eine Parteientschädigung, statt auf eine Begleichung ihrer Kosten im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege gehabt. Auch dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Mit dem Bundesgerichtsurteil vom 8. Juni 2010 wurde die Sache zur Durchführung einer öffentlichen Verhandlung und zu neuer materieller Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Über den Ausgang des kantonalen Prozesses war mit dem Bundesgerichtsurteil noch nicht entschieden, weshalb von einem Obsiegen der Versicherten im kantonalen Verfahren, welches Anspruch auf eine Parteientschädigung begründen würde (Art. 61 lit. g ATSG), nicht die Rede sein konnte. 
 
5. 
Der Eventualantrag auf Rückweisung der Sache zu neuer Abklärung ist unbegründet. Aus den vorstehenden Erwägungen geht hervor, dass die Vorinstanz den massgeblichen Sachverhalt in rechtskonformer Weise umfassend abgeklärt hat. 
 
6. 
Dem Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege ist stattzugeben, da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Die Beschwerdeführerin wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen. Danach hat die Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt. 
 
3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen. 
 
4. 
Rechtsanwalt Philip Stolkin wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Freiburg, Sozialversicherungsgerichtshof, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 8. Juli 2011 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Meyer Widmer