Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess {T 7} 
C 132/06 
 
Urteil vom 19. Oktober 2006 
III. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Ferrari, Bundesrichter Lustenberger und Seiler; Gerichtsschreiberin Schüpfer 
 
Parteien 
S.________, 1954, Beschwerdeführer, vertreten 
durch Rechtsanwalt Giovanni Schramm, St. Leonhardstrasse 32, 9001 St. Gallen, 
 
gegen 
 
Amt für Wirtschaft und Arbeit, 
Abteilung Arbeitslosenkasse, Zürcherstrasse 285, 8500 Frauenfeld, Beschwerdegegner 
 
Vorinstanz 
Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung, Eschlikon 
 
(Entscheid vom 23. Februar 2006) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1954 geborene S.________ war seit 15. September 2001 als Autolackierer bei der Firma X.________ & Co. angestellt, nachdem er bereits von 1980 bis 1996 in der gleichen Firma tätig gewesen war. Ab November 2003 wurde sein Lohn nur noch unregelmässig bezahlt. Mit Schreiben vom 31. August 2004 liess er seine Arbeitgeberin schriftlich um unverzügliche Überweisung der offenen Beträge ersuchen. Nachdem keinerlei Reaktion erfolgte, löste er das Arbeitsverhältnis am 14. September fristlos auf und liess die Lohnforderung erneut schriftlich anmahnen. In der Folge klagte er am 6. Oktober 2004 einen Betrag von Fr. 47'606.95 nebst Zins ein, welcher anlässlich des Vermittlungsvorstandes vom 28. Oktober 2004 von der Schuldnerin anerkannt wurde. Man vereinbarte eine Zahlung in vier Monatsraten, erstmals fällig am 30. November 2004. Nach Ausbleiben der Rate erfolgte wiederum eine schriftliche Mahnung und im Januar die Betreibung der Arbeitgeberin. Am 24. Januar 2005 wurde über die Firma X.________ & Co. der Konkurs eröffnet. S.________ liess eine Forderung von Fr. 40'388.- im Konkurs eingeben und stellte am 11. Februar 2005 für seine offene Lohnforderung, inklusive Anteil 13. Monatslohn und Ferien, in der Zeit vom 15. Mai bis 14. September 2004 Antrag auf Insolvenzentschädigung im Gesamtbetrag von Fr. 23'962.-. Die Arbeitslosenkasse des Amtes für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Thurgau lehnte das Gesuch mit Verfügung vom 25. April 2005 und der Begründung ab, der Versicherte habe seine Lohnforderungen gegenüber seinem früheren Arbeitgeber nicht oder nur in ungenügender Weise geltend gemacht, womit er seine Schadenminderungspflicht verletzt habe. Daran hielt die Kasse auch auf Einsprache hin fest (Entscheid vom 24. Mai 2005). 
B. 
Die Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung wies die dagegen erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 23. Februar 2006). 
C. 
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, in Aufhebung des Einspracheentscheides vom 24. Mai 2005 und des kantonalen Entscheides vom 23. Februar 2006 sei die Sache an die Arbeitslosenkasse zurückzuweisen, damit diese über seinen Anspruch auf Insolvenzentschädigung neu verfüge. 
Die kantonale Rekurskommission und die Arbeitslosenkasse lassen sich mit dem Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen. Das Staatssekretariat für Wirtschaft verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1. 
Im vorinstanzlichen Entscheid werden die gesetzlichen Bestimmungen über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 AVIG), den Umfang des Anspruchs (Art. 52 Abs. 1 AVIG in der seit 1. Juli 2003 gültigen Fassung) sowie über die Pflichten des Arbeitnehmers im Konkurs- oder Pfändungsverfahren (Art. 55 Abs. 1 AVIG; BGE 114 V 59 Erw. 3d; ARV 2002 Nr. 8 S. 62 ff. und Nr. 30 S. 190 ff., 1999 Nr. 24 S. 140 ff.) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Richtig verweist die kantonale Rekurskommission auch auf die Bestimmung von Art. 55 Abs. 1 AVIG, wonach der Arbeitnehmer im Konkurs- oder Pfändungsverfahren alles unternehmen muss, um seine Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber zu wahren. Sie bezieht sich dem Wortlaut nach auf das Konkurs- und Pfändungsverfahren, bildet jedoch Ausdruck der allgemeinen Schadenminderungspflicht, welche auch dann Platz greift, wenn das Arbeitsverhältnis vor der Konkurseröffnung aufgelöst wird (BGE 114 V 60 Erw. 4; ARV 1999 Nr. 24 S. 140 ff.). Sie obliegt der versicherten Person in reduziertem Umfang schon vor der Auflösung des Arbeitsverhältnisses, wenn der Arbeitgeber der Lohnzahlungspflicht nicht oder nur teilweise nachkommt und mit einem Lohnverlust zu rechnen ist (ARV 2002 Nr. 30 S. 190). 
2. 
Aufgrund der Akten ist davon auszugehen, dass der Lohn des Beschwerdegegners bis Oktober 2003 ordnungsgemäss bezahlt wurde. Nach unwidersprochener Darstellung des Beschwerdeführers wurde ihm nach mündlicher Intervention im Januar 2004 eine Teilzahlung von Fr. 2000.- ausgerichtet und der Februarlohn im Betrag von Fr. 4337.85 vollständig bezahlt. Nachdem die Lohnzahlung für März wiederum ausblieb, erhielt er im April eine Zahlung von Fr. 8000.-. Im Juli gingen dem Beschwerdeführer schliesslich noch Fr. 2000.- zu. Seinen Angaben zufolge hat er die Ehefrau des Firmeninhabers wiederholt mündlich gemahnt. Es seien ihm Zusicherungen gemacht worden, die Ausstände würden beglichen. Diesen habe er auch deshalb Glauben geschenkt, weil er immer genügend Arbeit hatte und daher von einer guten Auftragslage hatte ausgehen können. 
3. 
3.1 Auch eine ursprüngliche Leistungsverweigerung infolge Verletzung der Schadenminderungspflicht im Sinne der zu Art. 55 Abs. 1 AVIG ergangenen Rechtsprechung (Erw. 1) setzt voraus, dass dem Versicherten ein schweres Verschulden, also vorsätzliches oder grobfahrlässiges Handeln oder Unterlassen vorgeworfen werden kann (Urteil S. vom 13. März 2006, C 256/05 und F. vom 6. Februar 2006, C 230/05 mit Hinweis auf Urs Burgherr, Die Insolvenzentschädigung, Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers als versichertes Risiko, Diss. Zürich 2004, S. 166 und Fn 640). Das Ausmass der vorausgesetzten Schadenminderungspflicht richtet sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls. Vom Arbeitnehmer wird in der Regel nicht verlangt, dass er bereits während des bestehenden Arbeitsverhältnisses gegen den Arbeitgeber Betreibung einleitet oder eine Klage einreicht. Er hat jedoch seine Lohnforderung gegenüber dem Arbeitgeber in eindeutiger und unmissverständlicher Weise geltend zu machen (ARV 2002 Nr. 30 S. 190). Zu weitergehenden Schritten ist die versicherte Person dann gehalten, wenn es sich um erhebliche Lohnausstände handelt und sie konkret mit einem Lohnverlust rechnen muss. Denn es geht auch für die Zeit vor Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht an, dass die versicherte Person ohne hinreichenden Grund während längerer Zeit keine rechtlichen Schritte zur Realisierung erheblicher Lohnausstände unternimmt, obschon sie konkret mit dem Verlust der geschuldeten Gehälter rechnen muss (Urteile F. vom 6. Februar 2006. C 270/05; B. vom 20. Juli 2005, C 264/04; G. vom 14. Oktober 2004, C 114/04, und G. vom 4. Juli 2002, C 33/02). 
3.2 Wird der Arbeitgeber zahlungsunfähig, so kann der Arbeitnehmer gemäss Art. 337a OR das Arbeitsverhältnis fristlos auflösen, sofern ihm für seine Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis nicht innert angemessener Frist Sicherheit geleistet wird. Dem Arbeitnehmer steht mit der obigen Bestimmung die Möglichkeit offen, zu verhindern, dass er dem Arbeitgeber auf unbestimmte Zeit Kredit gewährt und das Risiko trägt, die Gegenleistung nicht zu erhalten (BGE 120 II 212 Erw. 6a). Es kann von ihm jedoch nicht unter dem Titel der Schadenminderungspflicht (BGE 129 V 463 Erw. 4.2, 123 V 233 Erw. 3c mit Hinweisen) verlangt werden, diesen Schritt zu machen (SVR 2005 ALV Nr. 10 S. 30 [Urteil N. vom 15. April 2005, C 214/04]). Der Beschwerdeführer war daher zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht verpflichtet, und es existiert im Arbeitslosenversicherungsgesetz auch keine Sanktion für eine nicht bestehende Pflicht. Um zu verhindern, dass der Arbeitnehmer beliebig lange ohne Lohn beim bisherigen Arbeitgeber bleibt, hat der Gesetzgeber in Art. 52 Abs. 1 AVIG eine zeitliche Limite für die Bezugsdauer der Insolvenzentschädigung gesetzt. Spätestens nach vier Monaten ohne Lohn ist es dem Arbeitnehmer demnach aus arbeitslosenversicherungsrechtlicher Sicht nicht mehr zumutbar, das Arbeitsverhältnis mit dem insolventen Arbeitgeber weiterzuführen (SVR 2005, AlV Nr. 10 S. 31 f. Erw. 5.3, C 214/04 und Urteil B. vom 20. Juli 2005, C 264/04). Verbleibt er ohne Lohnbezug über diesen Zeitraum hinaus beim bisherigen Arbeitgeber, anstatt sich nach einer neuen Beschäftigung umzusehen, handelt er auf eigenes Risiko (Urteil F. vom 6. Februar 2006, C 270/05). 
3.3 Im Lichte dieser Rechtsprechung kann dem Beschwerdeführer nicht zur Last gelegt werden, dass er bis zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses keine rechtlichen Schritte (Betreibung, Klage) zur Realisierung der Lohnforderung unternommen hat. Bis zur schriftlichen Mahnung der Lohnausstände am 31. August 2004, auf welche dann innert zwei Wochen die fristlose Auflösung des Arbeitsverhältnisses folgte, hatte der Arbeitnehmer immer wieder Teil- und Abschlagszahlungen erhalten. Zu berücksichtigen ist auch, dass er nach eigenen unwidersprochenen Angaben selbst immer genügend Arbeit hatte, sodass er von einer befriedigenden Auftragslage ausgehen konnte und nicht mit einem Totalverlust rechnen musste. Zudem war er insgesamt während einer sehr langen Zeit bei der Firma X.________ & Co. beschäftigt, sodass sich im übersichtlichen Carrosseriebetrieb unweigerlich ein gewisses Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte. Es bestand für den Beschwerdeführer daher kein zwingender Anlass, den Zusicherungen, es handle sich nur um einen momentanen Liquiditätsengpass, zu misstrauen und bereits vor der Auflösung des Arbeitsverhältnisses rechtliche Schritte zur Realisierung der Lohnforderung zu unternehmen. Dass er seine Forderungen jeweils "in eindeutiger und unmissverständlicher Weise" (vgl. Erw. 3.1) geltend gemacht hatte, ist durch die Teil- und Abschlagszahlungen belegt, die jeweils auf die mündliche Intervention erfolgten. Als er schliesslich im August mit einem Lohnverlust rechnen musste, hat er sich um rechtliche Hilfe bemüht, worauf die mandatierte Rechtschutzversicherung auch schnell und konsequent handelte. Inwiefern er "zweifellos dazu beigetragen hat, dass die nachmalige Konkurseröffnung hinausgezögert wurde", wie die kantonale Rekurskommission ausführt, ist nicht ersichtlich und wird im angefochtenen Entscheid auch nicht näher ausgeführt. In der Zeit nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses unternahm der Beschwerdeführer sodann ohne Verzug die notwendigen rechtlichen Schritte zur Realisierung seiner Forderung. Bereits drei Wochen nach der Kündigung hatte er eine Forderungsklage eingereicht und war auch innert nützlicher Frist zur Zwangsvollstreckung geschritten, als die vereinbarte Ratenzahlung nicht geleistet worden war. Soweit eine Verletzung der Schadenminderungspflicht überhaupt anzunehmen wäre, wiegt sie nach den gesamten Umständen jedenfalls nicht derart schwer, dass sie mit einer Leistungsverweigerung zu sanktionieren wäre. 
4. 
Nach dem Gesagten ist die Sache an die Arbeitslosenkasse zurückzuweisen, damit sie die weiteren Anspruchsvoraussetzungen prüfe und über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung neu verfüge. 
5. 
Da es um Versicherungsleistungen geht, ist das Verfahren kostenlos (Art. 134 OG). Entsprechend dem Ausgang des Prozesses hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung zu Lasten der Beschwerdegegnerin (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
1. 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid der Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung vom 23. Februar 2006 und der Einspracheentscheid des Amtes für Wirtschaft und Arbeit, Abteilung Arbeitslosenkasse, vom 24. Mai 2005 aufgehoben und die Sache wird an die Arbeitslosenkasse des Kantons Thurgau zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung neu verfüge. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Der Beschwerdegegner hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Die Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung, dem Amt für Wirtschaft und Arbeit, Abteilung Rechtsdienst und Entscheide, Frauenfeld, und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt. 
Luzern, 19. Oktober 2006 
 
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Der Präsident der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: