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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
5A_345/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 17. November 2016  
 
II. zivilrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter von Werdt, Präsident, 
Bundesrichter Marazzi, Schöbi, 
Gerichtsschreiber Möckli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Affentranger, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
B.________, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Gemeinsame elterliche Sorge, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern, 2. Abteilung, vom 1. April 2016. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________ und B.________ sind die unverheirateten Eltern von C.________ (geb. 2003), die von Gesetzes wegen unter der alleinigen elterlichen Sorge der Mutter stand. 
Die am 2. März 2006 errichtete Besuchsrechtsbeistandschaft konnte am 27. November 2008 zufolge guter Kooperation der Eltern aufgehoben werden. Am 13. Januar 2014 regelte die Kindesschutzbehörde das Besuchsrecht neu und errichtete wieder eine Besuchsrechtsbeistandschaft. 
 
B.   
Auf Gesuch des Vaters hin verfügte die KESB Luzern mit Entscheid vom 19. Januar 2016 das gemeinsame Sorgerecht über C.________. 
Die hiergegen von der Mutter erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Urteil vom 1. April 2016 ab. 
 
C.   
Gegen dieses Urteil hat A.________ am 9. Mai 2016 eine Beschwerde erhoben mit dem Begehren, C.________ sei unter ihrer alleinigen elterlichen Sorge zu belassen. Ferner verlangt sie die unentgeltliche Rechtspflege. Es wurden keine Vernehmlassungen, jedoch die Akten eingeholt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Angefochten ist der kantonal letztinstanzliche Endentscheid über eine auf Art. 12 Abs. 4 SchlT ZGB i.V.m. Art. 298b ZGB gestützte Regelung der elterlichen Sorge; die Beschwerde in Zivilsachen ist gegeben (Art. 72 Abs. 1, Art. 75 Abs. 1 und Art. 90 BGG). 
Zulässig sind rechtliche Vorbringen im Sinn von Art. 95 f. BGG. Hingegen legt das Bundesgericht seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG). In diesem Bereich kann lediglich eine offensichtlich unrichtige, d.h. willkürliche Sachverhaltsfeststellung gerügt werden, wobei das strenge Rügeprinzip gilt (Art. 97 Abs. 1 und Art. 106 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht prüft in diesem Fall nur klar und detailliert erhobene und, soweit möglich, belegte Rügen, während es auf ungenügend substanziierte Rügen und rein appellatorische Kritik am Sachverhalt nicht eintritt; ausserdem ist darzutun, inwiefern die Behebung der aufgezeigten Mängel für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (BGE 140 III 264 E. 2.3 S. 266). 
 
2.   
Aufgrund der am 1. Juli 2014 in Kraft getretenen Gesetzesnovelle (AS 2014 357) bildet die gemeinsame elterliche Sorge den Grundsatz und die Alleinzuteilung derselben bzw. die Belassung der alleinigen elterlichen Sorge die eng begrenzte Ausnahme. In seiner Rechtsprechung hat das Bundesgericht Kriterien aufgestellt, die erfüllt sein müssen, um ein Abweichen vom Grundsatz des gemeinsamen elterlichen Sorgerechts zu rechtfertigen (BGE 141 III 472 E. 4.6 und 4.7 S. 478; 142 III 1 E. 3.3 S. 5; 142 III 56 E. 3 S. 63; 142 III 197 E. 3.5 und 3.7 S. 199; vgl. sodann Rechtsprechungsübersicht in den Urteilen 5A_81/2016 E. 5, 5A_89/2016 E. 4 und 5A_186/2016 E. 4, je vom 2. Mai 2016). Diese können insbesondere bei einem schwerwiegenden elterlichen Dauerkonflikt oder bei anhaltender Kommunikationsunfähigkeit erfüllt sein. Dabei muss sich der Konflikt oder die Kommunikationsunfähigkeit auf die Kinderbelange als Ganzes beziehen; ein Konflikt oder eine Kommunikationsunfähigkeit hinsichtlich einzelner Fragen genügt nicht und schon gar nicht genügt, wenn sich der Streit ausschliesslich um die Regelung des Sorgerechts dreht. Ausserdem muss sich der Dauerkonflikt und/oder die Kommunikationsunfähigkeit negativ auf das Kindeswohl auswirken. Die abstrakte Feststellung, das Kind befinde sich in einem Loyalitätskonflikt, genügt nicht, denn dieser führt nicht in jedem Fall zu einer Beeinträchtigung des Kindeswohls, welche ein Eingreifen erforderlich erscheinen lässt; vielmehr hängen die Auswirkungen des Loyalitätskonfliktes von der Konstitution des Kindes selbst (Ambivalenz- und Abgrenzungsfähigkeit) und vom Verhalten der Eltern diesem gegenüber ab. Erforderlich ist daher eine konkrete Feststellung, in welcher Hinsicht das Kindeswohl beeinträchtigt ist bzw. sein würde. Schliesslich ist die Alleinzuteilung nur dann zulässig, wenn diese geeignet ist, die festgestellte Beeinträchtigung des Kindeswohls zu beseitigen oder zumindest zu lindern. Geht es, wie hier, um die auf Art. 298b Abs. 2 ZGB gestützte Anordnung des gemeinsamen Sorgerechts, ist unter diesem Gesichtspunkt nur dann davon abzusehen, wenn eine aufgrund der Streitereien auf Elternebene bestehende Beeinträchtigung des Kindeswohls in entscheidender Weise verstärkt würde (Urteil 5A_186/2016 vom 2. Mai 2016 E. 4). 
 
3.   
Nach den Feststellungen des Kantonsgerichts ist die Mutter nach wie vor enttäuscht bzw. verletzt darüber, dass sie während der Schwangerschaft verlassen wurde, und sie nimmt für sich in Anspruch, die Tochter bislang allein aufgezogen zu haben, weshalb ihr auch das alleinige Sorgerecht zustehe. Ausserdem richte sie verschiedene Vorwürfe an den Vater, welche von diesem bestritten würden. Die Eltern gingen sich konsequent aus dem Weg, auch bei der Übergabe des Kindes, welche jeweils über die Grossmutter väterlicherseits laufe, und sie hätten keine Kommunikation. Das Besuchsrecht könne aber regelmässig wahrgenommen werden, wobei die Übernachtungen bei der Grossmutter stattfänden. Bei der Anhörung von C.________ habe sich ein nachvollziehbarer Loyalitätskonflikt gezeigt, indem das Kind zum elterlichen Konflikt keine Stellung habe nehmen wollen und angespannt gewirkt habe. Sie habe aber erzählt, dass sie ihren Vater regelmässig jedes zweite Wochenende besuche und er zusammen mit ihr lerne. Die Nächte verbringe sie allerdings bei der Grossmutter, da sie wegen der Freundin des Vaters nicht bei diesem übernachten wolle. Manchmal gehe sie gerne, manchmal weniger gerne zum Vater, vor allem, wenn sie lieber mit einer Kollegin abmachen möchte. Im Anschluss an die Anhörung habe C.________ ein Schreiben verfasst, wonach sie kein gemeinsames Sorgerecht der Eltern wolle und die wichtigen Entscheidungen von der Mutter zu treffen seien. Das Kantonsgericht ging davon aus, dass dieses Schreiben, in welchem sich C.________ plötzlich in den Elternkonflikt einmischte und überdies den Vater abwertete, mit grosser Vorsicht zu geniessen sei; die Anhörung, bei welcher sich C.________ dem Elternkonflikt entzogen habe, hätte authentischer gewirkt als die auf ein Schwarz-Weiss-Bild zielende Sprache, welche sie im Schreiben verwende, das im Umfeld der Mutter entstanden sei. 
Ausgehend von seinen Feststellungen hat das Kantonsgericht erwogen, es stünden keine im Rahmen der gemeinsamen elterlichen Sorge zu treffenden wesentlichen Entscheide (religiöse Erziehung, Wohnsitz, schulische Entwicklung, medizinische Eingriffe) an, die zu unüberbrückbaren Differenzen der Eltern führen könnten. Überdies funktioniere das Besuchsrecht gut und der Vater komme auch seinen Unterhaltspflichten nach. Er zeige ein grosses Mass an Pflichtbewusstsein, auch bei der Wahrnehmung des Besuchsrechts. Insgesamt genügten die andauernden Kommunikationsschwierigkeiten und der Umstand, dass die Mutter eine Mitsorge des Vaters als störend empfinde, nicht, um vom Grundsatz der gemeinsamen elterlichen Sorge abzuweichen; es könne nicht von einem erheblichen und chronischen Konflikt gesprochen werden, welcher bei gemeinsamer Sorge zu einer Gefährdung des Kindeswohles führe bzw. aus Gründen des Kindeswohls die Beibehaltung der Alleinsorge bedinge. 
 
4.   
Im Anschluss an ihre rechtlichen Ausführungen (statt von der Logik her als Ausgangsbasis) rügt die Beschwerdeführerin eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung dahingehend, dass - bis auf eine zwischenzeitliche Phase, für welche die Besuchsrechtsbeistandschaft habe aufgehoben werden können - von einem chronischen Elternkonflikt bzw. einer gestörten Kommunikation zwischen den Eltern auszugehen sei (Beschwerde S. 13 ff.). Die Rüge geht insofern an der Sache vorbei, als das Kantonsgericht nichts anderes festgestellt hat. 
Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, die Eltern würden sich nicht nur über das Besuchsrecht, sondern auch über andere Themen streiten, und sie dafür auf den Entscheid der KESB Luzern verweist, kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden; zum einen bildet einzig der kantonsgerichtliche Entscheid das Anfechtungsobjekt (Art. 75Abs. 1 BGG) und zum anderen ist der blosse Verweis auf kantonale Akten unbeachtlich (BGE 140 III 115 E. 2 S. 116; Urteile 5A_695/2013 vom 15. Juli 2014 E. 1.3; 4A_208/2016 vom 6. September 2016 E. 1.3; 4A_371/2016 vom 14. Oktober 2016 E. 4.2). 
 
5.   
In rechtlicher Hinsicht ist mit dem Hinweis auf die chronische Kommunikationsunfähigkeit der Eltern keine Bundesrechtswidrigkeit des angefochtenen Entscheides darzutun; dass auf Elternebene ein immer noch unverarbeiteter Konflikt besteht, ist wie gesagt unbestritten und vom Kantonsgericht ausdrücklich erwähnt, für sich genommen aber nicht ausreichend, um eine Abweichung vom Grundsatz der gemeinsamen elterlichen Sorge zu begründen. Rechtsprechungsgemäss ist zusätzlich erforderlich, dass sich der Konflikt negativ auf das Kindeswohl auswirkt und die Alleinzuteilung geeignet ist, die festgestellte Beeinträchtigung des Kindeswohls zu beseitigen oder zumindest zu lindern (dazu E. 2). 
Um diese Voraussetzungen drehen sich denn auch die zentralen Überlegungen des Kantonsgerichtes, wonach für das inzwischen 13-jährige Mädchen in der nächsten Zeit keine besonderen Entscheidungen anstünden, welche bei gemeinsamer elterlicher Sorge nicht zu lösen wären bzw. für das Kind zu einer untragbaren Situation führen würden. Diesbezüglich bleibt die Beschwerdeführerin in ihren Ausführungen weitestgehend abstrakt, indem sie pauschal von einer Ausweitung bzw. Vervielfachung der Konfliktfelder spricht. In konkreter Hinsicht nennt sie "als anschauliches Beispiel" einzig, dass die Eltern die Übergabe des Kindes nicht ohne Dritthilfe bewerkstelligen könnten. Damit spricht die Beschwerdeführerin aber das sich im Rahmen des bestehenden Besuchsrechts äussernde Konfliktpotential an, welches mit der Frage des Sorgerechts nichts zu tun hat. 
Was die tatsachenbasierte Sachverhaltsprognose anbelangt, ob angesichts des chronischen Elternkonflikts die gemeinsame elterliche Sorge eine erhebliche Beeinträchtigung des Kindeswohls befürchten lässt und die Fortführung der Alleinsorge die Abwendung einer voraussehbaren Verschlechterung versprechen würde (BGE 142 III 197 E. 3.7 S. 200; Urteil 5A_186/2016 vom 2. Mai 2016 E. 4), kann aus den Modalitäten der Übergabe des Kindes nichts abgeleitet werden, was zwingend gegen die gemeinsame elterliche Sorge spräche, im Gegenteil: Nach den Feststellungen im angefochtenen Entscheid klappt das Besuchsrecht gut, auch die Übergabe des Kindes, zwar nicht durch die Eltern persönlich, aber durch die Vermittlung der Grossmutter, und es besteht an sich auch eine gute Vater-Kind-Beziehung. Es ist deshalb nicht zu sehen, weshalb die Eltern - gegebenenfalls durch Vermittlung der Beiständin - nicht auch für anstehende Entscheidungen in der Lebensplanung des Kindes eine Lösung finden sollten. Entsprechend den Sachverhaltsfeststellungen des Kantonsgerichts gehen sich die Eltern konsequent aus dem Weg und wollen sie sich nicht persönlich sehen. Die Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge setzt aber nicht zwingend voraus, dass sich die Eltern persönlich sehen (vgl. Urteil 5A_581/2016 vom 11. August 2016 E. 2.4.1, zur Publ. bestimmt; sodann BGE 142 III 1, wo im Zusammenhang mit einem Wegzug von Mutter und Kind nach Katar dem Begehren um Alleinzuteilung der elterlichen Sorge nicht stattgegeben wurde; siehe auch Votum Markwalder in der parlamentarischen Beratung zur Revision des Sorgerechts, AB 2012 N 1652). Die Kommunikation kann über schriftliche Kanäle oder vorliegend über die Grossmutter laufen, wie dies für die bislang zu regelnden Bereiche vonstatten geht; eine persönliche Begegnung der Eltern ist insofern entbehrlich, auch wenn sie im Interesse des Kindes an sich wünschenswert wäre. 
Was schliesslich den von der Beschwerdeführerin angesprochenen Loyalitätskonflikt anbelangt, so besteht dieser bereits jetzt, und zwar aufgrund der Unfähigkeit der Eltern zu direkter Kommunikation. In der Beschwerde wird nicht konkret dargetan, inwiefern die gemeinsame elterliche Sorge zu einer untragbaren Verschärfung des Loyalitätskonfliktes führen würde und deshalb mit dem Kindeswohl nicht zu vereinbaren wäre. 
 
6.   
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Beschwerde abzuweisen ist, soweit auf sie eingetreten werden kann. Zufolge gegebener formeller und materieller Voraussetzungen ist der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und sie ist durch den sie vertretenden Rechtsanwalt zu verbeiständen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Die Gerichtskosten sind der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG), jedoch einstweilen auf die Gerichtskasse zu nehmen. Der Gegenpartei ist kein entschädigungspflichtiger Aufwand entstanden. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.   
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und sie wird durch Rechtsanwalt Christian Affentranger verbeiständet. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, jedoch einstweilen auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Rechtsanwalt Christian Affentranger wird aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 2'000.-- entschädigt. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Luzern, 2. Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 17. November 2016 
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: von Werdt 
 
Der Gerichtsschreiber: Möckli