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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
6B_800/2018  
 
 
Urteil vom 18. Oktober 2018  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, 
Bundesrichter Oberholzer, 
Gerichtsschreiber Briw. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Julian Burkhalter, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Departement des Innern des Kantons Solothurn, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Interventions-Programm, Verfügung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 16. Juli 2018 (VWBES.2018.281). 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. X.________ (Jahrgang 1989) wurde am 7. Dezember 2012 vom Richteramt Solothurn-Lebern wegen vorsätzlicher Tötung und zahlreicher weiterer Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von 16 Jahren und 3 Monaten verurteilt und verwahrt. Auf seine Berufung hin hob das Obergericht des Kantons Solothurn die Verwahrung am 8. Mai 2014 auf und ordnete eine stationäre therapeutische Massnahme in einer geschlossenen Einrichtung gemäss Art. 59 Abs. 3 StGB an (ausführlich Urteil 6B_976/2018 heutigen Datums).  
 
1.2. X.________ befindet sich seit dem 9. Januar 2018 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Solothurn (vgl. Urteile 6B_656/2018 vom 28. Juni 2018, 6B_614/2018 und 6B_615/2018 vom 4. Juli 2018 sowie Urteile 6B_852/2018 und 6B_976/2018 heutigen Datums).  
 
1.3. Das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn wies am 16. Juli 2018 eine Beschwerde von X.________ betreffend "Interventions-Programm" ab.  
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen vom 20. August 2018, die Vorinstanz sei anzuweisen, die Sache an das Departement des Innern des Kantons Solothurn zur materiellen Prüfung zurückzuweisen, eventualiter habe die Vorinstanz die Sache materiell zu behandeln, subeventualiter sei eine Verletzung von Art. 3, 5 und 6 (i.V.m. Art. 13) EMRK festzustellen, subsubeventualiter sei die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen, subsubsubeventualiter seien die Ziff. 2 und 3 des vorinstanzlichen Dispositivs aufzuheben und ihm die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren; es sei ihm für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren. 
 
2.  
Die Beschwerdeberechtigung ergibt sich aus Art. 78 Abs. 2 lit. b in Verbindung mit Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG. Auf die Beschwerde ist trotz des infolge des Vollzugs der Disziplinarsanktion an sich fehlenden aktuellen Interesses grundsätzlich einzutreten (vgl. Urteil 6B_729/2018 vom 26. September 2018 E. 1). 
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz hält fest, aufgrund des fremdagressiven Verhaltens sei der Beschwerdeführer am 16. Mai 2018 in die Interventionsstufe versetzt worden. Das Interventionsprogramm sei ab dem 3. Juni 2018 ohne Miteinbezug des Sicherheitsdienstes vollzogen worden. Aufgrund des erneuten fremdaggressiven Verhaltens sei ihm am 6. Juni 2018 das Schreiben "Interventions-Programm" abgegeben worden. Das Departement sei am 25. Juni 2018 auf seine Beschwerde gegen dieses Schreiben nicht eingetreten. Gegen diesen Entscheid habe er frist- und formgerecht Beschwerde erhoben.  
Der Zuzug des Sicherheitsdienstes stelle eine Sicherheitsmassnahme der JVA/SO dar, welche die Rechte und Pflichten des Beschwerdeführers nicht im Sinne von § 20 des Verwaltungsrechtspflegegesetzes (VRG/SO; GS 124.11) beeinflusse. Es handle sich damit bei diesem Schreiben nicht um eine anfechtbare Verfügung. Das Departement sei zu Recht auf die Beschwerde nicht eingetreten und habe das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abgewiesen. Die Beschwerde erweise sich als unbegründet und sei abzuweisen. Der Prozess sei von Anfang an offensichtlich aussichtslos gewesen, sodass auch das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege vor Verwaltungsgericht abzuweisen sei. 
 
3.2. Der Beschwerdeführer macht Verletzungen der BV, der EMRK und des kantonalen Rechts geltend. Im Vordergrund stehe die Erniedrigung. Es gehe darum, ihm den letzten Teil seiner Würde zu nehmen, ihn zu demütigen und ihm den letzten, kleinsten Teil seiner verbliebenen Freiheit auf dem Hofgang zu nehmen, namentlich sich für kurze Zeit alleine und unbeobachtet an der frischen Luft zu bewegen. Diese Zielrichtung sei weder mit Art. 7 BV noch mit Art. 3 EMRK noch mit Art. 10 Abs. 3 BV zu vereinbaren. Anstatt ihm zu helfen, werde er in einem Hochsicherheitstrakt isoliert, sanktioniert und diszipliniert, ohne jeglichen Bezug zu seiner Krankheit. Da mit dem Zuzug des Sicherheitsdienstes seine persönliche Freiheit zusätzlich tangiert und verletzt werde, stelle es einen Akt der Rechtsverweigerung dar, auf die Beschwerde nicht einzutreten. Es werde ihm eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) verunmöglicht (Beschwerde S. 12).  
 
3.3. Das Dokument "Interventions-Programm für X.________ gilt ab 06.06.2018" beginnt mit folgendem Wortlaut:  
 
"Da Sie mit Ihrem destruktiven, aggressiven und bedrohlichen Verhalten den Vollzugsalltag in der B+T stören und das Millieutherapeutische Setting verweigern, werden Sie in ein Interventions-Programm versetzt. 
Zellenaufschluss wird vorläufig wegen Ihres fremdaggressiven Verhaltens nur in Anwesenheit des SiDi erfolgen. Die Aufschluss- und Einschlusszeiten werden von der Betreuung zusammen mit dem SiDi bestimmt. 
Sollten besondere Sicherungsmassnahmen notwendig sein, werden diese vom Bereichsleiter Sicherheitsdienst mit Absprache der WGL B+T initiiert. Es gelten die Kriterien des Justizvollzugsgesetzes (JUVG) nach § 25." 
 
Geregelt werden anschliessend Mahlzeiten ( "in Ihrer Zelle"), Mediabgabe ( "[...] durch die Essklappe der Zelle abgegeben. Die Einnahme erfolgt unter Sichtkontrolle der Betreuung."), Telefonieren, Körperpflege, Zellenordnung, Anpassung des Programms, Verstösse gegen die Stations- und Hausordnung. Das Dokument schliesst: "Wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich an die Abmachungen halten. Die Regeln der B+T werden eingehalten und Anweisungen diskussionslos befolgt. Datum: 06.06.2018." 
Wie die Vorinstanz hatte bereits das Departement in seiner Entscheidung vom 25. Juni 2018 ausgeführt, das "Interventions-Programm" sei keine anfechtbare Verfügung. Ferner befinde sich der Beschwerdeführer bereits seit dem 16. Mai 2018 in der Interventionsstufe, weshalb ein Erlass einer neuerlichen Verfügung nicht erforderlich gewesen sei. Es seien einzig die Vollzugsmodalitäten innerhalb der Interventionsstufe, namentlich die Begleitung der Zellöffnungen und des Hofgangs durch den Sicherheitsdienst angepasst worden. Zugegebenermassen erweise sich die Passage "in ein Interventionsprogramm versetzt werde" als unglücklich formuliert. 
 
3.4. Art. 91 Abs. 1 StGB sieht vor, dass gegen Gefangene und Eingewiesene, welche in schuldhafter Weise gegen Strafvollzugsvorschriften oder den Vollzugsplan verstossen, Disziplinarsanktionen verhängt werden können. Gemäss Abs. 3 erlassen die Kantone für den Straf- und Massnahmenvollzug ein Disziplinarrecht. Dieses umschreibt die Disziplinartatbestände, bestimmt die Sanktionen und deren Zumessung und regelt das Verfahren. Das "Stufenkonzept Massnahmenvollzug" der JVA/SO (Version 22.01.2018) legt die milieutherapeutische und die sozialtherapeutische Zielsetzung fest, regelt die Auf- und Rückstufung sowie insbesondere die Kriterien der "Stufe Intervention oder Time-out"; gemäss Ziff. 4 des Konzepts kann unkooperatives, destruktives Verhalten eine Rückstufung zur Folge haben.  
 
3.5. Die Massnahme gemäss Art. 59 StGB schränkt als strafrechtliche Zwangsmassnahme die persönliche Freiheit des Insassen ein und unterwirft ihn einem staatlichen Vollzugsregime. Das sogenannte "Interventions-Programm" führt in der vorliegenden Anwendung auf den Beschwerdeführer zu einer "zusätzlichen Freiheitsbeschränkung" (Art. 91 Abs. 3 StGB). Die Vorinstanz qualifiziert das fragliche Dokument als "Schreiben" ohne Verfügungsqualität. Sie stützt sich dazu auf § 20 VRG/SO, in welchem der "Begriff" der Verfügung definiert wird:  
Verfügungen und Entscheide sind Anordnungen von Behörden im Einzelfalle, die sich auf öffentliches Recht des Kantons oder des Bundes stützen und zum Gegenstand haben: 
a) Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten und Pflichten; 
b) Feststellung des Bestehens, Nichtbestehens oder Umfanges von Rechten oder Pflichten; 
c) Abweisung von Begehren auf Begründung, Änderung, Aufhebung oder Feststellung von Rechten oder Pflichten, oder Nichteintreten auf solche Begehren. 
 
§ 20 VRG/SO entspricht wörtlich der Begriffsbestimmung in Art. 5 Abs. 1 des BG über das Verwaltungsverfahren (VwVG; SR 172.021). Als Verfügungen gelten danach autoritative, einseitige, individuell-konkrete Anordnungen der Behörde, die in Anwendung von Verwaltungsrecht ergangen, auf Rechtswirkungen ausgerichtet sowie verbindlich und erzwingbar sind (BGE 139 V 72 E. 2.2.1 S. 75 f., 143 E. 1.2 S. 144 f.). Bei aller Formenvielfalt gilt die Verfügung als zentrales Handlungsinstrument eines Verwaltungsträgers zur Regelung von Rechten und Pflichten im Einzelfall. Die Verfügung ist die Anordnung einer Behörde, mit der im Einzelfall ein Rechtsverhältnis geregelt wird, in einseitiger und verbindlicher Weise, gestützt auf öffentliches Recht (TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2014, S. 237, 239). 
Das Disziplinarrecht bestimmt sich nach der Delegationsnorm von Art. 91 Abs. 3 StGB. Vollzugsverfügungen können in Anwendung kantonalen Rechts begrifflich nicht enger ausgelegt werden als im Bundesrecht. Im "Schreiben" werden zusätzliche Pflichten (Verhaltens- und Duldungspflichten) des Beschwerdeführers einseitig und hoheitlich begründet. Es handelt sich somit um eine (anfechtbare) Verfügung. Dass das Schreiben nicht den formellen Anforderungen einer Verfügung genügt, führt nicht zu einer anderen Entscheidung. Indem die Vorinstanz diesem die Verfügungsqualität abspricht und deshalb auf die Beschwerde nicht eintritt, verletzt sie Bundesrecht. 
 
4.  
Da es sich um einen prozessrechtlichen Entscheid handelt, der die Beurteilung in der Sache nicht präjudiziert, sowie unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots (Art. 29 Abs. 1 BV), ist auf eine Vernehmlassung zu verzichten (vgl. Urteil 6B_986/2016 vom 20. September 2017 E. 2.2). 
 
5.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist, das Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2 BGG). Es sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Solothurn ist zu verpflichten, dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist gegenstandslos geworden. Bei Gesuchen um unentgeltliche Rechtspflege ist die Entschädigung in analoger Anwendung von Art. 64 Abs. 2 BGG praxisgemäss dem Anwalt zuzusprechen. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 16. Juli 2018 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton Solothurn hat Rechtsanwalt Julian Burkhalter mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 18. Oktober 2018 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Briw