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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
C 270/05 
 
Urteil vom 6. Februar 2006 
III. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiberin Schüpfer 
 
Parteien 
F.________, 1951, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Marco Büchel, Freudenbergstrasse 24, 9242 Oberuzwil, 
 
gegen 
 
Amt für Wirtschaft und Arbeit, Arbeitslosenkasse, Zürcherstrasse 285, 8510 Frauenfeld, Beschwerdegegner 
 
Vorinstanz 
Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung, Eschlikon 
 
(Entscheid vom 28. Juli 2005) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1981 geborene F.________ war seit 10. Oktober 2001 als Marketingassistent bei S.________ tätig. Ab Januar 2002 erhielt er keinen Lohn mehr. Das Arbeitsverhältnis wurde auf den 31. August 2002 aufgelöst; der letzte Arbeitstag war der 31. Juli 2002. Am 29. Juli 2002 stellte S.________ in eigenem Namen und als Geschäftsführer der Gesellschaft X.________ GmbH sowie der Gesellschaft Y.________ GmbH dem F.________ eine Schuldanerkennung über den Betrag von Fr. 40'000.- aus, wobei als Fälligkeitstermin der 30. September 2002 vereinbart wurde. F.________ ersuchte am 26. September/13. Oktober 2003 - unter Hinweis auf eine Pfändungsurkunde vom 9. Juli 2003, welche ausstehende Forderungen in Höhe von Fr. 36'826.- ausweise - um Ausrichtung von Insolvenzentschädigung für im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. August 2002 entgangene Löhne. Mit Verfügung vom 25. November 2003 wies die Arbeitslosenkasse des Kantons Thurgau diesen Anspruch mit der Begründung ab, der Versicherte habe sich sowohl während des noch laufenden Arbeitsverhältnisses, als auch nach dessen Beendigung zu wenig um die Geltendmachung der ausstehenden Lohnforderungen bemüht und damit seine Schadenminderungspflicht verletzt. Daran hielt sie auch auf Einsprache hin fest (Entscheid vom 14. Januar 2004). 
B. 
Die Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung wies die dagegen erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 28. Juli 2005). 
C. 
F.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, in Aufhebung des Einspracheentscheides vom 14. Januar 2004 und des kantonalen Entscheides vom 28. Juli 2005 sei ihm für die Monate April bis Juli 2002 Insolvenzentschädigung auszurichten. 
 
Die kantonale Rekurskommission und die Arbeitslosenkasse lassen sich mit dem Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen. Das Staatssekretariat für Wirtschaft verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Arbeitslosenversicherungsbereich geändert worden. In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1). Der streitige Anspruch auf Insolvenzentschädigung bis 31. August 2002 beurteilt sich somit materiellrechtlich nach den vor In-Kraft-Treten des ATSG gültig gewesenen Bestimmungen (vgl. BGE 130 V 329). 
1.2 Im vorinstanzlichen Entscheid und in der Verwaltungsverfügung, worauf die Rekurskommission in ihren Erwägungen verweist, werden die Bestimmungen und Grundsätze zum Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 AVIG), zu dessen Umfang (Art. 52 Abs. 1 AVIG in der vom 1. September 1999 bis 30. Juni 2003 gültigen, hier anwendbaren Fassung) sowie zu den Pflichten des Arbeitnehmers im Konkurs- oder Pfändungsverfahren (Art. 55 Abs. 1 AVIG; BGE 114 V 59 Erw. 3d; ARV 2002 Nr. 8 S. 62 ff. und Nr. 30 S. 190 ff., 1999 Nr. 24 S. 140 ff.; Urteil B. vom 18. Februar 2000, C 362/98, zusammengefasst in SZS 2001 S. 92 ff.) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
1.3 Die Bestimmung von Art. 55 Abs. 1 AVIG, wonach der Arbeitnehmer im Konkurs- oder Pfändungsverfahren alles unternehmen muss, um seine Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber zu wahren, bezieht sich dem Wortlaut nach auf das Konkurs- und Pfändungsverfahren. Sie bildet jedoch Ausdruck der allgemeinen Schadenminderungspflicht, welche auch dann Platz greift, wenn das Arbeitsverhältnis vor der Konkurseröffnung aufgelöst wird (BGE 114 V 60 Erw. 4; ARV 1999 Nr. 24 S. 140 ff.). Sie obliegt der versicherten Person in reduziertem Umfang schon vor der Auflösung des Arbeitsverhältnisses, wenn der Arbeitgeber der Lohnzahlungspflicht nicht oder nur teilweise nachkommt und mit einem Lohnverlust zu rechnen ist (ARV 2002 Nr. 30 S. 190). 
2. 
2.1 Nach unwidersprochenen Angaben des Beschwerdeführers war dieser ohne schriftlichen Arbeitsvertrag zu einem Monatslohn von Fr. 5'000.- angestellt. Als die Lohnzahlungen nicht mehr flossen, hätten sowohl er wie auch seine Mutter sich wiederholt mündlich und schriftlich mit dem Arbeitgeber in Verbindung gesetzt und den Lohn gefordert. Die Bestrebungen hätten auch dahin gezielt, eine schriftliche Schuldanerkennung erhältlich zu machen, was schliesslich Ende Juli 2002 gelungen sei. 
2.2 Die kantonale Rekurskommission hat erwogen, der Beschwerdeführer habe es unterlassen, sich bei Ausbleiben der Lohnzahlungen im Frühjahr 2002 beim Betreibungsamt über die Zahlungsfähigkeit seines Arbeitgebers zu erkundigen. Dort hätte er erfahren können, dass im 1. Quartal jenen Jahres Betreibungen im Betrage von weit über einer Million Franken angehoben worden seien, die allesamt mit einem Verlustschein endeten. Spätestens im April/Mai 2002 hätte er "eindeutig und unmissverständlich" handeln und das Arbeitsverhältnis auflösen müssen. Auch habe er das Pfändungsbegehren viel zu spät gestellt, was die Aussichten auf Befriedigung der privilegierten Lohnforderung geschmälert und seine Schadenminderungspflicht verletzt habe. 
3. 
3.1 Auch eine ursprüngliche Leistungsverweigerung infolge Verletzung der Schadenminderungspflicht im Sinne der zu Art. 55 Abs. 1 AVIG ergangenen Rechtsprechung (Erw. 1.3) setzt voraus, dass dem Versicherten ein schweres Verschulden, also vorsätzliches oder grobfahrlässiges Handeln oder Unterlassen vorgeworfen werden kann (vgl. Urs Burgherr, Die Insolvenzentschädigung, Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers als versichertes Risiko, Diss. Zürich 2004, S. 166 und FN 640). Das Ausmass der vorausgesetzten Schadenminderungspflicht richtet sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls. Vom Arbeitnehmer wird in der Regel nicht verlangt, dass er bereits während des bestehenden Arbeitsverhältnisses gegen den Arbeitgeber Betreibung einleitet oder eine Klage einreicht. Er hat jedoch seine Lohnforderung gegenüber dem Arbeitgeber in eindeutiger und unmissverständlicher Weise geltend zu machen (ARV 2002 Nr. 30 S. 190). Zu weitergehenden Schritten ist die versicherte Person dann gehalten, wenn es sich um erhebliche Lohnausstände handelt und sie konkret mit einem Lohnverlust rechnen muss. Denn es geht auch für die Zeit vor Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht an, dass die versicherte Person ohne hinreichenden Grund während längerer Zeit keine rechtlichen Schritte zur Realisierung erheblicher Lohnausstände unternimmt, obschon sie konkret mit dem Verlust der geschuldeten Gehälter rechnen muss (Urteile B. vom 20. Juli 2005, C 264/04; G. vom 14. Oktober 2004, C 114/04, und G. vom 4. Juli 2002, C 33/02). 
3.2 Wird der Arbeitgeber zahlungsunfähig, so kann der Arbeitnehmer gemäss Art. 337a OR das Arbeitsverhältnis fristlos auflösen, sofern ihm für seine Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis nicht innert angemessener Frist Sicherheit geleistet wird. Dem Arbeitnehmer steht mit der obigen Bestimmung die Möglichkeit offen, zu verhindern, dass er dem Arbeitgeber auf unbestimmte Zeit Kredit gewährt und das Risiko trägt, die Gegenleistung nicht zu erhalten (BGE 120 II 212 Erw. 6a). Es kann von ihm jedoch nicht unter dem Titel der Schadenminderungspflicht (BGE 129 V 463 Erw. 4.2, 123 V 233 Erw. 3c mit Hinweisen) verlangt werden, diesen Schritt zu machen (SVR 2005 ALV Nr. 10 S. 30 [Urteil N. vom 15. April 2005, C 214/04]). Der Beschwerdeführer war daher zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht verpflichtet, und es existiert im Arbeitslosenversicherungsgesetz auch keine Sanktion für eine nicht bestehende Pflicht. Um zu verhindern, dass der Arbeitnehmer beliebig lange ohne Lohn beim bisherigen Arbeitgeber bleibt, hat der Gesetzgeber in Art. 52 Abs. 1 AVIG eine zeitliche Limite für die Bezugsdauer der Insolvenzentschädigung gesetzt. Spätestens nach vier Monaten ohne Lohn ist es dem Arbeitnehmer demnach aus arbeitslosenversicherungsrechtlicher Sicht nicht mehr zumutbar, das Arbeitsverhältnis mit dem insolventen Arbeitgeber weiterzuführen (SVR 2005, AlV Nr. 10 S. 31 f. Erw. 5.3, C 214/04 und Urteil B. vom 20. Juli 2005, C 264/04). Verbleibt er ohne Lohnbezug über diesen Zeitraum hinaus beim bisherigen Arbeitgeber, anstatt sich nach einer neuen Beschäftigung umzusehen, handelt er auf eigenes Risiko. 
4. 
4.1 Da der Beschwerdeführer keinen schriftlichen Arbeitsvertrag oder einen anderen Rechtsöffnungstitel hatte, blieb ihm eine erfolgversprechende Betreibung verwehrt. Um eine solche zu ermöglichen, hat er nach eigenen unwidersprochenen Angaben Alles unternommen, um eine schriftliche Schuldanerkennung erhältlich zu machen, was ihm schliesslich auch gelungen ist. Erst mit dieser bestand Aussicht auf Durchsetzung seiner Ansprüche. Sie belegt auch, dass er nicht untätig geblieben ist und seine Forderungen tatsächlich auch nachdrücklich geltend gemacht hatte. Wie dargelegt (Erwägung 3.2), konnte von ihm entgegen den Ausführungen im angefochtenen Entscheid nicht verlangt werden, dass er seine Stelle schon früher kündigte um der Schadenminderungspflicht zu genügen. Damit kann ihm zumindest bis zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses keine Verletzung seiner Obliegenheiten im Sinne von Art. 55 Abs. 1 AVIG vorgeworfen werden. 
4.2 Gemäss Schuldanerkennung vom 29. Juli 2002 war die offene Lohnforderung von Fr. 40'000.- am 30. September 2002 fällig. Als auch nach jenem Termin keine Zahlung erfolgte, wandte sich der Beschwerdeführer an seine Rechtsschutzversicherung, welche dem Arbeitgeber mit Schreiben vom 18. November 2002 eine letzte Zahlungsfrist bis 27. November gewährte. Das Betreibungsbegehren wurde in der Folge am 10. Dezember 2002 gestellt. Am 5. Januar 2003 bezahlte S.________ Fr. 4'500.- und versprach, ab 25. Januar 2003 monatlich den gleichen Betrag zu überweisen. Gegen den ihm am 14. Januar 2003 zugestellten Zahlungsbefehl erhob er Rechtsvorschlag. Nachdem weitere Ratenzahlungen ausblieben, liess der Beschwerdeführer am 15. Mai 2003 um provisorische Rechtsöffnung ersuchen, was ihm mit Entscheid des Präsidenten des Bezirksgerichtes Steckborn am 17. Juni 2003 gewährt wurde. Nach dessen Rechtskraft am 16. Juli wurde das Pfändungsbegehren am 29. Juli 2003 gestellt und am 9. August 2003 die Pfändung vollzogen. 
 
Diese Chronologie zeigt, dass dem Beschwerdeführer auch nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses keine Untätigkeit zu Lasten der Arbeitslosenversicherung vorgeworfen werden kann. Einzig der Zeitraum von Ende Januar 2003, als eine weitere versprochene Ratenzahlung nicht eintraf, bis Mitte Mai 2003, als das Rechtsöffnungsbegehren gestellt wurde, mag als zu lang qualifiziert werden. Auf Grund der gesamten Umstände wiegt die Verletzung der Schadenminderungspflicht indessen nicht derart schwer, dass sie mit einer Leistungsverweigerung zu sanktionieren wäre. Offen bleiben kann dabei die Frage, ob angesichts der auch im angefochtenen Entscheid dargelegten finanziellen Verhältnisse des Arbeitgebers, gegen den Verlustscheine in Millionenhöhe bestehen, ein um zwei bis drei Monate früheres Ersuchen um Rechtsöffnung ein anderes Resultat erbrachte hätte, mit andern Worten, ob das Verhalten des Beschwerdeführers kausal war. 
5. 
Nach dem Gesagten ist die Sache an die Arbeitslosenkasse zurückzuweisen, damit sie die weiteren Anspruchsvoraussetzungen prüfe und über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung neu verfüge. 
6. 
Da es um Versicherungsleistungen geht, ist das Verfahren kostenlos (Art. 134 OG). Entsprechend dem Ausgang des Prozesses hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung zu Lasten der Beschwerdegegnerin (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid der Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung vom 28. Juli 2005 und der Einspracheentscheid vom 14. Januar 2004 aufgehoben werden und die Sache an die Arbeitslosenkasse des Kantons Thurgau zurückgewiesen wird, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Die Arbeitslosenkasse des Kantons Thurgau hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Die Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung, die Arbeitslosenkasse Thurgau und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt. 
Luzern, 6. Februar 2006 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Der Präsident der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: