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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_713/2022  
 
 
Urteil vom 8. August 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiberin Polla. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch CAP Rechtsschutz-Versicherungsgesellschaft AG, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung 
(Statusfrage, Arbeitsunfähigkeit, Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich 
vom 29. September 2022 (IV.2021.00379). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1967 geborene A.________, Mutter dreier Kinder, verfügt weder über eine Schulausbildung noch über einen Berufsabschluss. Vom 1. Juni 2001 bis zur Krankschreibung wegen Handgelenksbeschwerden ab 10. Oktober 2003 war sie bei der B.________ AG vollzeitlich als Betriebsmitarbeiterin tätig. Am 7. Dezember 2004 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich qualifizierte A.________ als vollerwerbstätig und ging gestützt auf das polydisziplinäre medizinische Gutachten des Zentrums für Medizinische Begutachtung (ZMB) vom 28. November 2006 davon aus, dass ihr eine leidensangepasste Tätigkeit zu einem 100%-igen Pensum zumutbar sei. Unter Berücksichtigung eines leidensbedingten Abzugs von 15 % ermittelte sie anhand eines Einkommensvergleichs einen Invaliditätsgrad von 11 %. Mit rechtskräftig gewordener Verfügung vom 21. März 2007 verneinte die IV-Stelle einen Rentenanspruch. 
Nachdem bei A.________ im Mai 2018 Schilddrüsenkrebs diagnostiziert worden war, meldete sie sich wegen der Folgen dieser Erkrankung und psychischer Beschwerden am 6. November 2018 erneut zum Leistungsbezug bei der IV-Stelle an. Diese holte daraufhin ein polydisziplinäres medizinisches Gutachten der estimed AG vom 31. Dezember 2019 ein. Zusätzlich liess sie die Arbeitsfähigkeit im Haushalt abklären. Gestützt auf den Haushaltsabklärungsbericht vom 5. Juni 2020 qualifizierte sie A.________ neu als zu 30 % im Erwerbsbereich und zu 70 % im Haushalt tätig. Aufgrund des ermittelten Invaliditätsgrads von 24 % verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 10. Mai 2021 wiederum einen Rentenanspruch. 
 
B.  
Die dagegen geführte Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 29. September 2022 ab. 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils sei sie als Vollerwerbstätige zu qualifizieren; es sei ihr mindestens eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zuzusprechen. 
Es wurde kein Schriftenwechsel durchgeführt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Streitig und zu prüfen ist der Rentenanspruch, und zwar insbesondere die Statusfrage, d.h. die Frage, ob die Beschwerdeführerin im Gesundheitsfall vollumfänglich oder teilzeitlich erwerbstätig wäre. 
 
3.  
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging am 10. Mai 2021, mithin vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar (BGE 148 V 174 E. 4.1). 
 
4.  
 
4.1. Die Vorinstanz legte die Bestimmungen und Grundsätze zum Rentenanspruch (Art. 28 IVG) und zur Beurteilung der Statusfrage und damit zur anwendbaren Invaliditätsbemessungsmethode (bei erwerbstätigen Versicherten nach der Einkommensvergleichsmethode [Art. 28a Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG] und bei teilerwerbstätigen Versicherten nach der gemischten Methode [Art. 28a Abs. 3 IVG]) zutreffend dar. Richtig sind auch die Ausführungen zum Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG), zur freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG) und zum im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 146 V 51 E. 5.1; 144 V 427 E. 4.2). Darauf wird verwiesen.  
 
4.2. Zu betonen ist, dass sich die - für die Methodenwahl entscheidende - Statusfrage danach beurteilt, was die versicherte Person bei im Übrigen unveränderten Umständen täte, wenn keine gesundheitliche Beeinträchtigung bestünde. Relevant ist somit nicht, welches Ausmass der Erwerbstätigkeit der versicherten Person im Gesundheitsfall zugemutet werden könnte, sondern in welchem Pensum sie hypothetisch erwerbstätig wäre (BGE 144 I 28 E. 2.3; 141 V 15 E. 3.1; je mit Hinweisen). Die Beantwortung der Statusfrage erfordert zwangsläufig eine hypothetische Beurteilung, die auch hypothetische Willensentscheidungen der versicherten Person zu berücksichtigen hat. Derlei ist einer direkten Beweisführung wesensgemäss nicht zugänglich und muss in aller Regel aus äusseren Indizien erschlossen werden. Die Beurteilung hypothetischer Geschehensabläufe stellt eine Tatfrage dar, soweit sie auf Beweiswürdigung beruht, selbst wenn darin auch Schlussfolgerungen aus der allgemeinen Lebenserfahrung mitberücksichtigt werden. Ebenso sind Feststellungen über innere oder psychische Tatsachen Tatfragen, wie beispielsweise was jemand wollte oder wusste. Die auf einer Würdigung konkreter Umstände basierende Festsetzung des hypothetischen Umfangs der Erwerbstätigkeit bleibt für das Bundesgericht daher verbindlich, ausser wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung beruht (BGE 144 I 28 E. 2.4 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 144 V 50 E. 4.2).  
 
5.  
 
5.1. Die Vorinstanz stellte fest, die Beschwerdeführerin habe bei Eintritt der invalidisierenden gesundheitlichen Beeinträchtigung im Jahr 2003 ein Vollzeitpensum ausgeübt, was bei sonst unveränderten Verhältnissen grundsätzlich ein Indiz für eine Qualifikation als Vollerwerbstätige im zu beurteilenden Zeitpunkt sei. Ebenso habe sie sowohl gegenüber den Gutachtern der estimed AG als auch der Abklärungsperson angegeben, im Gesundheitsfall vollerwerbstätig zu sein. Ihr Verhalten nach Eingang des Gutachtens des ZMB vom 28. November 2006 und Erlass der rentenverneinenden Verfügung vom 21. März 2007 lege jedoch einen anderen Schluss nahe. Es sei davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin ihr laut den Gutachtern des ZMB zumutbares Arbeitspensum von 80 % in der angestammten (Reinigungs-) Tätigkeit oder von 100 % in einer leichteren angepassten Tätigkeit zumindest annähernd ausgeschöpft hätte, wäre ihr daran gelegen gewesen, möglichst viel zu arbeiten, zumal der Aufwand für die Kinderbetreuung fortlaufend abgenommen habe. Eine finanzielle Notwendigkeit hierzu habe offensichtlich nicht bestanden. Es entspreche einer rein subjektiven Einschätzung und stehe nicht fest, dass das nach der ersten Rentenablehnung effektiv ausgeübte 30%-ige Arbeitspensum als Reinigungskraft den tatsächlichen Arbeitsmarktchancen entsprochen habe. Die Beschwerdeführerin habe trotz voller Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit respektive einer Arbeitsfähigkeit von 80 % in der angestammten Tätigkeit über die Jahre hinweg keinerlei Anstrengungen zur zeitlichen Ausdehnung ihrer Erwerbstätigkeit unternommen. Dass sie im Gesundheitsfall einer Vollzeittätigkeit nachgegangen wäre, sei insgesamt nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ausgewiesen.  
Die Vorinstanz stützte sich für die Bestimmung des hypothetischen Erwerbspensums im Gesundheitsfall auf den effektiv ausgeübten Umfang der Erwerbstätigkeit in den letzten Jahren von 30 % und qualifizierte die Beschwerdeführerin zudem mit der Beschwerdegegnerin als zu 70 % im Haushalt tätig. 
 
5.2. In Anwendung der gemischten Methode zur Invaliditätsbemessung resultierte bei einer 60%-igen Arbeitsfähigkeit im Erwerbsbereich gestützt auf das Gutachten der estimed AG vom 31. Dezember 2019 eine invaliditätsbedingte Erwerbseinbusse von 55 %. Gewichtet mit dem Anteil der Erwerbstätigkeit von 30 % ergab dies ein Teilinvaliditätsgrad von 17 %. Die Einschränkung im Aufgabenbereich Haushalt von 18 % führte bei entsprechender Gewichtung zu einem Teilinvaliditätsgrad von 13 %, was bei einem Invaliditätsgrad von gesamthaft 30 % die Verneinung eines Rentenanspruchs zur Folge hatte.  
 
6.  
Die Beschwerdeführerin macht geltend, im Gesundheitsfall wäre sie zu 100 % erwerbstätig. Die Vorinstanz habe bundesrechtswidrig den Zeitraum zwischen der ersten und der zweiten Anmeldung zum Leistungsbezug für die Beantwortung der Statusfrage herangezogen, obwohl dannzumal bereits ein Gesundheitsschaden vorgelegen habe. Zudem sei im angefochtenen Urteil der zumutbaren Restarbeitsfähigkeit entscheidendes Gewicht beigemessen worden, welche für die Beantwortung der Statusfrage irrelevant sei. Abzustellen sei auf den Zeitpunkt vor der Anmeldung bei der Invalidenversicherung im Jahr 2003. Dannzumal sei sie voll erwerbstätig gewesen. Sowohl bei der Begutachtung bei der estimed AG als auch anlässlich der Haushaltsabklärung habe sie im Sinne von Aussagen der ersten Stunde angegeben, bei guter Gesundheit voll erwerbstätig zu sein. 
 
7.  
 
7.1. Anders als die Beschwerdeführerin annimmt, stellte die Vorinstanz nicht in unzulässiger Weise auf den Zeitraum zwischen der ersten und der zweiten Anmeldung bei der Invalidenversicherung ab. Die Statusfrage beurteilt sich praxisgemäss nach den Verhältnissen, wie sie sich bis zum Erlass der Verwaltungsverfügung entwickelt haben, wobei für die hypothetische Annahme einer im Gesundheitsfall ausgeübten (Teil-) Erwerbstätigkeit der im Sozialversicherungsrecht übliche Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erforderlich ist. Die blosse Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen nicht (BGE 144 V 427 E. 3.2; 138 V 218 E. 6 je mit Hinweisen). Zudem sind dabei die gesamten persönlichen, familiären, sozialen und erwerblichen Verhältnisse zu berücksichtigen (BGE 137 V 334 E. 3.2; Urteil 9C_201/2017 vom 3. November 2017 E. 4.1).  
Dementsprechend erachtete die Vorinstanz die Aussagen der Beschwerdeführerin, im Gesundheitsfall vollzeitlich erwerbstätig zu sein, in Beachtung der gesamten persönlichen Umstände und der Erwerbsbiografie nicht als hinreichend erwiesen, was vor Bundesrecht standhält. Wenn die Vorinstanz dabei das Verhalten der Beschwerdeführerin im erwähnten Zeitraum mitberücksichtigte, erweist sich dies somit als rechtens. Für den willkürfreien Schluss auf eine Teilzeittätigkeit war im angefochtenen Urteil nicht entscheidend, dass der Beschwerdeführerin anlässlich der ersten Begutachtung eine 80%-ige Arbeitsfähigkeit in der zuletzt ausgeübten Hilfstätigkeit in einer Kantine und eine vollständige Arbeitsfähigkeit in einer zumutbaren Verweisungstätigkeit attestiert worden war, sondern, dass sie einzig ab Juni 2001 bis zu ihrer Krankschreibung im Oktober 2003 vollzeitlich tätig gewesen war und in den nachfolgenden Jahren dieses Pensum nicht annähernd erreichte. Dies, obwohl sie dazu aus gutachterlicher Sicht zwischen November 2006 bis zur mit dem diagnostizierten Schilddrüsenkrebs zusammenhängenden Verschlechterung der Arbeitsfähigkeit ab Juni 2018 in der Lage gewesen wäre und dennoch gemäss vorinstanzlicher Feststellung keinerlei dokumentierte Anstrengungen für eine in zeitlicher Hinsicht über das tatsächlich ausgeübte 30%-ige Arbeitspensum hinausgehende Tätigkeit unternahm. Substanziierte Ausführungen zur behaupteten finanziellen Notwendigkeit eines Vollzeitpensums fehlen ferner. Die Vorbringen in der Beschwerde führen insgesamt nicht dazu, dass der Vorinstanz Willkür vorzuwerfen wäre. 
 
7.2. Nach dem Gesagten verletzt die Anwendung der gemischten Methode zur Invaliditätsbemessung kein Bundesrecht. Die Vorinstanz legte sodann zutreffend dar, dass selbst bei Zugrundelegung des geltend gemachtem Valideneinkommens für Hilfsarbeiten im Erwerbsbereich gemäss LSE 2018 von jährlich Fr. 50'808.90 und in Berücksichtigung eines maximal möglichen leidensbedingten Abzugs von 25 % kein rentenbegründender Invaliditätsgrad resultieren würde. Gegen die vorinstanzlich vorgenommene konkrete Invaliditätsbemessung erhebt die Beschwerdeführerin keine Einwände, weshalb nicht näher darauf einzugehen ist, zumal keine offenkundigen Fehler erkennbar sind. Damit hat es bei der im angefochtenen Urteil bestätigten Verneinung eines Rentenanspruchs sein Bewenden.  
 
8.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 8. August 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Polla