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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6B_538/2009 
 
Urteil vom 4. November 2009 
Strafrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Schneider, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Wiprächtiger, Mathys, 
Gerichtsschreiber Keller. 
 
Parteien 
A.X._________, 
handelnd durch B.X._________ und C.X.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
A._________, vertreten durch Rechtsanwalt Mauro Lardi, 
Beschwerdegegner, 
Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden, 7001 Chur, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Tätlichkeit, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts von Graubünden, II. Strafkammer, vom 29. April 2009. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Am 26. November 2008 stellten die Eltern von A.X._________ in dessen Namen Strafantrag beim Untersuchungsrichteramt Chur gegen seinen damaligen Lehrer A._________ wegen Tätlichkeiten. 
 
B. 
Am 19. Januar 2009 überwies die Staatsanwaltschaft Graubünden die Sache zur Strafverfolgung an den Kreispräsidenten Chur. Mit Verfügung vom 11. Februar 2009 stellte dieser das Strafverfahren gegen A._________ ein. Die gegen die Einstellungsverfügung erhobene Beschwerde von A.X._________ wies das Kantonsgericht Graubünden am 29. April 2009 ab. 
 
C. 
A.X._________ führt Beschwerde in Strafsachen vor Bundesgericht. Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung zurückzuweisen, verbunden mit der Anweisung, auf die Beschwerde einzutreten und ihr Folge zu leisten. Eventualiter sei A._________ vom Bundesgericht wegen Tätlichkeiten im Sinne von Art. 126 StGB schuldig zu sprechen und zu bestrafen. 
 
D. 
Vernehmlassungen wurden keine eingeholt. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Die Vorinstanz geht von folgendem Sachverhalt aus: 
Am 24. November 2008 kam es unmittelbar nach Unterrichtsbeginn in einer "Time-Out-Klasse" zu ersten Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Beschwerdeführer und dem Beschwerdegegner. Der Beschwerdegegner hatte als pensionierter Reallehrer an diesem Tag eine vierwöchige Lehrerstellvertretung in dieser Klasse begonnen. Der Beschwerdeführer störte verschiedentlich den Unterricht, indem er dazwischen redete, Grimassen schnitt oder mit seinem Feuerzeug herumzündelte. Nach der "Znüni-Pause" stand der Beschwerdegegner mit einem Schüler am Lavabo im Schulzimmer. Der Beschwerdeführer verspürte plötzlich Durst und drängte sich vor, obwohl ihm der Beschwerdegegner befohlen hatte zu warten, bis das Lavabo frei sei. Daraufhin entschloss sich der Beschwerdegegner, den Beschwerdeführer nach Hause zu schicken. Da sich dieser weigerte, packte ihn der Beschwerdegegner am linken Oberarm, um ihn aus dem Schulzimmer zu führen. Hierbei rutschte er mit seiner Hand von der Kleidung des Beschwerdeführers ab und geriet über dessen linke Schulter an die Hals-/Nackenpartie. Der vom Beschwerdeführer dreieinhalb Stunden nach dem Vorfall aufgesuchte Hausarzt stellte auf der linken Seite des Halses zwei ovale Rötungen fest, die vom Druck zweier Fingerkuppen stammen könnten. An der rechtsseitigen Halspartie fand er keine Spuren und schloss "eigentliche Würgemale" explizit aus. 
 
1.2 Die Vorinstanz gelangt zum Schluss, dass sowohl hinsichtlich des objektiven wie des subjektiven Tatbestands keine ausreichenden Anhaltspunkte für ein strafbares Verhalten des Beschwerdegegners gegeben seien und bestätigt den erstinstanzlichen Einstellungsbeschluss. 
 
2. 
2.1 Gemäss Art. 81 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde in Strafsachen berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten (lit. a) und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (lit. b). Da der Strafanspruch dem Staat zusteht, kommt dem Beschwerdeführer (soweit er blosser Geschädigter ist) kein rechtlich geschütztes Interesse im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG zu, die Einstellung des Strafverfahrens in der Sache anzufechten (BGE 133 IV 228 E. 2). 
 
2.2 Ein Beschwerderecht steht dem Opfer zu, wenn der angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung seiner Zivilansprüche auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG). Opfer ist jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Art. 2 Abs. 1 OHG). Die Beeinträchtigung muss von einem gewissen Gewicht sein. Bagatelldelikte wie zum Beispiel Tätlichkeiten, die nur unerhebliche Beeinträchtigungen bewirken, sind vom Anwendungsbereich des Opferhilfegesetzes grundsätzlich ausgenommen. Entscheidend für die Opferstellung ist allerdings nicht die Schwere der Straftat, sondern der Grad der Betroffenheit der geschädigten Person (zum Ganzen BGE 125 II 265 E. 2a/aa und 2e/bb mit Hinweisen). 
 
2.3 Ob der Beschwerdeführer aufgrund der Handlung des Beschwerdegegners den für eine Opferstellung notwendigen Grad der Betroffenheit erreicht, kann vorliegend offenbleiben, da sich der angefochtene Entscheid nicht auf seine Zivilansprüche im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG auswirken kann, wie nachfolgend zu zeigen ist. 
 
3. 
3.1 Zivilansprüche im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG und des OHG sind solche, die ihren Grund im Zivilrecht haben und deshalb ordentlicherweise vor dem Zivilgericht durchgesetzt werden müssen. Keine derartigen Zivilansprüche sind demgegenüber Forderungen, die sich aus dem öffentlichen Recht ergeben (vgl. BGE 128 IV 188 E. 2; 127 IV 189 E. 2b; 125 IV 161 E. 2 und 3 je mit Hinweisen). 
Der Kanton Graubünden hat gestützt auf den Vorbehalt in Art. 61 Abs. 1 OR das Gesetz über die Staatshaftung (SHG; BR 170.050) erlassen. Danach haftet das Gemeinwesen für den Schaden, der Dritten durch ihre Organe und in ihrem Dienst stehenden Personen bei der Ausübung dienstlicher Tätigkeiten widerrechtlich zugefügt wird (Art. 3 SHG). Dem Staatshaftungsgesetz unterstehen die Gemeinwesen des Kantons Graubünden, deren Organe sowie die im Dienste dieser Gemeinwesen stehenden Personen bei der Ausübung dienstlicher Tätigkeiten (Art. 1 Abs. 1 SHG). Dazu gehören auch die Lehrpersonen (Art. 2 i.V.m. Art. 34 des Gesetzes für die Volksschulen des Kantons Graubünden ([Schulgesetz] RB 421.000). Ansprüche nach dem Staatshaftungsgesetz beurteilt das Verwaltungsgericht im Klageverfahren (Art. 6 Abs. 1 SHG). Das direkte Klagerecht des geschädigten Dritten gegen die fehlbaren Organe und Personen ist ausgeschlossen (Art. 10 SHG). Diese sind für den Schaden, den sie bei Ausübung dienstlicher Tätigkeiten durch vorsätzliche oder grobfahrlässige Verletzung ihrer Dienstpflicht widerrechtlich verursachen, ausschliesslich gegenüber dem Gemeinwesen verantwortlich (Art. 11 SHG). 
 
3.2 Der Beschwerdeführer hat somit keine Möglichkeit, zivilrechtlich direkt gegen den Beschwerdegegner vorzugehen. Soweit er gegebenenfalls einen Anspruch hat, gründet dieser im öffentlichen Recht und richtet sich allein gegen das Gemeinwesen. Zivilrechtsansprüche, die er adhäsionsweise im Strafverfahren gegen den Beschwerdegegner geltend machen könnte, stehen ihm keine zu, weshalb er zur Beschwerde in Strafsachen in der Sache selbst nicht legitimiert ist. Auf die Beschwerde ist insoweit nicht einzutreten. 
 
4. 
4.1 Unabhängig von der fehlenden Legitimation in der Sache kann der Geschädigte die Verletzung von Verfahrensrechten geltend machen, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt. Das nach Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG erforderliche rechtlich geschützte Interesse ergibt sich diesfalls nicht aus einer Berechtigung in der Sache, sondern aus der Berechtigung, am Verfahren teilzunehmen. Ist der Beschwerdeführer in diesem Sinne nach kantonalem Recht Partei, kann er die Verletzung jener Parteirechte rügen, die ihm nach dem kantonalen Verfahrensrecht, der Bundesverfassung oder der EMRK zustehen und deren Missachtung auf eine formelle Rechtsverweigerung hinausläuft ("Star-Praxis"; BGE 133 I 185 E. 6.2 mit Verweis auf BGE 114 Ia 307 E. 3c). Nicht zu hören sind dabei allerdings Rügen, die im Ergebnis auf eine materielle Überprüfung des angefochtenen Entscheides abzielen. Ein in der Sache nicht legitimierter Beschwerdeführer kann deshalb weder die Beweiswürdigung kritisieren noch geltend machen, die Begründung sei materiell unzutreffend (Urteil des Bundesgerichts 6B_627/2007 vom 11. August 2008 E. 2.2.6 mit Hinweisen). 
 
4.2 Das Bundesgericht wendet das Recht grundsätzlich von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Eine Ausnahme besteht, wenn unter anderem die Verletzung von Grundrechten geltend gemacht wird. Diese Vorbringen prüft das Bundesgericht nicht von Amtes wegen, sondern nur insoweit, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG). Die Beschwerdeschrift muss die wesentlichen Tatsachen und eine kurz gefasste Darlegung darüber enthalten, welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze inwiefern durch den angefochtenen Erlass oder Entscheid verletzt worden sind. Das Bundesgericht prüft nur klar und detailliert erhobene und, soweit möglich, belegte Rügen. Auf rein appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt es nicht ein (BGE 134 II 244 E. 2.2 mit Hinweisen). 
 
4.3 Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung verschiedener Bestimmungen der Bundesverfassung, der EMRK sowie der UNO-Kinderrechtskonvention geltend, so die Verletzung der Menschenwürde (Art. 7 BV), der Rechtsgleichheit (Art. 8 BV), des Willkürverbots (Art. 9 BV), der persönlichen Freiheit (Art. 10 BV), die Verletzung des Schutzes der Kinder und Jugendlichen (Art. 11 BV) sowie des rechtlichen Gehörs (Art. 29 BV) (Beschwerde, S. 4 f.). 
 
4.4 Der Beschwerdeführer weist lediglich darauf hin, dass der vorinstanzliche Nichteintretensentscheid nicht gerechtfertigt sei, weil er ihm die in Art. 126 StGB eingeräumte strafrechtliche Sanktionsmöglichkeit bzw. den Schutz in Form eines Strafanspruchs gegenüber dem Täter verweigere (Beschwerde, S. 5). Es ist nicht ersichtlich und wird vom Beschwerdeführer auch nicht hinreichend substantiiert, inwiefern diese Verfassungsbestimmungen verletzt sein sollen. Auf die Beschwerde ist insoweit nicht einzutreten. 
 
5. 
5.1 Der Beschwerdeführer rügt weiter eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (Kinderrechtskonvention [KRK], SR 0.107) [Berücksichtigung des Kindeswohls] und Art. 12 KRK (Kindesanhörung). Das Bundesgericht hat die direkte Anwendbarkeit (self-executing-Charakter) einzelner Bestimmungen der Kinderrechtskonvention zwar bejaht, so auch in Bezug auf Art. 12 KRK (hierzu ausführlich BGE 124 III 90 E. 3a mit Hinweisen). Ob dies auch mit Blick auf Art. 3 KRK der Fall ist, kann vorliegend offenbleiben, da der Beschwerdeführer aus beiden Bestimmungen nichts zu seinen Gunsten ableiten kann. 
 
5.2 Der Beschwerdeführer schliesst aus Art. 12 KRK zu Unrecht, dass er in jedem Verfahrensstadium von neuem unmittelbar angehört werden muss. Nach der bundesgerichtlichen Praxis muss die Anhörung nicht notwendigerweise in jedem Fall mündlich erfolgen, sondern es kann genügen, wenn der Standpunkt des Kindes sonstwie in tauglicher Weise, zum Beispiel durch eine Eingabe seines Vertreters, Eingang in das Verfahren gefunden hat (Urteil 2C_19/2008 vom 18. Juni 2008 E. 3.3 mit Verweis auf BGE 124 II 361 E. 3c). 
Der Beschwerdeführer wurde im vorliegenden Verfahren am 8. Dezember 2008 von der Kantonspolizei Graubünden befragt (act. 4 der Vorakten) und konnte sich hierbei frei äussern. Zudem konnte er als Verfahrenspartei die ihm zustehenden Parteirechte ausüben. Die den Beschwerdeführer vertretenden Eltern hatten es in der Hand, in ihren Eingaben auch seinen Standpunkt und seine Interessen darzulegen. Einer zusätzlichen persönlichen Anhörung bedurfte es hiefür nicht. Die Beschwerde ist daher in diesem Punkt abzuweisen. 
 
5.3 Hinsichtlich der Verletzung von Art. 3 Abs. 1 KRK erwähnt der Beschwerdeführer lediglich, dass es zu seinem Schutz und zum Schutz aller Kinder wichtig sei, dass körperliche Misshandlungen von Kindern verhindert oder zumindest geahndet würden. Er unterlässt es, näher darzulegen, aus welchen Gründen die Vorinstanz diese Bestimmung verletzt haben soll. Zudem zielt die Rüge der Verletzung von Art. 3 Abs. 1 KRK im Ergebnis auf eine materielle Überprüfung des angefochtenen Entscheides ab, weshalb diese auch aus diesem Grund nicht zu hören ist (vgl. oben E. 4.1). Auf die Beschwerde ist in diesem Punkt nicht einzutreten. 
 
6. 
6.1 Der Beschwerdeführer macht weiter eine Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot von Folter) geltend. Der angefochtene Entscheid verwehre die strafrechtliche Verfolgung einer unmenschlichen, erniedrigenden Behandlung durch das Würgen des Beschwerdegegners. 
 
6.2 Die Rüge der Verletzung von Art. 3 EMRK zielt auf eine materielle Überprüfung des angefochtenen Entscheides ab, weshalb diese nicht zu hören ist. Auf die Beschwerde ist in diesem Punkt daher nicht einzutreten. 
 
6.3 Der Beschwerdeführer rügt schliesslich die Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde). Diese Bestimmung sei verletzt, indem die Vorinstanz auf das Begehren um Bestrafung des Beschwerdegegners nicht eingetreten, die beantragten Beweismittel nicht zugelassen und eine Strafuntersuchung verunmöglicht habe. 
 
6.4 Nach Art. 13 EMRK hat, wer sich in den durch die Konvention garantierten Rechten und Freiheiten für beeinträchtigt hält, Anspruch darauf, bei einer nationalen Instanz eine wirksame Beschwerde einlegen zu können. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern diese Bestimmung verletzt worden sein soll, hat sich doch die Vorinstanz ausführlich mit den Vorbringen des Beschwerdeführers befasst. Eine Konventionsverletzung kann nicht bereits darin erblickt werden, dass die zuständige Behörde aus prozessrechtlichen Gründen auf gewisse Begehren und Anträge nicht eintritt, wie dies im vorliegenden Verfahren offenbar geschehen ist. Die Beschwerde ist in diesem Punkt abzuweisen. 
 
7. 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten des Verfahrens (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht von Graubünden, II. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 4. November 2009 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber: 
 
Schneider Keller