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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
8C_317/2019  
 
 
Urteil vom 30. September 2019  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterin Viscione, Bundesrichter Abrecht, 
Gerichtsschreiberin Betschart. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Fürsprecher Dr. Urs Oswald, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 22. März 2019 (VBE.2018.466). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________, geb. 1977, war zuletzt als Fabrikmitarbeiterin tätig. Am 7. März 2014 meldete sie sich unter Hinweis auf gynäkologische Leiden und eine Schmerzproblematik bei der Eidgenössischen Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau lehnte das Leistungsbegehren mit Verfügung vom 12. Februar 2015 ab. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 13. August teilweise gut, hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache zu weiterer Abklärung und neuer Verfügung an die IV-Stelle zurück. 
Die IV-Stelle liess A.________ daraufhin bei der Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH, Basel (ABI), polydisziplinär (allgemein-internistisch, psychiatrisch, orthopädisch und gynäkologisch) begutachten (Gutachten vom 20. April 2017). Mit Verfügung vom 15. Mai 2018 lehnte sie das Leistungsbegehren (wie vorbeschieden) erneut ab. 
 
B.   
Mit Entscheid vom 22. März 2019 wies das Versicherungsgericht die dagegen erhobene Beschwerde ab. 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei die Sache zur Einholung eines weiteren Gutachtens an die Vorinstanz zurückzuweisen und es sei ihr in Aufhebung der Verfügung der IV-Stelle vom 15. Mai 2018 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zuzusprechen. Zudem ersucht A.________ um unentgeltliche Rechtspflege. 
Die IV-Stelle beantragt Beschwerdeabweisung. Das Versicherungsgericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).  
 
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann eine - für den Ausgang des Verfahrens entscheidende (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) - Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.  
 
2.1. Mangels Begründung ist auf den Antrag auf Zusprechung einer ganzen Rente der Invalidenversicherung nicht einzutreten (vgl. Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG und vorne E. 1.1).  
 
2.2. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die Abweisung des Leistungsgesuchs schützte.  
 
2.3. Das kantonale Gericht legte die massgebenden Rechtsgrundlagen zutreffend dar: Dies betrifft namentlich die Ausführungen zu den Voraussetzungen des Rentenanspruchs (Art. 6 ATSG, Art. 4 IVG i.V.m. Art. 7 f. ATSG, Art. 28 Abs. 1 IVG) sowie zum Beweiswert medizinischer Berichte (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352), insbesondere von im Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholten Gutachten von externen Spezialärzten (BGE 135 V 465 E. 4.4; 125 V 351 E. 3b S. 352). Darauf wird verwiesen.  
Zu betonen ist, dass versicherungsexternen medizinischen Beurteilungen, die nach Art. 44 ATSG im Verwaltungsverfahren eingeholt wurden, bei überzeugendem Beweisergebnis volle Beweiskraft zuzuerkennen ist, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen (vgl. BGE 137 V 210 E. 1.3.4 S. 227; 125 V 351 E. 3b/bb S. 353). Insbesondere lässt es die unterschiedliche Natur von Behandlungsauftrag der therapeutisch tätigen (Fach-) Person einerseits und Begutachtungsauftrag des amtlich bestellten fachmedizinischen Experten andererseits (BGE 124 I 170 E. 4 S. 175) nicht zu, ein Administrativ- oder Gerichtsgutachten stets in Frage zu stellen und zum Anlass weiterer Abklärungen zu nehmen, wenn die behandelnden Arztpersonen beziehungsweise Therapiekräfte zu anderslautenden Einschätzungen gelangen. Vorbehalten bleiben Fälle, in denen sich eine abweichende Beurteilung aufdrängt, weil diese wichtige - und nicht rein subjektiver Interpretation entspringende - Aspekte benennen, die bei der Begutachtung unerkannt oder ungewürdigt geblieben sind (Urteil 8C_379/2019 vom 22. August 2019 E. 2.2 mit Hinweis). 
 
3.   
 
3.1. Die Vorinstanz stützte sich im Wesentlichen auf das polydisziplinäre Gutachten der ABI vom 20. April 2017, dem sie Beweiskraft zusprach. Auch erweise sich der medizinische Sachverhalt als vollständig abgeklärt, so dass in antizipierter Beweiswürdigung auf die beantragten Beweiserhebungen zu verzichten sei.  
 
3.2. Die Gutachter stellten keine Diagnosen mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Ohne Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit diagnostizierten sie eine Schmerzverarbeitungsstörung (ICD-10 F54) bei chronischem unspezifischem multilokulärem Schmerzsyndrom (ICD-10 R52.9) und chronischen Unterbauchschmerzen seit Kindheit, azyklisch (ICD-10 R10.3), eine ängstlich depressive Störung (ICD-10 F41.2), ein chronisches panvertebrales Schmerzsyndrom ohne fassbare radikuläre Symptomatik (ICD-10 M54.80) sowie eine Endometriose (ICD-10 N80.3) bei Status nach laparoskopischer Hysterektomie 2013 mit Nachweis mehrerer peritonealer Endometrioseherde ohne Tiefeninfiltration Beckenwand rechts und Douglas sowie Status nach diagnostisch-therapeutischer Laparoskopie 2010 mit Entfernung einer Paraovarialzyste links, kein Nachweis weiterer Pathologien im kleinen Becken (insb. keine Adhäsionen, keine Endometriose) und Hysteroskopie/Curettage bei Menometrorrhagie am KSA (ICD-10 Q50). Sie attestierten der Beschwerdeführerin aus polydisziplinärer Sicht für eine körperlich leichte bis zumindest mittelschwere wechselbelastende Tätigkeit, wie sie sie früher auch ausgeübt habe, eine 100%ige Arbeits- und Leistungsfähigkeit.  
 
4.  
 
4.1. Die Beschwerdeführerin verweist im Wesentlichen auf die E-Mail der behandelnden Ärztin Dr. med. B.________, Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe FMH, Spital D.________, vom 9. April 2018. Dr. med. B.________ gehe von einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10 F45.41) aus, wobei die schon früh aufgetretenen Schmerzen ursprünglich auf eine somatische Ursache, nämlich eine Fehlbildung der Gebärmutter zurückzuführen seien. Dies habe zu einer Schmerzchronifizierung geführt. Damit liege für Dr. med. B.________ eine Schmerzkrankheit mit einer ursprünglich somatischen Ursache vor, bei der im Verlauf aber auch psychische Faktoren dazugekommen seien. Nach der Beschwerdeführerin habe die gynäkologische Gutachterin der ABI, Dr. med. C.________, Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe FMH, demgegenüber eine gynäkologische Ursache für die Beschwerden verneint. Entgegen der Vorinstanz handle es sich somit nicht um zwei unterschiedliche Beurteilungen desselben Sachverhalts, sondern um zwei verschiedene Sachverhalte.  
 
4.2.  
 
4.2.1. Die gynäkologische Gutachterin stellte fest, dass sich in der Laparoskopie im Jahr 2010 ein unauffälliger situs intraabdominal gezeigt habe, ebenso habe sich in der Hysterektomie (2013) intraoperativ kein Korrelat für die Schmerzen gezeigt. Auch hätten die Operationen zu keiner Verbesserung der Beschwerden geführt. Deswegen könne aktuell keine gynäkologische Ursache für die chronifizierten Schmerzen angegeben werden. Mithin schloss die Expertin nur eine aktuelle, nicht aber eine ursprüngliche organische Ursache aus. Denn zum einen war ihr die Fehlbildung aufgrund der Akten bekannt. Zum andern hielt sie ebenfalls fest, dass das schwere chronifizierte Schmerzproblem bereits in der Kindheit der Explorandin begonnen habe. Sie führte allerdings weiter aus, es sei anzunehmen, dass aufgrund der langen Chronifizierung eine übersteigerte Schmerzwahrnehmung entsprechend verstärkter Schmerzrezeption vorliege. Dafür spreche auch die Tatsache, dass die Berührung irgendeiner Körperstelle von der Beschwerdeführerin als Schmerz wahrgenommen werde. Angesichts dieser Erläuterungen ist der Schluss der Vorinstanz, es liege lediglich eine abweichende Einschätzung desselben medizinischen Sachverhalts vor, nicht zu beanstanden.  
 
4.2.2. Mit der Vorinstanz ist zudem festzuhalten, dass Dr. med. B.________ nicht über einen Facharzttitel für Psychiatrie und Psychotherapie verfügt und ihre Argumente die Einschätzungen des psychiatrischen Gutachters mithin nicht in Zweifel zu ziehen vermögen. Mit den Ausführungen des psychiatrischen Gutachters, der eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Elementen verneinte, setzt sich die Beschwerdeführerin ebensowenig auseinander wie mit den Schlussfolgerungen des orthopädischen Sachverständigen, wonach die völlig diffus sämtliche Abschnitte des Bewegungsapparats umfassenden Beschwerden durch die klinischen und radiologischen Befunde in keiner Weise nachvollzogen werden könnten. Somit erübrigen sich Weiterungen dazu.  
 
4.2.3. In die vorinstanzliche Beweiswürdigung floss sodann auch die Erfahrungstatsache ein, dass behandelnde Ärzte (seien dies Hausärzte oder spezialärztlich behandelnde Medizinalpersonen) im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen mitunter eher zugunsten ihrer Patienten aussagen (Urteile 8C_420/2018 vom 13. März 2019 E. 6.5; 8C_609/2017 vom 27. März 2018 E. 4.3.3; je mit Hinweisen). Das kantonale Gericht stellte jedoch nicht einzig darauf ab. Vielmehr setzte es sich einlässlich mit den Argumenten der behandelnden Gynäkologin auseinander und legte nachvollziehbar dar, weshalb es darin keine neuen oder bislang unberücksichtigten Befunde erkennen konnte. Ob Dr. med. B.________, wie die Beschwerdeführerin geltend macht, keine finanziellen oder anderweitigen Interessen hat, die Beschwerdeführerin weiterhin zu behandeln, ist daher nicht relevant und nicht weiter zu prüfen.  
 
4.3. Das kantonale Gericht stellte den Sachverhalt somit nicht offensichtlich unrichtig oder unvollständig fest, als es erkannte, dass sich aus der E-Mail der Dr. med. B.________ vom 9. April 2018 keine neuen oder unberücksichtigten Aspekte oder Befunde ergeben, so dass auf weitere Beweiserhebungen verzichtet werden könne. Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.  
 
5.   
Ausgangsgemäss wird die Beschwerdeführerin grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die Beschwerdeführerin der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. Fürsprecher Dr. iur. Urs Oswald wird als unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indessen einstweilen auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 30. September 2019 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Betschart