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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6P.31/2006 
6S.63/2006 /Rom 
 
Urteil vom 25. April 2006 
Kassationshof 
 
Besetzung 
Bundesrichter Schneider, Präsident, 
Bundesrichter Wiprächtiger, Kolly, 
Gerichtsschreiber Briw. 
 
Parteien 
X.________, 
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Franz Stämpfli, 
 
gegen 
 
Generalprokurator des Kantons Bern, Postfach 7475, 3001 Bern. 
 
Gegenstand 
6P.31/2006 
Art. 9 BV (Strafverfahren; willkürliche Beweiswürdigung), 
 
6S.63/2006 
Raub, 
 
Staatsrechtliche Beschwerde (6P.31/2006) und Nichtigkeitsbeschwerde (6S.63/2006) gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 1. Strafkammer, vom 24. November 2005. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern stellte am 24. November 2005 fest, dass das Urteil der Dreierkammer des oberländischen Jugendgerichtes insoweit in Rechtskraft erwachsen sei, als X.________ (Jahrgang 1986) verschiedener Straftaten schuldig erklärt wurde (sexuelle Nötigung, unrechtmässige Aneignungen, Sachbeschädigungen, Hausfriedensbrüche, Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz). Es sprach ihn in drei Anklagepunkten frei und fand ihn der Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz sowie eines nach Vollendung des 18. Altersjahres begangenen Raubes (Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) schuldig. 
 
Das Obergericht wies X.________ gestützt auf Art. 100bis StGB in eine Arbeitserziehungsanstalt ein und ordnete eine ambulante, den stationären Massnahmenvollzug begleitende Psychotherapie sowie eine Therapie für jugendliche Sexualstraftäter gemäss Art. 43 StGB an. 
B. 
X.________ erhebt Nichtigkeitsbeschwerde und subsidiäre staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts aufzuheben, die Sache zu neuer Entscheidung an dieses zurückzuweisen und den Beschwerden die aufschiebende Wirkung zu erteilen. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
Staatsrechtliche Beschwerde 
1. 
1.1 Der Beschwerdeführer rügt, das Obergericht habe auf die Meinung des Gutachters vom 25. November 2005 und nicht auf dessen Gutachten vom 24. November 2004 abgestellt. Das sei willkürlich. 
1.2 Das Obergericht beurteilt eine ambulante Massnahme aus verschiedenen Gründen als nicht mehr angezeigt und spricht sich für eine stationäre Massnahme aus, nämlich die Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt. Es begründet seine Auffassung ausführlich und sorgfältig (angefochtenes Urteil S. 65 - 69). Es bezieht das Gutachten vom 24. November 2004 in seine Beurteilung ein und berücksichtigt insbesondere die anlässlich der Appellationsverhandlung vom 24. November 2005 geäusserte Meinung des Gutachters, in welcher dieser seine Einschätzung änderte und eine stationäre Massnahme befürwortete (angefochtenes Urteil S. 66 mit Hinweis auf die kantonalen Akten). 
1.3 Das Gericht würdigt ein psychiatrisches Gutachten grundsätzlich frei (Art. 249 BStP). Es darf aber in Fachfragen nicht ohne triftige Gründe vom Gutachten abweichen und muss Abweichungen begründen. Das Abstellen auf nicht schlüssige Gutachten kann gegen Art. 9 BV verstossen, wenn gewichtige, zuverlässig begründete Tatsachen oder Indizien die Überzeugungskraft des Gutachtens ernstlich erschüttern. Willkür liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation im klaren Widerspruch stehen, auf einem offenkundigen Fehler beruhen oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen (BGE 129 I 49 E. 4; ausführlich dazu Hans Wiprächtiger, Psychiatrie und Strafrecht - Was erwartet der Jurist?, in: Gerhard Ebner/Volker Dittmann/Bruno Gravier/Klaus Hoffmann/René Raggenbass [Hrsg.], Psychiatrie und Recht, Zürich 2005, S. 207). 
 
Das Obergericht weist den Beschwerdeführer in eine Arbeitserziehungsanstalt gemäss Art. 100bis StGB ein (Bereits das erstinstanzliche Jugendgericht hatte angeordnet, die Massnahme der Unterbringung in einem Erziehungsheim in einer Arbeitserziehungsanstalt zu vollziehen). Es prüft die Meinung des Gutachters und bezieht weitere Elemente, die gegen eine ambulante und für die stationäre Massnahme sprechen, in seine Würdigung ein. Dabei stellt es letztlich nicht auf das Gutachten vom 24. November 2004, sondern auf die Aussagen des Gutachters vor dem Obergericht ab. Richtigerweise hatte es diesen zur Hauptverhandlung eingeladen, weil bei jungen Menschen die während eines ganzen Jahres erfolgte Entwicklung von entscheidender Bedeutung sein kann. Der Gutachter zeigte diese Entwicklung des Beschwerdeführers nachvollziehbar und plausibel auf, so dass es für das Obergericht keine triftigen Gründe gab, von dieser Meinung abzuweichen. Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, erschöpft sich in einer appellatorischen Kritik insofern, als er schlicht seine eigene Auffassung derjenigen des Obergerichts gegenüberstellt und diese nicht einmal weiter belegt (etwa dass die Lehre nicht von ihm abgebrochen worden sei und dass er eine normale Beziehung zum anderen Geschlecht habe aufbauen können). Dem Bericht von Dr. Entzer musste das Obergericht nicht die vom Beschwerdeführer gewünschte Bedeutung beimessen, weil dem behandelnden Therapeuten die für eine Begutachtung erforderliche Neutralität fehlt (vgl. BGE 128 IV 241 E. 3.2). Schliesslich durfte das Obergericht, ohne in Willkür zu verfallen, auf die mündlichen Ausführungen des Gutachters abstellen. Dieser hatte den Beschwerdeführer vor einem Jahr sorgfältig und eingehend begutachtet. Ihm war die Persönlichkeitsstruktur deshalb bekannt. Die Beschwerde ist unbegründet. 
2. 
Der Beschwerdeführer begründet den Vorwurf einer willkürlichen Strafzumessung nicht. In diesem Punkt ist auf die Beschwerde nicht einzutreten (Art. 90 Abs. 1 lit b OG). Soweit er damit eine Frage des Bundesrechts aufwirft (Art. 63 StGB), kann darauf nicht eingetreten werden, weil diese Rüge mit Nichtigkeitsbeschwerde vorgetragen werden müsste (Art. 269 Abs. 1 BStP). 
 
 
Nichtigkeitsbeschwerde 
3. 
Der Beschwerdeführer ficht den Schuldspruch wegen Raubes an. 
 
Wie die Vorinstanz feststellt, hat der Beschwerdeführer nicht als erstes die Handtasche ergriffen, sondern die Frau von hinten gepackt und zu Boden gedrückt. Es fand ein zwar kurzes, aber recht heftiges Handgemenge statt. Vorherrschendes Moment war nicht die Überraschung des Opfers, obwohl diese eine gewisse Rolle spielte und beabsichtigt war, sondern die Ausübung physischer Gewalt. Der Beschwerdeführer übte von Beginn an gegen das Opfer selber und direkt körperlichen Zwang aus, indem er das schreiende Opfer heftig packte und mit Kraft zu Boden drückte. Dieses schätzte den Angreifer nach anfänglichem Wehren als körperlich überlegen ein, stellte deshalb die Gegenwehr ein und musste sich die Handtasche wegreissen lassen. In subjektiver Hinsicht stellt die Vorinstanz fest, dass der Beschwerdeführer das Opfer überfallen und ihm die Handtasche wegreissen wollte, weil er kein Geld mehr hatte (angefochtenes Urteil S. 46, 48 f.). 
 
Den Tatbestand des Raubes im Sinne von Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB erfüllt, wer mit Gewalt gegen eine Person einen Diebstahl begeht. Unter Gewalt ist die unmittelbare physische Einwirkung auf den Körper des Opfers zu verstehen (vgl. BGE 81 IV 224; 107 IV 107 E. 3b und c). Im Unterschied zu Art. 139 Ziff. 1 aStGB muss die Nötigungshandlung den Betroffenen nicht widerstandsunfähig machen. Den Tatbestand von Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB erfüllt bereits, wer das Opfer durch Gewalt veranlasst, die Wegnahme einer Sache zu dulden (BGE 6S.102/1997 vom 18. April 1997 E. 1c; Günter Stratenwerth/ Guido Jenny, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil, 6. Auflage, Bern 2003, § 13 N. 117). Massgeblich erscheint die Intensität der Gewalt, weil es sich bei Art. 140 StGB um eine qualifizierte Nötigung handelt (Marcel Alexander Niggli/Christof Riedo, Strafgesetzbuch II, Basler Kommentar, Art. 140 N. 19). 
 
Entscheidend ist die vorinstanzliche Feststellung, dass der Beschwerdeführer gegen das Opfer selber direkten körperlichen Zwang ausübte. Er musste zuerst den Widerstand des Opfers brechen. Damit ist kein Entreissdiebstahl anzunehmen, der vorläge, wenn das Opfer infolge der Überraschung keine Gegenwehr zu entwickeln vermocht hätte (Niggli/Riedo, a.a.O., Art. 140 N. 21). Das Überraschungsmoment spielte hier eine untergeordnete Rolle. Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, die Gewaltanwendung habe nur eine "sehr geringe Intensität" aufgewiesen, richtet er sich in unzulässiger Weise gegen die vorinstanzlichen Feststellungen (Art. 273 Abs. 1 lit. B BStP). In subjektiver Hinsicht ist entgegen seiner Auffassung keine Verletzungsabsicht erforderlich. Vielmehr ist, wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, ein Vorsatz erforderlich, der sich insbesondere auf die Ausführung der Nötigungshandlung gegenüber dem Opfer zum Zwecke eines Diebstahls sowie auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale des Diebstahls selbst beziehen muss. Die Beschwerde ist unbegründet. 
 
 
Kosten 
4. 
Die Beschwerden sind abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Der unterliegende Beschwerdeführer trägt die Kosten vor Bundesgericht (Art. 156 Abs. 1 StGB; Art. 278 Abs. 1 BStP). Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden keine Entschädigungen ausgerichtet. 
 
Mit dem Entscheid in der Sache ist das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos geworden. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde und die Nichtigkeitsbeschwerde werden abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 4'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Generalprokurator des Kantons Bern und dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 25. April 2006 
Im Namen des Kassationshofes 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: