Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
5P.448/2003 /bnm 
 
Urteil vom 16. März 2004 
II. Zivilabteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Raselli, Präsident, 
Bundesrichterin Escher, Ersatzrichter Riemer, 
Gerichtsschreiber Gysel. 
 
Parteien 
Versicherung X.________, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
Y.________, 
Beschwerdegegnerin, 
Obergericht Nidwalden (Zivilabteilung, Kleine Kammer), Dorfplatz 7a, 6370 Stans. 
 
Gegenstand 
Art. 9 und 29 BV (Versicherungsvertrag), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts Nidwalden (Zivilabteilung, Kleine Kammer) vom 31. Oktober 2003. 
 
Sachverhalt: 
A. 
A.a Y.________ schloss gestützt auf ein Antragsformular vom 4. November 1996 mit der zur Gruppe der Versicherung X.________ gehörenden Versicherung Z.________ per 1. November 1996 einen Lebensversicherungsvertrag ab, der ihr Leistungen im Falle einer Erwerbsunfähigkeit zusicherte. Am 13. April 1999 erlitt sie einen Verkehrsunfall, bei dem sie sich Verletzungen im Bereich des Nackens zuzog. Sie war in der Folge zu verschiedenen Graden arbeitsunfähig. 
 
Am 23. März 2001 reichte Y.________ beim Kantonsgericht Nidwalden gegen die Versicherung X.________ (im Folgenden: die Versicherung) Klage auf Leistungen für Erwerbsausfall ein. Die Versicherung erhob Widerklage. 
 
Das Kantonsgericht erkannte am 28. Februar 2002, dass die Klage zur Zeit abgewiesen und die Widerklage gutgeheissen werde; es verpflichtete Y.________, der Versicherung Namen und Adressen der Krankenkassen bekannt zu geben, bei denen sie in den Jahren 1991 bis 1996 versichert war, und sie zu bevollmächtigen, bei diesen Kassen einen Auszug über die während dieser Zeit erbrachten medizinischen Leistungen zu verlangen und bei den betreffenden Ärzten Auskünfte einzuholen. 
 
Eine von Y.________ eingereichte Appellation hiess das Obergericht (Zivilabteilung, Kleine Kammer) mit Urteil vom 3. Oktober 2002 insofern teilweise gut, als es die Widerklage abwies. 
A.b Y.________ erhob eidgenössische Berufung. Die erkennende Abteilung hiess diese mit Urteil vom 12. Mai 2003 (5C.7/2003 = BGE 129 III 510 ff.) gut und wies die Sache zu neuer Entscheidung an die kantonale Instanz zurück. 
B. 
Das Obergericht (Zivilabteilung, Kleine Kammer) entschied am 31. Oktober 2003 von neuem. Es hob das kantonsgerichtliche Urteil vom 28. Februar 2002 vollumfänglich auf, verpflichtete die Versicherung, Y.________ für die Zeit vom 1. Juli 2000 bis zum 28. Februar 2002 Fr. 10'528.-- zuzüglich Zins zu zahlen und wies die Widerklage erneut ab. 
C. 
Die Versicherung hat sowohl staatsrechtliche Beschwerde als auch eidgenössische Berufung erhoben. Mit der Beschwerde verlangt sie, das Urteil des Obergerichts vom 31. Oktober 2003 aufzuheben. 
 
Y.________ beantragt ihrerseits, der angefochtene Entscheid sei in Gutheissung der Beschwerde aufzuheben; die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens seien dem Kanton Nidwalden aufzuerlegen und dieser sei zu verpflichten, den Parteien eine angemessene Entschädigung zu zahlen. 
 
Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung ausdrücklich verzichtet. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Ist ein kantonales Urteil zugleich mit staatsrechtlicher Beschwerde und mit Berufung angefochten, wird in der Regel der Entscheid über letztere ausgesetzt bis zur Erledigung der staatsrechtlichen Beschwerde (Art. 57 Abs. 5 OG). Von dieser Praxis abzuweichen, besteht hier kein Anlass. 
2. 
Im Urteil vom 12. Mai 2003 hatte die erkennende Abteilung festgehalten, dass die Beweislast für eine Anzeigepflichtverletzung dem Versicherer obliege und die versicherte Person in diesem Zusammenhang keine Mitwirkungspflicht treffe. Wenn die Beschwerdegegnerin sich auf das Ersuchen der Beschwerdeführerin vom 14. März 2000, ihr die Krankenkassen zu nennen, bei denen sie von 1991 bis 1996 versichert gewesen sei, passiv verhalten habe, habe sie weder gegen eine klare gesetzliche noch gegen eine vertragliche Mitwirkungspflicht verstossen und keine Auskunftspflicht verletzt. Es könne daher nicht gesagt werden, zufolge Verletzung der Mitwirkungspflicht habe die Forderung der Beschwerdegegnerin nicht fällig werden können und habe die Frist von Art. 6 VVG (für einen Rücktritt des Versicherers vom Vertrag) nicht zu laufen begonnen (E. 4). 
3. 
3.1 Die Beschwerdegegnerin hatte dem Obergericht mit Noveneingabe vom 10. Oktober 2002, d.h. erst nachdem dieses (gleich im Anschluss an die Appellationsverhandlung vom 3. Oktober 2002) sein (erstes) Urteil gefällt hatte, unter Beilage des betreffenden Schreibens der Beschwerdeführerin vom 9. Oktober 2002 mitgeteilt, diese sei im Sinne von Art. 6 VVG vom Vertrag zurückgetreten. Das Obergericht hielt im Entscheid vom 3. Oktober 2002 fest, dass die Eingabe (aus formellen Gründen) nicht mehr berücksichtigt werden könne. 
3.2 Im vorliegend angefochtenen Urteil erklärt das Obergericht, die mit Eingabe vom 10. Oktober 2002 ins Recht gelegte Rücktrittserklärung der Beschwerdeführerin vom 9. Oktober 2002 sei als (materiell) verspätet zu qualifizieren. Es verweist auf die Erwägungen der erkennenden Abteilung, aus denen wohl abzuleiten sei, dass eine Weigerung der versicherten Person, Informationen zur näheren Abklärung von Verdachtsgründen bezüglich einer Anzeigepflichtverletzung zu geben, die rechtsgenügliche Kenntnis des Versicherers vom Vorliegen einer solchen Pflichtverletzung begründe. Die vierwöchige Frist nach Art. 6 VVG zum Rücktritt vom Vertrag sei unter diesen Umständen schon seit Jahren abgelaufen gewesen, habe sich doch die Beschwerdegegnerin schon nach der auf dem Verdacht einer Anzeigepflichtverletzung beruhenden Aufforderung vom 14. März 2000 zur Lieferung einschlägiger Angaben passiv verhalten. 
4. 
4.1 Die Beschwerdeführerin beanstandet, dass das Obergericht auf die Noveneingabe der Beschwerdegegnerin vom 10. Oktober 2002 eingegangen ist und in deren Würdigung festgehalten hat, ihr am 9. Oktober 2002 erklärter Rücktritt vom Versicherungsvertrag sei verspätet und deshalb unwirksam, ohne ihr Gelegenheit gegeben zu haben, sich zur Eingabe zu äussern. Es sei der ihr nach Art. 29 Abs. 2 BV zustehende Anspruch auf rechtliches Gehör missachtet worden. 
4.2 Das rechtliche Gehör im Sinne der genannten Bestimmung dient einerseits der Sachaufklärung und verleiht andererseits dem Betroffenen ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht im Verfahren. Der Betroffene soll in den Punkten, die geeignet sind, den zu erlassenden in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheid zu beeinflussen, sich namentlich zur Sache äussern, erhebliche Beweise beibringen und an der Erhebung von Beweisen mitwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis äussern können (BGE 129 II 497 E. 2.2 S. 504 f. mit Hinweisen; 121 I 225 E. 2a S. 227). 
4.3 In seinem zweiten Entscheid hat das Obergericht die von der Beschwerdegegnerin nach Abschluss des Appellationsverfahrens ins Recht gelegte Eingabe vom 10. Oktober 2002 zum Prozess zugelassen. Es hat der Eingabe zudem insofern eine rechtserhebliche Bedeutung beigemessen, als es der ihr beigelegten Erklärung der Beschwerdeführerin vom 9. Oktober 2002 entgegenhält, die gesetzliche Frist für einen Rücktritt vom Versicherungsvertrag sei im Zeitpunkt der Erklärung längst abgelaufen gewesen, mit andern Worten, die Rücktrittserklärung sei unwirksam. Die Rüge der Gehörsverweigerung ist angesichts dieser Umstände begründet. Das Obergericht hätte der Beschwerdeführerin Gelegenheit geben müssen, sich zu den rechtlichen Auswirkungen der nachträglichen Zulassung der Eingabe vom 10. Oktober 2002 zu äussern. Art. 136 der Nidwaldner Zivilprozessordnung (ZPO) sieht denn auch vor, dass jede Partei nach Schluss des Beweisverfahrens den Prozess in rechtlicher Hinsicht soll erörtern können. 
5. 
Das angefochtene Urteil ist nach dem Gesagten aufzuheben, ohne dass auf die weiteren Rügen der Beschwerdeführerin einzugehen wäre. Indessen rufen gewisse Ausführungen des Obergerichts einer Klarstellung: Im bundesgerichtlichen Urteil vom 12. Mai 2003 war festgehalten worden, dass bezüglich der Aufklärung einer Anzeigepflichtverletzung keine Mitwirkungspflicht der versicherten Person bestehe und dem Versicherer als Sanktionsmöglichkeit auf ein von dieser manifestiertes passives Verhalten einzig der Rücktritt vom Vertrag offen stehe. Entgegen der Ansicht des Obergerichts hatte die erkennende Abteilung sich damit in keiner Hinsicht zum Schicksal der am 10. Oktober 2002 ins Recht gelegten Rücktrittserklärung der Beschwerdeführerin vom 9. Oktober 2002 geäussert. Es ist weder darüber befunden worden, ob das Schreiben im laufenden Verfahren überhaupt noch berücksichtigt werden dürfe oder nicht (was sich nach dem kantonalen Verfahrensrecht bestimmt; vgl. Art. 66 Abs. 1 OG), noch darüber, welches im einen oder im andern Fall die verfahrensmässigen bzw. materiellen Konsequenzen wären. Der Entscheid hierüber ist ausdrücklich der kantonalen Instanz vorbehalten worden (vgl. E. 4, S. 6 unten des Urteils vom 12. Mai 2003). Die Auffassung, es sei einzig noch über die Klageforderung der Beschwerdegegnerin zu befinden, ist daher unzutreffend. 
 
Das Obergericht wird nach Anhörung der Beschwerdeführerin die von ihm offen gelassenen Punkte mithin (neu) zu beurteilen haben. Ebenfalls wird die von beiden Parteien aufgeworfene Frage der Parteibezeichnung auf Seiten der Versicherung, d.h. der Passivlegitimation, zu klären sein. Vorgängig wird das Obergericht ferner noch zu prüfen haben, ob den Parteien, wie von der Beschwerdeführerin geltend gemacht, ein Anspruch auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung zustehe. 
6. 
Die Gerichtsgebühr wird in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt (Art. 156 Abs. 1 OG). Eine solche ist hier nicht vorhanden, zumal auch die Beschwerdegegnerin die Aufhebung des angefochtenen Entscheids beantragt hat. Dem Kanton, gegen dessen Verfügung in einer nicht seine eigenen Vermögensinteressen betreffenden Angelegenheit Beschwerde geführt wird, dürfen grundsätzlich keine Gerichtskosten auferlegt werden (Art. 156 Abs. 2 OG). Hingegen ist der Kanton Nidwalden zu verpflichten, die Beschwerdeführerin für ihre Umtriebe im bundesgerichtlichen Verfahren zu entschädigen (vgl. Art. 159 Abs. 2 OG). Der Beschwerdegegnerin - die sich darauf hätte beschränken können, sich dem Rechtsbegehren der Beschwerdeführerin anzuschliessen - ist mit ihrer kurzen Eingabe kein (notwendiger) Aufwand erwachsen, der eine Entschädigung zu rechtfertigen vermöchte. 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Obergerichts Nidwalden (Zivilabteilung, Kleine Kammer) vom 31. Oktober 2003 aufgehoben. 
2. 
Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben. 
3. 
Der Kanton Nidwalden wird verpflichtet, die Beschwerdeführerin für ihre Umtriebe im bundesgerichtlichen Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht Nidwalden (Zivilabteilung, Kleine Kammer) schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 16. März 2004 
Im Namen der II. Zivilabteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: