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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
6B_73/2014  
   
   
 
 
 
Urteil vom 17. Juli 2014  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Mathys, Präsident, 
Bundesrichter Denys, Rüedi, 
Gerichtsschreiber Fessler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Raphaël Camp, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,  
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Revision (Verletzung von Verkehrsregeln, Hausfriedensbruch), Willkür; Schuldfähigkeit, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 12. Dezember 2013. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Mit unangefochtenem Strafbefehl vom 10. Mai 2012 verurteilte die Staatsanwaltschaft Lenzburg X.________ wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln, Führens eines Fahrzeugs ohne Autobahnvignette auf der Autobahn und mehrfachen Hausfriedensbruchs zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu Fr. 100.--, bedingt aufgeschoben bei einer Probezeit von 2 Jahren, und einer Busse von Fr. 1'200.--. 
 
B.   
Auf das Revisionsgesuch vom 27. September 2013 des X.________ trat das Obergericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 12. Dezember 2013 nicht ein. 
 
C.   
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, dem Revisionsbegehren entsprechend sei der Strafbefehl vom 10. Mai 2012 aufzuheben; eventualiter sei das Begehren zwecks Beweismittelergänzung an das Obergericht oder an die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau zurückzuweisen, unter Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Rechtsvertretung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Streitgegenstand vor Bundesgericht kann nur sein, was bereits Gegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens war (Art. 99 Abs. 2 BGG). Wird ein Nichteintretensentscheid angefochten, so sind Rechtsbegehren in der Sache unzulässig, ausser wenn die Vorinstanz in einer Eventualbegründung die Sache auch materiell behandelt hat. In einer solchen Konstellation beurteilt das Bundesgericht auch die materielle Rechtslage und sieht aus prozessökonomischen Gründen davon ab, den angefochtenen Entscheid aufzuheben, wenn zwar zu Unrecht auf die Beschwerde nicht eingetreten wurde, die Eventualbegründung in der Sache aber zutreffend ist. Deshalb muss sich die Beschwerdebegründung (Art. 42 Abs. 2 BGG) in solchen Fällen sowohl mit dem Nichteintreten als auch mit der materiellrechtlichen Seite auseinandersetzen (BGE 139 II 233 E. 3.2 S. 235 f. mit Hinweisen; Urteil 1C_749/ 2013 vom 30. Januar 2014 E. 2.1). 
 
 
2.   
Die Vorinstanz ist auf das Revisionsgesuch nach Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO betreffend den Strafbefehl vom 10. Mai 2012 infolge Missbräuchlichkeit nicht eingetreten. Der Beschwerdeführer bestreitet, dass die Voraussetzungen für diese Verfahrenserledigung erfüllt sind (vgl. dazu Urteile 6B_54/2014 vom 24. April 2014 E. 3, 6B_389/2012 vom 6. November 2012 E. 4.2 und 6B_310/2011 vom 20. Juni 2011   E. 1.3, in: SJ 2012 I S. 389). Auf seine diesbezüglichen Vorbringen braucht indessen nicht näher eingegangen zu werden. Soweit er in diesem Zusammenhang neu geltend macht, er sei aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen, rechtzeitig innert 10 Tagen gegen den Strafbefehl vom 10. Mai 2012 Einsprache zu erheben    (Art. 354 Abs. 1 StPO), legt er nicht dar, inwiefern erst der angefochtene Entscheid Anlass zu diesem Vorbringen gegeben hat (Art. 99 Abs. 1 BGG). Abgesehen davon zeigt er nicht auf (Art. 42 Abs. 2 BGG), weshalb es ihm nicht möglich war, im Rahmen eines Gesuchs um Wiederherstellung der Frist Einsprache zu erheben (Art. 94 StPO). 
 
3.   
Die Vorinstanz legt in einer Eventualbegründung dar, dass das Revisionsgesuch, wäre darauf einzutreten, abgewiesen werden müsste. In Würdigung der Akten zu den einzelnen als solche unbestrittenen Straftaten und in Berücksichtigung des vom Beschwerdeführer eingereichten psychiatrischen Gutachtens des Dr. med. A.________ vom 5. August 2012 gelangt sie zum Ergebnis, es sei nicht ersichtlich, inwiefern das ihm zur Last gelegte Verhalten in einem Zusammenhang mit der im Tatzeitpunkt möglicherweise nicht medikamentös behandelten paranoiden Schizophrenie stehen sollte. Nichts deute darauf hin, dass er sich in einem psychotischen Zustand befunden habe und nicht in der Lage gewesen sei, das Unrecht seiner Tat einzusehen und gemäss dieser Einsicht zu handeln. Daraus folgert sie, es bestünden keine Zweifel an der uneingeschränkten Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers im Tatzeitpunkt (Art. 19 StGB). 
 
Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz im Wesentlichen vor, den Gehalt von Art. 20 StGB verkannt zu haben. Nach dieser Bestimmung ordnet die Untersuchungsbehörde oder das Gericht die Begutachtung durch einen Sachverständigen an, wenn ernsthafter Anlass besteht, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln. 
 
3.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, trotz des nicht (immer) offenkundigen Krankheitsbildes der paranoiden Schizophrenie sei aufgrund entsprechender klarer Hinweise in den Akten nicht nachvollziehbar, dass die Staatsanwaltschaft keine berechtigten Zweifel an seinem Gesundheitszustand gehegt haben soll.  
 
Der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft nach Auffassung des Beschwerdeführers ernsthafte Zweifel an seiner Schuldfähigkeit hätte haben sollen (BGE 133 IV 145 E. 3.3 S. 147) und demzufolge eine psychiatrische Begutachtung hätte anordnen müssen, stellt keinen Revisionsgrund nach Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO dar; es liegt auch kein Nichtigkeitsgrund vor (Urteil 6B_339/2012 vom 11. Oktober 2012 E. 1.3). Vielmehr wäre dieser (behauptete) Mangel im ordentlichen Rechtsmittelverfahren vorzubringen und allenfalls zu beheben gewesen. Dasselbe gilt in Bezug auf die gerügte fehlende Verteidigung im Strafbefehlsverfahren (Urteil 6B_186/2011 vom 10. Juni 2011 E. 2.6). Im Übrigen findet sich kein Beleg in den Akten dafür, dass der Beschwerdeführer während des Strafverfahrens explizit um Vertretung durch einen (amtlichen) Strafverteidiger ersucht hatte, wie er vorbringt. 
 
3.2. Sodann macht er geltend, das psychiatrische Gutachten vom      5. August 2012 nehme hinreichend und eindeutig eine Schuldunfähigkeit in der fraglichen Deliktsperiode (April 2011 bis Januar 2012) als hoch wahrscheinlich an. Es bestünden keine triftigen Gründe, um davon abzuweichen. Indem die Vorinstanz die Expertise nicht berücksichtigt und überdies keine Abklärungen betreffend seines psychischen Gesundheitszustandes vorgenommen, sondern ihm Schuldfähigkeit unterstellt habe, sei sie von Tatsachen ausgegangen, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stünden, was gegen das Willkürverbot nach Art. 9 BV verstosse.  
 
3.2.1. Willkür in der Rechtsanwendung liegt vor, wenn der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Das Bundesgericht hebt einen Entscheid jedoch nur auf, wenn nicht bloss die Begründung, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist. Dass eine andere Lösung ebenfalls als vertretbar oder gar zutreffender erscheint, genügt nicht (BGE 138 I 305 E. 4.3 S. 319 mit Hinweis). Die vorinstanzliche Beweiswürdigung im Besonderen ist etwa willkürlich, wenn das Gericht offensichtlich Sinn und Tragweite eines Beweismittels verkannt oder ohne zureichenden Grund ein Beweismittel, das einen anderen Entscheid herbeiführen könnte, nicht zur Kenntnis genommen hat oder aufgrund der festgestellten Grundlagen zu unhaltbaren Schlüssen gekommen ist (BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9; Urteile 4D_23/2014 vom 15. Mai 2014 E. 2, 8C_76/2014 vom 30. April 2014 E. 1.2 und 4A_69/2014 vom 28. April 2014 E. 2.2).  
 
3.2.2. Ein Gutachten kann Anlass zur Wiederaufnahme des Verfahrens sein, wenn es eine neue Tatsache nachweist, die geeignet ist, die tatsächliche Grundlage des zu revidierenden Entscheids zu erschüttern und im Sinne von Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO einen Freispruch, eine wesentlich mildere oder wesentlich strengere Bestrafung der verurteilten Person oder eine Verurteilung der freigesprochenen Person herbeizuführen (vgl. BGE 101 IV 247 E. 2 S. 249; Urteile 6B_579/2012 vom 11. Januar 2013 E. 2.4.2, 6S.452/2004 vom 1. Oktober 2005       E. 2.2 und 6P.93/2004 vom 15. November 2004 E. 4). Die Frage, ob ein solches gegen einen Strafbefehl gerichtetes Revisionsmittel geeignet ist, missbräuchlich zu sein oder nicht (vgl. BGE 130 IV 72 E. 2.3 S. 75), kann vorliegend mit Blick auf den Ausgang des Verfahrens offenbleiben.  
 
Gemäss dem Gutachten von Dr. med. A.________ vom 5. August 2012 leidet der Beschwerdeführer an einer paranoiden Schizophrenie, welche während langen Jahren unter dem Schutz einer tief dosierten Neuroleptikatherapie praktisch symptomlos geblieben war. Nach dessen diesbezüglich widersprüchlichen Angaben setzte er die Medikation im Jahre 2009, 2010 oder 2011 ab. Nach Lage der Akten waren diese Umstände der Staatsanwaltschaft bei Erlass des Strafbefehls vom   10. Mai 2012 nicht bekannt gewesen. 
Die Vorinstanz legt dar, weshalb die Beurteilung des psychiatrischen Facharztes in seiner Expertise vom 5. August 2012 und im Schreiben vom 15. August 2012, wonach von Schuldunfähigkeit in Bezug auf die im Strafbefehl vom 10. Mai 2012 erwähnten Straftaten auszugehen sei, die tatsächliche Grundlage dieses Entscheids nicht in revisionsrechtlich genügendem Masse zu erschüttern vermag. Soweit der Beschwerdeführer sich mit den betreffenden Erwägungen rechtsgenügend auseinandersetzt (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.1 und E. 1.4.2 S. 254), vermag er nicht darzutun, inwiefern die Vorinstanz die Beweise willkürlich gewürdigt und aus der sich daraus ergebenden Sachlage unzutreffende rechtliche Schlüsse gezogen hat. 
 
Vorab bestreitet der Beschwerdeführer - zu Recht - nicht, dass die Art der Begehung der Straftaten und sein Verhalten, insbesondere seine Aussagen im Rahmen der Einvernahme durch die Strafverfolgungsbehörden für die Frage der Schuldfähigkeit von Bedeutung sind (vgl. etwa Urteil 6S.211/2003 vom 27. April 2004 E. 1.2 und 1.3). In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass für die Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit nicht jede geringfügige Herabsetzung der Fähigkeit genügt, sich zu beherrschen. Der Betroffene muss vielmehr, zumal der Begriff des normalen Menschen nicht eng zu fassen ist, in hohem Masse in den Bereich des Abnormen fallen, d.h. seine Geistesverfassung muss nach Art und Grad stark vom Durchschnitt nicht bloss der Rechts-, sondern auch der Verbrechensgenossen abweichen (Urteil 6B_318/2012 vom 21. Januar 2013 E. 2.2 mit Hinweisen). Weiter bestreitet der Beschwerdeführer - ebenfalls zu Recht - nicht die Feststellung der Vorinstanz, aus dem Gutachten gehe nicht genau hervor, wann er seine Medikamente tatsächlich absetzte und wann die ersten Krankheitssymptome in Erscheinung traten. Nichts Substantielles entgegenzusetzen vermag er sodann der vorinstanzlichen Auffassung, dass die im Zeitraum von April 2011 bis Januar 2012 verübten Delikte kein auch "für den medizinischen Laien erkennbares Bizarres oder Uneinfühlbares in der Handlungsweise" aufwiesen wie die am 15. Mai 2012 begangenen Straftaten (Drohung, Nötigung und Tätlichkeiten), welche zur Begutachtung Anlass gegeben haben. Im Übrigen scheint der Beschwerdeführer von einer unzutreffenden Fragestellung auszugehen, wenn er vorbringt, das Gutachten vom 5. August 2012 bestimme sich als Beweismittel zur Beseitigung von Zweifeln bezüglich der Schuldunfähigkeit. Es geht darum, ob die Expertise bzw. die damit nachgewiesenen neuen Tatsachen ernsthafte Zweifel an der Schuldfähigkeit zu wecken vermögen, was die Vorinstanz bundesrechtskonform verneint. Die Beschwerde ist somit unbegründet. 
 
4.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ist abzuweisen, da die Beschwerde von vornherein aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 BGG; BGE 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135, 128 I 225 E. 2.5.3 S. 236 mit Hinweis). Seiner finanziellen Lage ist mit herabgesetzten Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 17. Juli 2014 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Mathys 
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler