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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.235/2003 /bie 
 
Urteil vom 30. Juni 2003 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, Bundesrichter Féraud, 
Gerichtsschreiberin Gerber. 
 
Parteien 
A. und B.X.________, Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Kurt Zwyssig, Brisenstrasse 9, 6370 Stans, 
 
gegen 
 
Politische Gemeinde Hergiswil, 6052 Hergiswil NW, Beschwerdegegnerin, vertreten durch den Gemeinderat, dieser vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Beat Zelger, Alter Postplatz 6, 6370 Stans, 
Regierungsrat des Kantons Nidwalden, 
vertreten durch den Kantonalen Rechtsdienst, Regierungsgebäude, 6371 Stans, 
Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden, Verwaltungsabteilung, Rathausplatz 1, 6371 Stans. 
 
Gegenstand 
Art. 9, Art. 26 und 29 Abs. 2 BV (Enteignung), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Nidwalden, Verwaltungsabteilung, vom 29. April 2002. 
 
Sachverhalt: 
A. 
A. und B.X.________ sind Eigentümer der Parzelle Nr. 1'040, Grundbuch Hergiswil. Über diese Parzelle verläuft die Sonnhaldenstrasse, eine öffentliche Strasse privater Eigentümer. 
B. 
Am 25. November 1983 stimmte die Gemeindeversammlung Hergiswil auf Antrag der Anstösser der vollständigen Übernahme der Sonnhaldenstrasse als Gemeindestrasse in das Eigentum der Politischen Gemeinde Hergiswil zu und bevollmächtigte den Gemeinderat zum Abschluss der entsprechenden Strassenübernahmeverträge. Nach langwierigen Verhandlungen schloss der Gemeinderat 1997 mit 51 Grundeigentümern Schenkungsverträge ab. 
C. 
Am 29. Juni 2001 ersuchte der Gemeinderat Hergiswil den Regierungsrat Nidwalden um Erlass eines Enteignungsbeschlusses gegen die Eigentümer der drei verbleibenden Strassenparzellen, darunter auch A. und B.X.________. Mit Beschluss vom 11. Dezember 2001 verpflichtete der Regierungsrat die betroffenen Grundeigentümer, die massgebenden Teile der Parzellen Nrn. 230, 278 und 1'040, Grundbuch Hergiswil, gemäss Enteignungsplan vom 27. Juni 2001, an die Politische Gemeinde Hergiswil abzutreten (Beschluss Nr. 1007). Gleichzeitig wies er die Einsprache der Eheleute X.________ ab, soweit darauf eingetreten wurde, und überwies die Eingabe an die Enteignungskommission zur Festlegung der Entschädigung (Beschluss Nr. 1009). 
D. 
Gegen den Beschluss Nr. 1009 erhoben A. und B.X.________ Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden. Dieses wies die Beschwerde am 29. April 2002 ab. 
E. 
Hiergegen erhoben A. und B.X.________ am 15. April 2003 staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht. Sie beantragen, das angefochtene Urteil sei vollumfänglich aufzuheben. Der Gemeinderat Hergiswil beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Das Verwaltungsgericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Der Regierungsrat hat sich nicht vernehmen lassen. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid, der sich auf die Nidwalder Gesetze vom 27. April 1975 über die Enteignung (Enteignungsgesetz; EntG) und vom 24. April 1966 über den Bau und Unterhalt der Strassen (Strassengesetz; StrG) und damit auf kantonales Recht stützt. Hiergegen steht die staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte offen (Art. 84 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 OG). Die Beschwerdeführer rügen die Verletzung der Eigentumsgarantie (Art. 26 BV), des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) und des Willkürverbots (Art. 9 BV). Hierzu sind sie als Eigentümer der Parzelle, die teilweise enteignet werden soll, legitimiert (Art. 88 OG). Auf die rechtzeitig erhobene staatsrechtliche Beschwerde ist daher einzutreten. 
2. 
Zunächst rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung des rechtlichen Gehörs: Das Verwaltungsgericht habe sich zur Begründung des öffentlichen Interesses auf ein neues Argument gestützt, nämlich auf das öffentliche Interesse an der Erschliessung des derzeit eingezonten Baulands über die Sonnhaldenstrasse. Dieses Argument sei weder im regierungsrätlichen noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren geltend gemacht worden, weshalb die Beschwerdeführer dazu nicht hätten Stellung nehmen können. 
 
Dieser Vorwurf trifft nicht zu: Der Gemeinderat Hergiswil hat schon in seinem Gesuch um Erlass eines Enteignungsbeschlusses vom 29. Juni 2001 darauf hingewiesen, dass das derzeit eingezonte Bauland nur über die Sonnhaldenstrasse erschlossen werden könne, und ein öffentliches Interesse an der zeitgerechten Erschliessung der Bauzone bestehe. Die Beschwerdeführer hatten daher Gelegenheit, sich zu diesem Argument vor Regierungsrat und Verwaltungsgericht zu äussern. 
3. 
Materiell machen die Beschwerdeführer geltend, die Voraussetzungen für eine Enteignung lägen nicht vor: Es fehle eine gesetzliche Grundlage für die Enteignung (Art. 36 Abs. 1 BV); diese liege nicht im öffentlichen Interesse und sei unverhältnismässig (Art. 36 Abs. 2 und 3 BV). Diese Fragen prüft das Bundesgericht frei. Dies gilt auch für die Auslegung und Anwendung des kantonalen Gesetzesrechts, weil es sich bei der formellen Enteignung, d.h. dem zwangsweisen Entzug von Grundeigentum, um einen schweren Eingriff in die Eigentumsgarantie handelt (BGE 108 Ia 33 E. 3a S. 35). 
3.1 Gemäss Art. 5 Abs. 1 EntG ist die Enteignung zulässig für Werke, die im öffentlichen Interesse liegen und einen Zweck verfolgen, der durch ein kantonales Gesetz anerkannt wird; sie kann nur geltend gemacht werden, soweit sie zur Erreichung des Zweckes nötig ist. Art. 9 Abs. 1 StrG sieht vor, dass die Gemeindeversammlung öffentliche Strassen privater Eigentümer und Privatstrassen in das Eigentum der Gemeinde überführen kann, durch freie Vereinbarung zwischen der Gemeinde und dem Träger der Strassenbaulast (Ziff. 1) oder durch Enteignung, sofern hiefür die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Ziff. 2). Voraussetzung ist, dass die zu übernehmende Strasse die Merkmale einer Gemeindestrasse i.S.v. Art. 8 StrG erfüllt. Danach sind Gemeindestrassen: 
"Strassen, die dem allgemeinen Verkehr innerhalb einer Ortschaft dienen oder die Verbindung zwischen Quartieren oder Weilern unter sich, mit einer Nachbargemeinde oder einer Kantonsstrasse herstellen". 
3.1.1 Die Sonnhaldenstrasse entspringt einer Gemeindestrasse, der Sonnbergstrasse, und endet mit zwei Strassenästen, die jeweils Sackgassen sind. Die Sonnenbergstrasse ihrerseits mündet in die Kantonsstrasse (Seestrasse). Das Verwaltungsgericht ging, wie schon der Regierungsrat, davon aus, dass die Sonnhaldenstrasse den Charakter einer Gemeindestrasse habe: Sie erschliesse ein ganzes Quartier von über 50 Grundstücken im nordwestlichen Ortsteil von Hergiswil; als einzige Strasse in diesem Quartier diene sie dem allgemeinen Verkehr innerhalb dieses Ortsteils (Sonnhalden- und Sonnenberg-Quartier) und verbinde ihn mit der Kantonsstrasse und damit auch mit dem Dorfkern der Gemeinde Hergiswil. Unerheblich sei, dass die Sonnhaldenstrasse nicht unmittelbar in die Kantonsstrasse münde, sondern der Anschluss indirekt, über die Sonnenbergstrasse erfolge. 
3.1.2 Die Beschwerdeführer machen geltend, dass ihre Parzelle an der östlichen Seite der unteren, östlichen Sackgasse liege; dieser Teil der Sonnhaldenstrasse diene nicht dem allgemeinen Verkehr, sondern nur dem Verkehr der privaten Anlieger, und erfülle die Voraussetzungen einer Gemeindestrasse nicht. Damit wenden sich die Beschwerdeführer nicht mehr gegen die Qualifikation der Sonnhaldenstrasse an sich als Gemeindestrasse, sondern nur noch gegen die Miterfassung der östlichen Sackgasse, an der sich ihre Parzelle befindet. 
3.1.3 Es ist offensichtlich, dass eine Strasse wie die Sonnhaldenstrasse, die nur auf einer Seite, im Südosten, Anschluss an das allgemeine Strassennetz hat, und auf der anderen Seite in zwei Sackgassen mündet, nicht überall gleichermassen dem allgemeinen Verkehr dient: Während die Endabschnitte beider Sackgassen in erster Linie von den unmittelbaren Anliegern benutzt werden, nimmt der Allgemeinverkehr zu, je mehr man sich dem südöstlichen Anschluss an die Sonnenbergstrasse nähert. Bei der Frage, ob eine Strasse als Einheit zu betrachten oder, je nach ihrer Funktion, in einzelne Abschnitte aufzuteilen ist, steht dem zuständigen Gemeinwesen ein beträchtlicher Ermessensspielraum zu. Der Entscheid der Gemeinde, die gesamte Strasse als Einheit zu betrachten, einschliesslich der beiden Sackgassen, erscheint durchaus sachgerecht: Bei den Sackgassen handelt es sich um relativ lange Strassenabschnitte, die - entgegen der Behauptung der Beschwerdeführer - nicht nur wenige Parzellen, sondern das gesamte obere Sonnhalden-Quartier erschliessen. Diese einheitliche Betrachtungsweise lag bereits dem Gemeindeversammlungsbeschluss vom 25. November 1983 zu Grunde, der von den Beschwerdeführern nicht angefochten worden ist. 
3.1.4 Betrachtet man die Sonnhaldenstrasse als Einheit, so erfüllt sie insgesamt die Voraussetzungen einer Gemeindestrasse i.S.v. Art. 8 Abs. 1 StrG. Insoweit kann auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts verwiesen werden. Dann aber sind die Voraussetzungen für die Enteignung der Strassenparzelle gemäss Art. 9 Abs. 1 Ziff. 2 StrG i.V.m. Art. 5 EntG gegeben. 
3.2 Das Verwaltungsgericht leitete das öffentliche Interesse an der Enteignung aus dem Gemeindeversammlungsbeschluss vom 25. November 1983 ab, mit dem der vollständigen Übernahme der Sonnhaldenstrasse als Gemeindestrasse ins Gemeindeeigentum zugestimmt wurde. Nachdem sich heute sämtliche Strassenstücke im Eigentum der Gemeinde befänden, mit Ausnahme desjenigen der Beschwerdeführer, dränge sich eine Überführung des letzten noch verbleibenden Strassenstücks in das Eigentum der Gemeinde geradezu auf: Es bestehe ein öffentliches Interesse daran, dass die gesamte Sonnhaldenstrasse im Eigentum der Gemeinde liege und diese vollumfänglich und ausnahmslos den gleichen rechtlichen Voraussetzungen unterliege. 
3.2.1 Die Beschwerdeführer bestreiten dies: Ausschlaggebend für den Gemeindeversammlungsbeschluss von 1983 seien ausschliesslich die privaten Interessen der Anstösser am Wegfall der Strassenunterhaltspflichten und der Strassenunterhaltskosten gewesen. Irrelevant sei auch, dass sich bereits 99% der Strasse im Eigentum der Gemeinde befinde: Die freiwillige Aufgabe des Eigentums durch die Mehrheit der Strasseneigentümer könne die Enteignung ihrer Strassenparzelle nicht rechtfertigen. 
3.2.2 Ausgangspunkt der Überlegungen muss die gesetzliche Ordnung der Strassen nach dem Strassengesetz sein. Die öffentlichen Strassen werden nach ihrer Bestimmung und Bedeutung in vier Klassen eingeteilt: Nationalstrassen, Kantonsstrassen, Gemeindestrasse und, an letzter Stelle, öffentliche Strassen privater Eigentümer (Art. 4 Abs. 2 StrG). Gemeindestrassen stehen im Eigentum der Gemeinde (Art. 14 Abs. 1 StrG), die auch für deren Bau und Unterhalt zuständig ist (Art. 17 Abs. 1 Ziff. 2 und Abs. 2 sowie Art. 54 StrG). Dementsprechend sieht Art. 9 StrG die Überführung von öffentlichen Strassen privater Eigentümer in das Eigentum der Gemeinde vor (Abs. 1) bzw. gibt dem Träger der Strassenbaulast einen Rechtsanspruch auf Übernahme durch die Gemeindeversammlung, wenn die zu übernehmende Strasse den verkehrstechnischen Anforderungen genügt und ausser dem Zubringerverkehr der Anstösser in erheblichem Ausmass auch dem allgemeinen Verkehr als Querverbindung zwischen Kantons- und Gemeindestrassen dient (Abs. 2). Diese Bestimmungen sollen eine funktionsgerechte Einteilung der Strassen und eine zweckmässige und rechtsgleiche Verteilung der Strassenbau- und -unterhaltslast gewährleisten. 
3.2.3 Aus dieser gesetzlichen Regelung ergibt sich, dass ein öffentliches Interesse an der Übernahme einer Strasse ins Gemeindeeigentum besteht, sobald diese die Funktion einer Gemeindestrasse i.S.v. Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 StrG erfüllt, d.h. in erheblichem Mass auch dem allgemeinen Verkehr dient. Dies ist nach dem oben (E. 3.1.) Gesagten vorliegend der Fall. Diese Übernahme kann nur einheitlich erfolgen, d.h. es müssen sämtliche Strassenstücke übernommen werden, im Wege der freien Vereinbarung (Art. 9 Abs. 1 Ziff. 1 StrG) oder, wenn dies nicht möglich ist, im Wege der Enteignung (Art. 9 Abs. 1 Ziff. 2 StrG). Insofern besteht ein öffentliches Interesse an der Enteignung des 29 m2 grossen Parzellenteils der Beschwerdeführer, um die bereits 1983 beschlossene Übernahme der Sonnhaldenstrasse als Gemeindestrasse ins Gemeindeeigentum zu vollziehen. 
3.3 Aus dem Gesagten ergibt sich auch die Erforderlichkeit der Enteignung: Die Einreihung der Sonnhaldenstrasse als Gemeindestrasse setzt deren vollständige Übernahme ins Gemeindeeigentum voraus. Nachdem keine vertragliche Einigung mit den Beschwerdeführern erreicht werden konnte, kann dieses Ziel nur noch im Wege der Enteignung erreicht werden. Auch die Verhältnismässigkeit im engeren Sinne ist zu bejahen, geht es doch um die Enteignung eines kleinen Parzellenteils (29 m2), der bereits heute als öffentliche Strasse genutzt wird. Es ist nicht ersichtlich, welches praktische Interesse die Beschwerdeführer am Fortbestand ihres Eigentumstitels an diesem Strassenstück haben. 
4. 
Nach dem Gesagten beruht der Enteignungsbeschluss auf einer gesetzlichen Grundlage; die Enteignung des Strassenstücks liegt im öffentlichen Interesse und erweist sich als verhältnismässig. Damit liegt keine Verletzung der Eigentumsgarantie gemäss Art. 26 BV vor. Die staatsrechtliche Beschwerde ist somit abzuweisen. 
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens haben die Beschwerdeführer die Kosten des staatsrechtlichen Beschwerdeverfahrens zu tragen und die Gemeinde Hergiswil angemessen zu entschädigen (Art. 156 und 159 OG). Art. 56 Abs. 1 EntG, wonach der Enteigner die Verfahrenskosten aller Instanzen trägt und dem Abtretungspflichtigen eine angemessene Parteientschädigung zahlt, ist auf die ordentlichen Rechtsmittel beschränkt und findet auf das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde keine Anwendung. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird den Beschwerdeführern auferlegt. 
3. 
Die Beschwerdeführer haben die Politische Gemeinde Hergiswil für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern, dem Politischen Gemeinde Hergiswil, dem Regierungsrat des Kantons Nidwalden und dem Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden, Verwaltungsabteilung, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 30. Juni 2003 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: