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Urteilskopf

149 III 465


55. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. AG gegen B. Foundation (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_428/2022 vom 25. September 2023

Regeste

Art. 124 Abs. 1 OR; Art. 99 Abs. 1 BGG; erstmalige Verrechnungserklärung vor Bundesgericht.
Kann eine erstmals vor Bundesgericht erfolgte Verrechnungserklärung einen Einfluss auf den Ausgang des Beschwerdeverfahrens haben? (E. 5.5).

Sachverhalt ab Seite 465

BGE 149 III 465 S. 465
Am 24. September 2019 reichte die B. Foundation (Stiftung, Klägerin; Beschwerdegegnerin) beim Handelsgericht des Kantons Zürich Klage ein und verlangte von der A. AG (Beklagte; Beschwerdeführerin) Fr. 5'278'812.- nebst Zins. Mit Urteil vom 13. September 2022 sprach das Handelsgericht der Klägerin den geforderten Betrag zu. Mit Blick auf einen ausdrücklichen Verzicht in der Klageantwort vermochte es in den Ausführungen der Beklagten unter dem Titel
BGE 149 III 465 S. 466
"Gegenforderung" keine Verrechnungseinrede zu erblicken. Mit Beschwerde in Zivilsachen macht die Beklagte geltend, sie habe keine Verrechnung erklärt, weil der Umfang und der Bestand der Forderungen immer noch Gegenstand von Prozessen und die Forderung somit nicht fällig gewesen sei. Sie habe die Endurteile eingereicht, doch das Handelsgericht habe diese nicht als echte Noven anerkannt. Sie erkläre nun aber im Umfang von Fr. 693'887.10 Verrechnung, falls das Bundesgericht das angefochtene Urteil nicht aufhebe.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

5. (...)

5.5 Was die Verrechnungserklärung vor Bundesgericht betrifft, beruft sich die Beschwerdeführerin auf eine Lehrmeinung, wonach die Verrechnungseinrede als (blosse) Rechtsausübung vor Bundesgericht an sich zulässig sei, falls die der Verrechnungslage zugrunde gelegten Tatsachenbehauptungen bereits im kantonalen Verfahren vorgebracht worden seien (DORMANN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2018, N. 34 zu Art. 99 BGG). Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, dies sei hier der Fall, zumal alle relevanten Informationen mit Ausnahme der Höhe der Forderung schon in der Klageantwort und in der Duplik enthalten gewesen seien. Die betragsmässige Höhe sei in der Noveneingabe vom Oktober 2021 ergänzt worden. Deshalb sei die Beschwerdeführerin zur Verrechnungserklärung zuzulassen.

5.5.1 Nach Art. 99 BGG dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Abs. 1). Dies trifft hier auf die Verrechnung nicht zu. Neue Begehren sind unzulässig (Abs. 2). Tatsachen oder Beweismittel, die sich auf das vorinstanzliche Prozessthema beziehen, jedoch erst nach dem angefochtenen Entscheid eingetreten oder entstanden sind (sog. echte Noven), sind vor Bundesgericht unbeachtlich (BGE 143 V 19 E. 1.2 S. 23; BGE 139 III 120 E. 3.1.2; BGE 133 IV 342 E. 2.1 S. 344; Urteil des Bundesgerichts 4A_508/2020 vom 25. März 2021 E. 1.1; Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 4340 Ziff. 4.1.4.3 zu Art. 93 E-BGG; nachfolgend: Botschaft BGG). Sie sind ausnahmsweise zu berücksichtigen, wenn es um die Sachurteilsvoraussetzungen vor Bundesgericht geht (Urteil des Bundesgerichts 4A_50/2019 vom 28. Mai 2019 E. 4.3.1 mit Hinweisen; vgl. auch zit. Urteil 4A_508/2020 E. 1.1).
BGE 149 III 465 S. 467

5.5.2 Im Gegensatz zu Art. 55 Abs. 1 lit. c OG (BS 3 547) äussert sich Art. 99 BGG nicht ausdrücklich über die Zulässigkeit neuer Einreden. Einreden sind nach der Botschaft zum BGG Rechtsbehelfe, die nicht von Amtes wegen berücksichtigt werden, sondern vielmehr allein in der Disposition der Parteien stehen. Als Beispiel wird neben der Verjährung ausdrücklich die Verrechnung genannt. Nach der Botschaft verbietet bereits der Vertrauensgrundsatz, mit der Erhebung solcher Einreden bis vor Bundesgericht zuzuwarten, denn keine Partei darf einen Entscheid nur wegen eines Fehlers in Frage stellen, für den sie selber verantwortlich ist (Botschaft BGG, a.a.O., BBl 2001 4340 Ziff. 4.1.4.3 zu Art. 93 E-BGG). Entsprechend hat sich grundsätzlich an der Unzulässigkeit, die Verrechnungseinrede erstmals vor Bundesgericht zu erheben, mit der Einführung des BGG nichts geändert (Urteil des Bundesgerichts 4A_290/2007 / 4A_292/ 2007 vom 10. Dezember 2007 E. 8.3.1; DONZALLAZ, Loi sur le Tribunal fédéral, 2008, S. 1482 N. 4083 zu Art. 99 BGG; BOVEY, in: Commentaire de la LTF, Aubry Girardin und andere [Hrsg.], 3. Aufl. 2022, N. 68 zu Art. 99 BGG; MÜNCH/LUCZAK, in: Prozessieren vor Bundesgericht, Geiser und andere [Hrsg.], 4. Aufl. 2014, S. 130 Rz. 2.82; ANDREAS MÜLLER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 7. Aufl. 2020, N. 2 Vor Art. 120-126 OR).

5.5.3 Soweit die Verrechnung erklärt werden muss, damit sie Wirkung entfaltet (Art. 124 Abs. 1 OR), würde eine Berücksichtigung vor Bundesgericht (soweit die Gegenpartei die Verrechnung nicht anerkennt und im Rahmen ihrer Dispositionsbefugnis mit der Berücksichtigung einverstanden ist [vgl. BOVEY, a.a.O., N. 68 zu Art. 99 BGG] oder erst der angefochtene Entscheid zur Erhebung der Verrechnungseinrede Anlass gibt) voraussetzen, dass die Partei vor der Vorinstanz prozesskonform eine Verrechnungserklärung behauptet hat. Daran fehlt es, wenn die Verrechnung erst vor Bundesgericht erklärt wird. Eine Verrechnungserklärung vor Bundesgericht kann die Verrechnung bewirken, ist im Ergebnis aber analog zu behandeln wie eine nach Ausfällung des angefochtenen Entscheides erfolgte Zahlung. Ein anderes Ergebnis widerspräche nicht nur dem Willen des Gesetzgebers (Botschaft BGG, a.a.O., BBl 2001 4340 Ziff. 4.1.4.3 zu Art. 93 E-BGG), es liesse sich auch mit Blick auf die Novenregelung (der Schuldner hat seinen Willen zur Verrechnung erst nachträglich gebildet, was ein Novum darstellt; vgl. BOVEY, a.a.O., N. 68 zu Art. 99 BGG) und dem Erfordernis der materiellen Ausschöpfung des Instanzenzuges (die Vorinstanz des
BGE 149 III 465 S. 468
Bundesgerichts konnte die Verrechnung nicht von Amtes wegen berücksichtigen; BOVEY, a.a.O., N. 68 zu Art. 99 BGG) nicht rechtfertigen.

5.5.4 Wenn in der Literatur festgehalten wird, die Verrechnungseinrede sei zulässig oder könne berücksichtigt werden, wenn die Tatsachen und Beweisanträge, die sie begründen, novenrechtlich zulässig seien (SEILER, in: Bundesgerichtsgesetz [BGG], Seiler und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2015, N. 42 zu Art. 99 BGG), beziehungsweise im kantonalen Verfahren die Tatsachen behauptet worden seien, die für das Bestehen einer verrechenbaren Gegenforderung konstitutiv sind (DORMANN, a.a.O., N. 34 zu Art. 99 BGG), ist dies missverständlich. Soweit die Verrechnung gegenüber dem Verrechnungsgegner erklärt werden muss (Art. 124 Abs. 1 OR), um Wirkung zu entfalten, und dies erst vor Bundesgericht geschieht, wurden nicht sämtliche für eine Verrechnung konstitutiven tatsächlichen Elemente im kantonalen Verfahren behauptet (MÜLLER, a.a.O., N. 2 Vor Art. 120-126 OR), und soweit nicht erst der angefochtene Entscheid dazu Anlass gibt, ist eine Ergänzung vor Bundesgericht novenrechtlich nicht zulässig. Aus der Rechtsprechung zur Berufung nach ZPO (namentlich aus dem Urteil des Bundesgerichts 4A_432/2013 vom 14. Januar 2014 E. 2.2, auf das sich SEILER, a.a.O., N. 42 zu Art. 99 BGG beruft) kann dazu nichts abgeleitet werden, da nach Art. 317 Abs. 1 ZPO auch erst nach dem erstinstanzlichen Entscheid entstandene Tatsachen berücksichtigt werden können. Dass die Verrechnung nach Art. 124 Abs. 3 OR (MÜLLER, a.a.O., N. 7 zu Art. 124 OR) oder sonstigen gesetzlichen Spezialvorschriften (MÜLLER, a.a.O., N. 1 zu Art. 124 OR) ohne Verrechnungserklärung hätte berücksichtigt werden können, behauptet die Beschwerdeführerin nicht.

5.5.5 Die vor Bundesgericht erklärte Verrechnung ist damit für den Ausgang des Verfahrens selbst dann unbeachtlich, wenn dadurch die Forderung teilweise getilgt worden sein sollte.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 5

Referenzen

BGE: 143 V 19, 139 III 120, 133 IV 342

Artikel: Art. 99 BGG, Art. 124 Abs. 1 OR, Art. 120-126 OR, Art. 124 OR mehr...