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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_829/2010 
 
Urteil vom 16. Februar 2011 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichterin Niquille, Bundesrichter Maillard, 
Gerichtsschreiberin Durizzo. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
L.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Roger Zenari, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 12. August 2010. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Mit Verfügung vom 24. Juni 2009 lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau den Anspruch des L.________, geboren 1954, auf eine Invalidenrente ab mit der Begründung, dass er gemäss Gutachten der Medizinischen Abklärungsstation (MEDAS) des Spitals O.________ vom 20. November 2008 zwar nicht mehr seinem angestammten Beruf als Rohrschweisser nachgehen könne, in einer leidensangepassten Tätigkeit jedoch zu 100 % arbeitsfähig sei und ein rentenausschliessendes Einkommen zu erzielen vermöchte (Invaliditätsgrad: 34 %). 
 
B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 12. August 2010 teilweise gut und sprach L.________ mit Wirkung ab 1. April 2004 eine halbe Invalidenrente zu. 
 
C. 
Die IV-Stelle des Kantons Aargau führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Verfügung vom 24. Juni 2009 zu bestätigen. Des Weiteren ersucht sie um Gewährung der aufschiebenden Wirkung ihrer Beschwerde. 
Während L.________ auf Abweisung der Beschwerde schliessen lässt, eventualiter, im Falle einer Gutheissung der Beschwerde, die Rückweisung der Sache zu weiteren medizinischen Abklärungen beantragt, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann daher gemäss Art. 95 und 96 BGG nur wegen Rechtsverletzung erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Feststellung des Sachverhaltes durch die Vorinstanz kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). 
 
1.2 Die Feststellung des Gesundheitsschadens, d.h. die Befunderhebung, die gestützt darauf gestellte Diagnose, die ärztliche Stellungnahme zu dem noch vorhandenen Leistungsvermögen oder (bei psychischen Gesundheitsschäden) zur Verfügbarkeit von Ressourcen der versicherten Person sowie die aufgrund der medizinischen Untersuchungen gerichtlich festgestellte Arbeits(un)fähigkeit betreffen Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398), welche sich nach der dargelegten Regelung der Kognition einer Überprüfung durch das Bundesgericht weitgehend entziehen. 
 
2. 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 2 IVG), zur Aufgabe des Arztes im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 132 V 93 E. 4 S. 99; 125 V 256 E. 4 S. 261 f.; vgl. auch AHI 2002 S. 62, I 82/01 E. 4b/cc) sowie zum Beweiswert von Arztberichten und medizinischen Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3 S. 352 ff.) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
 
3. 
3.1 Die Beschwerde führende IV-Stelle rügt zunächst, die Vorinstanz gehe zu Unrecht davon aus, dass der Versicherte nur zu 70 % arbeitsfähig sei. 
Bei der von den MEDAS-Gutachtern genannten Leistungseinbusse um 30 % handelt es sich nach Auffassung der IV-Stelle nicht um einen Gesundheitsschaden, sondern vielmehr lasse sich diese Einschränkung einzig auf eine Dekonditionierung zurückführen, was indessen invalidenversicherungsrechtlich unbeachtlich sei. Die IV-Stelle macht geltend, dass die physische Kondition des Beschwerdegegners durch Aufnahme einer sportlichen Aktivität aufgebaut werden könne, was eine geeignete und zumutbare Massnahme zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit darstelle und seiner Pflicht zur Selbsteingliederung obliege, wofür er keiner Unterstützung von Seiten der IV-Stelle bedürfe. Es liege somit kein invalidisierender Gesundheitsschaden vor. 
 
3.2 Gemäss Gutachten des Spitals O.________ leidet der Versicherte unter schmerzhaften Funktionseinschränkungen der Schultergelenke bei degenerativen Veränderungen und Zustand nach zweimaliger arthroskopischer Operation der linken Schulter bei subacrominaler Enge, chronisch-rezidivierenden Beschwerden der Wirbelsäule bei Fehlstatik, Haltungsinsuffizienz, muskulärem Hartspann und ver-schmächtigter Rumpfmuskulatur, wobei die Ischiokruralmuskulatur beidseits erheblich verkürzt war, einer stabilen koronaren 2-Gefässkrankheit (PTCA-Stentings am 16. Mai und am 25. September 2007) sowie einer Claudicatiosymptomatik Stadium II b Oberschenkel rechts nach Anlage eines Veneninterponats bei traumatischem Verschluss der Arteria femoralis communis rechts 1988. Ein Meniskusriss links sowie eine beginnende Gonarthrose beidseits wirkten sich zufolge aktuell freier Funktion beider Kniegelenke nicht auf die Arbeitsfähigkeit aus, ebenso wenig muskuloskelettale Schmerzen unklarer Ursache, eine ängstlich-depressive Störung gemischt bei sozialer und körperlicher Belastungssituation, ein Zustand nach Kataraktoperation beidseits sowie ein aktenanamnestischer Verschluss der Arteria carotis externa links; erwähnt wurde weiter eine aktuell antibiotisch behandlungsbedürftige Diarrhoe (ev. Divertikulitis). 
Die Gutachter waren der Auffassung, dass für körperlich leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten ab sofort eine volle Arbeitsfähigkeit mit vorübergehender Einschränkung der Leistungsfähigkeit von 30 % bestehe. Die nach Einengung des Belastungs- bzw. Zumutbarkeitsprofils verbleibende Verminderung der Restarbeitsfähigkeit ergebe sich ausschliesslich aus der orthopädischen Beurteilung. Diese Einschätzung komme derjenigen der BEFAS und der Orthopädie des Spitals M.________ sehr nahe, was nach objektiv erfolgreichen Behandlungen des Schulterimpingements links und der koronaren Herzkrankheit sowie unter nunmehr fünfjähriger ambulanter psychiatrischer Behandlung in der Muttersprache des Versicherten auch zu erwarten sei. 
Auf die Frage nach unausgeschöpften therapeutischen Optionen, die die Arbeitsfähigkeit des Versicherten wesentlich zu steigern vermöchten, gaben die Gutachter an, dass die Aufnahme sportlicher Freizeitaktivitäten (im Rahmen eines Cardio-Trainings, Gymnastik) sinnvoll wäre; verkürzte Muskelstrukturen müssten unbedingt gedehnt werden. Mit diesen Massnahmen liesse sich die derzeit auch in angepasster Tätigkeit reduzierte Leistungsfähigkeit binnen Jahresfrist auf 100 % steigern. 
 
3.3 Nach den Feststellungen der Vorinstanz ist der Versicherte gestützt auf die Einschätzung der Gutachter des Spitals O.________ zu 100 % arbeitsfähig, die Leistungsfähigkeit ist aktuell indessen um 30 % eingeschränkt. Dass es sich dabei um eine vorübergehende Leistungseinbusse handle und der Versicherte innerhalb eines Jahres in der Lage sei, das Pensum auf 100 % zu steigern, erachtete das kantonale Gericht als Prognose, welche im Rahmen einer Rentenrevision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG zu überprüfen sei. Hinsichtlich des Rentenanspruchs ab dem 1. April 2004 bis zum Zeitpunkt der Verfügung vom 24. Juni 2009, welcher für die richterliche Überprüfung massgeblich ist (BGE 129 V 167 E. 1 S. 169), ging es indessen von einem zumutbaren 70 %-Pensum aus. 
Damit ist die Vorinstanz gestützt auf das Gutachten des Spitals O.________ zur Überzeugung gelangt, dass während des hier zu beurteilenden Zeitraums eine Leistungsfähigkeit von (lediglich) 70 % bestand; indessen sah sie keine hinreichend fassbaren Anhaltspunkte dafür, dass der Versicherte sein Pensum allein mit den genannten sportlichen Freizeitaktivitäten bereits hätte steigern können und zweifelte somit an der diesbezüglichen Prognose der Gutachter zumindest insofern, als zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung am 24. Juni 2009 und mit Blick auf die rückwirkend zuzusprechende Rente eine 100%ige Arbeitsfähigkeit nicht gegeben war. 
 
3.4 Das kantonale Gericht hat in seine Würdigung auch die vom Versicherten veranlassten Gutachten des Dr. med. P.________, Orthopädische Chirurgie FMH, vom 13. Dezember 2009 und des Dr. med. K.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 11. Dezember 2009 mit einbezogen, welche dem Versicherten eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit um 40 % attestieren. Ihrer Auffassung nach ist eine zeitliche Begrenzung der Leistungseinbusse nicht nachvollziehbar, da chronische degenerative Befunde vorliegen würden, die nicht geheilt beziehungsweise nicht erfolgreich behandelt werden könnten. 
Anzufügen ist in diesem Zusammenhang, dass das Gericht rechtsprechungsgemäss Gutachten externer Spezialärzte, welche von Versicherungsträgern im Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholt wurden und den Anforderungen der Rechtsprechung entsprechen, vollen Beweiswert zuerkennen darf, solange "nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit" der Expertise sprechen (BGE 135 V 465 E. 4.4 S. 469 f.). Was Parteigutachten anbelangt, rechtfertigt der Umstand allein, dass eine ärztliche Stellungnahme von einer Partei eingeholt und in das Verfahren eingebracht wird, nicht Zweifel an ihrem Beweiswert (BGE 125 V 351 E. 3b/dd S. 353). Auch ein Parteigutachten enthält somit Äusserungen eines Sachverständigen, welche zur Feststellung eines medizinischen Sachverhalts beweismässig beitragen können. Daraus folgt indessen nicht, dass ein solches Gutachten den gleichen Rang wie ein vom Gericht oder von einem Unfallversicherer (beziehungsweise von der Invalidenversicherung) nach dem vorgegebenen Verfahrensrecht eingeholtes Gutachten besitzt. Es verpflichtet indessen - wie jede substanziiert vorgetragene Einwendung gegen ein solches Gutachten - das Gericht, den von der Rechtsprechung aufgestellten Richtlinien für die Beweiswürdigung folgend, zu prüfen, ob es in rechtserheblichen Fragen die Auffassungen und Schlussfolgerungen des vom Gericht oder vom Unfallversicherer förmlich bestellten Gutachters derart zu erschüttern vermag, dass davon abzuweichen ist (BGE 125 V 351 E. 3c S. 354). 
Dies ist vorliegend nicht der Fall, zumal die Privatgutachter in der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit nur unwesentlich vom MEDAS-Gutachten abweichen; dieses erfüllt nach den Feststellungen des kantonalen Gerichts hinsichtlich seines Beweiswerts die rechtsprechungsgemäss massgebenden Anforderungen in jeder Hinsicht. 
Immerhin findet somit die vorinstanzliche Beurteilung der Arbeitsfähigkeit im hier massgeblichen Zeitraum Bestätigung auch durch das Privatgutachten, worauf vernehmlassungsweise zu Recht hingewiesen wird. 
 
3.5 Schliesslich sind auch die Berufsberater nach einem Aufenthalt des Versicherten in der Beruflichen Abklärungsstelle BEFAS Stiftung I.________ im Juni 2006 zum Schluss gekommen, dass der Versicherte bei leichten, wechselbelastenden Tätigkeiten ganztags arbeitsfähig, die Gesamtleistung jedoch zufolge notwendiger Entlastungspausen auf 60 % reduziert sei (Bericht vom 18. Juli 2006). 
 
3.6 Zusammengefasst hat das kantonale Gericht bei seinen Erwägungen in Betracht gezogen, dass die von der IV-Stelle beigezogenen externen Spezialärzte aktuell eine um 30 % eingeschränkte Leistungsfähigkeit attestierten, welche nach ihrer Prognose in Zukunft kompensiert werden könne, dass die Privatgutachter von einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeit von 40 % ausgingen und dass sich auch anlässlich der beruflichen Abklärung eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit um 40 % ergab. 
Unter Berücksichtigung der geschilderten Umstände lässt sich eine offensichtliche Unrichtigkeit der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung, wonach zum Zeitpunkt der Verfügung vom 24. Juni 2009 eine Arbeitsfähigkeit von 70 % bestand und diesbezüglich eine allfällige Steigerung im Rahmen eines Revisionsverfahrens zu prüfen sei, nicht begründen, weshalb das Bundesgericht daran gebunden ist. 
 
4. 
Die IV-Stelle rügt im Zusammenhang mit den erwerblichen Auswirkungen des Gesundheitsschadens, dass dem Versicherten zu Unrecht ein leidensbedingter Abzug vom Tabellenlohn gewährt worden sei. Allein auf diese Kritik ist nicht näher einzugehen, da bei einem unbestrittenen Valideneinkommen von Fr. 81'600.- und dem auf der 70%igen Arbeitsfähigkeit basierenden Invalideneinkommen von Fr. 38'539.- selbst bei Nichtgewährung eines 10%igen Abzuges ein Invaliditätsgrad von gerundet 53 % resultieren würde. Am vorinstanzlichen Ergebnis, wonach der Beschwerdeführer Anspruch auf eine halbe Rente hat, würde sich mithin nichts ändern, was insgesamt zur Abweisung der Beschwerde führt. 
 
5. 
Das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde wird mit dem heutigen Urteil gegenstandslos. 
 
6. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem Prozessausgang entsprechend der IV-Stelle auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG); des Weiteren hat sie dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3. 
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 16. Februar 2011 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: 
 
Ursprung Durizzo