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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_50/2022  
 
 
Urteil vom 17. Mai 2022  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber Traub. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Christoph Anwander, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, EL-Durchführungsstelle, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Ergänzungsleistung zur AHV/IV, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 14. Dezember 2021 (EL 2020/49). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ (geb. 1951) meldete sich im Februar 2020 zum Bezug von Ergänzungsleistungen zu einer Altersrente der AHV an. Mit Verfügung vom 24. April 2020 wies die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (EL-Durchführungsstelle) das Leistungsbegehren ab mit der Begründung, unter Berücksichtigung eines Vermögensverzichtes von Fr. 494'014.- ergebe sich ein Einnahmenüberschuss von Fr. 40'838.-. Daher bestehe kein Anspruch auf Ergänzungsleistungen. Auf Einsprache von A.________ hin stellte die Verwaltung einen um Fr. 202'120.- tieferen Vermögensverzicht fest. Da indes immer noch ein Einnahmenüberschuss bestehe, sei die Verfügung vom 24. April 2020 zu bestätigen (Entscheid vom 5. November 2020). 
 
B.  
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wies die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 14. Dezember 2021). 
 
C.  
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt die Zusprechung von Ergänzungsleistungen mit Wirkung ab Februar 2020. Eventuell sei die Sache zur neuen Verfügung an die Verwaltung zurückzuweisen. 
 
Die Sozialversicherungsanstalt und die Vorinstanz verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Strittig ist, ob die Beschwerdeführerin mit Wirkung ab Februar 2020 einen Anspruch auf Ergänzungsleistungen zur Altersrente der AHV erworben hat; dies mit Blick auf die Frage, ob bei der Festsetzung der anrechenbaren Einnahmen ein Vermögensverzicht zu berücksichtigen ist. Massgebend sind die bis Ende 2020 gültig gewesenen Bestimmungen des ELG (vgl. dazu Urteil 9C_377/2021 vom 22. Oktober 2021 E. 3.1 mit Hinweisen).  
 
1.2. Die jährliche Ergänzungsleistung entspricht dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen (Art. 9 Abs. 1 ELG). Bei der Bemessung der Ergänzungsleistung werden auch Einkünfte und Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist, als Einnahmen angerechnet (Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG in der bis Ende 2020 geltenden Fassung). Wie weit die Verzichtshandlung zurückliegt, ist grundsätzlich unerheblich. Der Verzichtsfall ist nach der Rechtsprechung gegeben, wenn der Entäusserung keine rechtliche Verpflichtung und keine adäquate Gegenleistung gegenübersteht. Ein Verzicht ist jedoch nicht allein deswegen anzunehmen, weil jemand vor der Anmeldung zum Ergänzungsleistungsbezug über seinen Verhältnissen gelebt haben könnte; es besteht keine gesetzliche Handhabe für eine wie auch immer geartete "Lebensführungskontrolle" (BGE 146 V 306 E. 2.3.1 mit Hinweisen; vgl. aber die hier nicht anwendbare, Anfang 2021 in Kraft getretene Bestimmung von Art. 11a Abs. 3 und 4 ELG; unten E. 3.1).  
 
Was das den Vermögensverzicht allenfalls ausschliessende Erfüllen einer rechtlichen Pflicht oder den Erhalt einer adäquaten Gegenleistung angeht, ist die leistungsansprechende Person mitwirkungspflichtig und beweisbelastet: Bei einer ausserordentlichen Abnahme des Vermögens muss sie solche Tatsachen behaupten und soweit möglich auch belegen. Bei Beweislosigkeit - es gilt der Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit - wird ein Vermögensverzicht angenommen und ein hypothetisches Vermögen sowie darauf entfallender Ertrag angerechnet (BGE 146 V 306 E. 2.3.2). 
 
2.  
 
2.1. Die Vorinstanz hält dem Bundesgericht vor, es verkenne, dass Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG bei einer selbst herbeigeführten finanziellen Notlage keinen Anspruch auf Ergänzungsleistung vorsehe. Verbrauche die versicherte Person regelmässig mehr Vermögen als sie für die Deckung des EL-rechtlichen Existenzbedarfs benötigen würde, finanziere sie ihren aktuell höheren Lebensstandard mittels jener Ergänzungsleistungen vor, die später ausbezahlt werden müssten, weil sie ihr Vermögen verschwendet habe. Dies sei mit dem Versicherungsgedanken nicht vereinbar. Erkenne die versicherte Person, dass sie über kurz oder lang nicht mehr in der Lage sein werde, ihren Existenzbedarf aus eigenen Mitteln zu bestreiten, müsse ein weitergehender Vermögensabbau als übermässiger Verzehr des EL-rechtlichen "Vorsorgekapitals" qualifiziert werden. Insofern interpretiere das Bundesgericht den Begriff "Verzicht" gesetzeswidrig; trotz Kritik seitens der kantonalen Rechtsprechung (so im Entscheid EL 2018/2 des St. Galler Versicherungsgerichts vom 21. August 2019) und aus dem Schrifttum (RALPH JÖHL/PATRICIA USINGER-EGGER, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR] Band XIV, 3. Aufl. 2016 Rz. 176 ff.) habe das Bundesgericht es immer wieder abgelehnt, eine Verschwendung von Vermögen als Vermögensverzicht einzustufen. Die Klarstellung im neuen Art. 11a Abs. 3 ELG (in Kraft seit 1. Januar 2021) offenbare die Notwendigkeit einer Korrektur der bisherigen Rechtsprechung zu aArt. 11 Abs. 1 lit. g ELG.  
 
Die Beschwerdeführerin habe im Herbst 2015 Arbeitslosenentschädigung und eine Witwenrente bezogen, seit Dezember 2015 nur noch eine Altersrente der AHV. Es habe ihr bewusst sein müssen, dass sie mit vorhandenem Vermögen haushälterisch umzugehen hatte, um ihren Existenzbedarf möglichst lange aus eigener Kraft - mit Rente und Vermögen - decken zu können. Somit stehe fest, dass die Beschwerdeführerin sich für die Deckung des alltäglichen Lebensbedarfs auf das EL-rechtlich massgebende Existenzminimum hätte beschränken müssen; es sei absehbar gewesen, dass das Vermögen innert kürzester Zeit verbraucht sein würde. Das Vermögen hätte sie nur gerade zur Deckung notwendiger Ausgaben heranziehen dürfen, d.h. für die Prämie der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, den gesetzlichen Maximalbetrag für die Wohnkosten und die EL-rechtliche Lebensbedarfspauschale. Für die Jahre 2016 bis 2019 stünden den so errechneten relevanten Existenzminima von insgesamt Fr. 151'348.- Rentenbezüge von Fr. 90'432.- gegenüber. Per Ende 2015 habe sie über ein Vermögen von Fr. 459'520.- verfügt (Sparvermögen, Rückkaufswert einer Lebensversicherung, Nettoerlös zweier Grundstücke); Ende 2019 seien es noch Fr. 103'565.- gewesen. Damit habe sich das Vermögen in den Jahren 2016 bis 2019 um Fr. 355'955.- verringert. Bei einer angepassten Lebenshaltung hätte sie für die Bestreitung des alltäglichen Lebensbedarfs nur Fr. 60'916.- benötigt; hinzu kämen ausserordentliche Ausgaben von höchstens Fr. 41'945.-. Die exorbitanten Ausgaben für Kleidung und Kosmetik, aber auch für Blumen, Ferien etc. seien nur im Rahmen der allgemeinen Lebensbedarfspauschale als notwendige Ausgaben anzuerkennen. Selbst unter Berücksichtigung einer "Extrapauschale" von jährlich 10'000 Franken (in analoger Anwendung von aArt. 17a Abs. 1 ELV, wonach der anzurechnende Betrag von Vermögenswerten, auf die verzichtet worden ist, jährlich um 10'000 Franken vermindert wird), ferner ohne Berücksichtigung eines Vermögensverzichts vor 2016 und ohne Anrechnung eines fiktiven Vermögensertrags betrage das jährliche Einnahmentotal Fr. 46'777.-. Dies übertreffe die anrechenbaren Ausgaben von Fr. 38'230.- deutlich. Somit bestehe kein Leistungsanspruch. 
 
2.2. Die Beschwerdeführerin rügt die vorinstanzliche Anrechnung von Verzichtsvermögen und weist auf die ständige Rechtsprechung hin (vgl. oben E. 1.2). In BGE 146 V 306 habe das Bundesgericht eine Änderung dieser Rechtsprechung abgelehnt. Die Vorinstanz weiche bewusst davon ab und wende aArt. 11 Abs. 1 lit. g ELG falsch an. Ihr, der Beschwerdeführerin, werde nicht vorgeworfen, ohne rechtliche Verpflichtung oder ohne adäquate Gegenleistung auf Vermögenswerte verzichtet zu haben, sondern in den Jahren vor der EL-Anmeldung über ihren wirtschaftlichen Verhältnissen gelebt zu haben. Damit liege in ihrem Fall kein anrechenbarer Vermögensverzicht im Sinn von Gesetz und Rechtsprechung vor. Unter diesen Voraussetzungen habe sie ab Februar 2020 Anspruch auf Ergänzungsleistung.  
 
3.  
 
3.1. Die Rechtsprechung stellt für den Vermögensverzicht im Sinn von aArt. 11 Abs. 1 lit. g ELG auf die beiden Kriterien der fehlenden Rechtspflicht resp. der fehlenden adäquaten (gleichwertigen) Gegenleistung ab (oben E. 1.2). Dies gilt ausdrücklich auch für Konstellationen, in denen jemand vor der Anmeldung zum Leistungsbezug über seinen Verhältnissen gelebt hatte (Botschaft vom 16. September 2016 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung [EL-Reform], BBl 2016 7496 Ziff. 1.2.2). Im neuen, hier nicht anwendbaren Recht werden die genannten Kriterien nunmehr ausdrücklich genannt (Art. 11a Abs. 2 ELG); dabei soll die bisherige Definition des Vermögensverzichts erhalten bleiben (Botschaft, a.a.O., 7496 Ziff. 1.2, 7538 Ziff. 2). Bei Bezügern einer Altersrente der AHV wird inskünftig zudem ein Vermögensverzicht angenommen, wenn innerhalb von zehn Jahren vor Beginn des Rentenanspruchs (bei Vermögen von über 100'000 Franken) jährlich mehr als zehn Prozent des Vermögens verbraucht wurden, ohne dass ein wichtiger Grund dafür gegeben ist (Art. 11a Abs. 3 und 4 ELG). Damit hat der Gesetzgeber einen neuen Tatbestand eingeführt, nach dem Ausgaben oberhalb einer bestimmten Ausgabengrenze als Verzichtsvermögen angerechnet werden sollen, selbst wenn der Nachweis einer gleichwertigen Gegenleistung erbracht wird (Botschaft, a.a.O., 7496 f. und 7539). Eine Vorwirkung dieser ab 1. Januar 2021 geltenden Bestimmung kommt nicht infrage (BGE 146 V 306 E. 2.6.2 a.E.). Keineswegs zeichnet die neue Bestimmung bloss eine ohnehin bestehende Rechtslage nach. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist die neue Regelung auch nicht als "Klarstellung" zu verstehen, die auf den Rechtszustand vor Ende 2020 zurückzubeziehen wäre. Der dem angefochtenen Entscheid zugrundeliegende normative Gedanke hat sich erst in der neuen, hier nicht anwendbaren Bestimmung von Art. 11a Abs. 3 und 4 ELG niedergeschlagen: Die bisherige Rechtslage, nach welcher die versicherte Person "ein Luxusleben führen und, wenn das Vermögen aufgebraucht ist, EL beantragen [kann], ohne Sanktionen in Kauf nehmen zu müssen" (Botschaft, a.a.O., 7496), ist damit vom Gesetzgeber geändert worden.  
 
Es besteht weiterhin kein Anlass, von der Rechtsprechung zu aArt. 11 Abs. 1 lit. g ELG abzuweichen, wonach es nicht darauf ankommt, ob ein Antragsteller vor der Anmeldung zum Leistungsbezug über seinen Verhältnissen gelebt hatte. 
 
3.2. Die Vorinstanz hat die Anrechnung eines Verzichtsvermögens mit einem "verschwenderischen Vermögensverzehr" begründet (vgl. oben E. 2.1). Sie betrachtet im Wesentlichen jeden Vermögensaufwand, der in den Jahren vor dem Bezug von Ergänzungsleistungen erfolgt ist, als relevanten Vermögensverzicht, wenn der betreffende Aufwand über den EL-rechtlichen Existenzbedarf hinausgeht (angefochtener Entscheid E. 4.3). Für den konkreten Fall weist die Vorinstanz auf den seit Ende 2015 erfolgten Vermögensrückgang hin; sie erwähnt Kosten für Kleidung und Kosmetikprodukte, Blumen und Ferien etc., die über die allgemeine Lebensbedarfspauschale hinausgingen (E. 4.4). Der angefochtene Entscheid nennt aber keinen Aufwand ohne (gleichwertige) Gegenleistung oder ohne Rechtspflicht. Die Anrechnung von Verzichtsvermögen ist praxisgemäss jedoch auf solche Konstellationen zu beschränken. Soweit allenfalls von der Möglichkeit auszugehen ist, dass die Beschwerdeführerin Barmittel nicht ausgegeben, sondern "bei sich zuhause aufbewahrt oder auf ein unbekanntes Konto einbezahlt" haben könnte (angefochtener Entscheid S. 12), wären die entsprechenden Tatsachen unter Mitwirkung der Beschwerdeführerin (oben E. 1.2; BGE 146 V 306 E. 2.3.2) noch festzustellen.  
 
Unter diesen Vorgaben ist die Sache zur neuen Beurteilung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen an die Verwaltung zurückzuweisen. 
 
4.  
Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu weiterer Abklärung (mit noch offenem Ausgang) gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen, unabhängig davon, ob sie beantragt oder ob das Begehren im Haupt- oder Eventualantrag gestellt wird (BGE 137 V 210 E. 7.1; Urteil 8C_136/2021 vom 7. April 2022 E. 7). Die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 14. Dezember 2021 und der Einspracheentscheid der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, EL-Durchführungsstelle, vom 5. November 2020 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die Verwaltung zurückgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 17. Mai 2022 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Traub