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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_248/2010 
 
Urteil vom 23. Juni 2010 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
H.________, vertreten durch 
Rechtsanwalt Sebastian Lorentz, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich 
vom 10. Februar 2010. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Mit Verfügung vom 22. Dezember 2009 bestätigte die IV-Stelle des Kantons Zürich den fortwährenden Anspruch der 1949 geborenen H.________ auf eine Viertelsrente bei einem Invaliditätsgrad von 49 %. 
 
B. 
Am 1. Februar 2010 erhob der von H.________ mandatierte Rechtsanwalt lic. iur. Sebastian Lorentz im Namen seiner Klientin beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Beschwerde mit den Rechtsbegehren, die Verwaltungsverfügung sei aufzuheben, seiner Mandantin seien die "gesetzlichen Leistungen" zuzusprechen und die unentgeltliche Prozessführung unter seiner Verbeiständung zu gewähren. In prozessualer Hinsicht seien ihm einerseits die vollständigen Akten zuzustellen und andererseits eine angemessene Frist ab Erhalt der Akten zur ergänzenden Beschwerdebegründung anzusetzen. Mit Entscheid vom 10. Februar 2010 hat das kantonale Gericht das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege abgewiesen, während es auf die Beschwerde nicht eingetreten ist. 
 
C. 
H.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit den Begehren, der vorinstanzliche Nichteintretensbeschluss sei aufzuheben und ihr die unentgeltliche Prozessführung und Rechtsvertretung zu gewähren. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde, das kantonale Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Es ist unbestritten, dass die vorsorglich am 1. Februar 2010 bei der Vorinstanz eingereichte Beschwerde gegen die Verfügung der IV-Stelle vom 22. Dezember 2009 rechtzeitig war. Die Beschwerdeführerin macht geltend, ihre Eingabe habe den Minimalanforderungen gemäss Art. 61 lit. b ATSG entsprochen, weshalb auf sie einzutreten gewesen wäre. Diese Argumentation geht fehl. Es stellt sich indes die Frage, ob die Vorinstanz in zulässiger Weise mit Verweis auf rechtsmissbräuchliches Verhalten seitens der Versicherten nicht auf deren Beschwerde eingetreten ist. 
 
2. 
Das kantonale Gericht hat die rechtlichen Grundlagen betreffend die Verfahrensregeln von Art. 61 lit. b ATSG, wonach eine Beschwerde eine gedrängte Sachverhaltsdarstellung, ein Rechtsbegehren und eine kurze Begründung zu enthalten hat, zutreffend dargelegt. Insbesondere hat es die Rechtsprechung von BGE 134 V 162, welcher die Voraussetzungen für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs und dem daraus folgenden Verzicht auf die gesetzlich vorgesehene Nachfristansetzung bei ungenügender oder fehlender Begründung des Rechtsbegehrens präzisiert, in Erwägung 2.2 seines Entscheides ausführlich wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. 
 
3. 
3.1 Nach Auffassung der Vorinstanz wäre es dem bereits im Vorbescheidverfahren mit der Sache betrauten Rechtsanwalt möglich und zumutbar gewesen, allein aufgrund der ihm bis dahin bekannten Akten sowie nach etwaiger Durchführung eines Instruktionsgespräches unter Bezugnahme und eventuell integralem Verweis auf die Stellungnahme zum Vorbescheid wenigstens eine summarische Beschwerdebegründung zu liefern. Dabei verkennt sie, dass es in dieser Konstellation rechtsprechungsgemäss irrelevant ist, ob eine Beschwerde summarisch oder überhaupt nicht begründet wird (BGE 134 V 162 E. 5.1 S. 167 f.; Urteil 8C_556/2009 vom 1. März 2010 E. 3.4). In beiden Fällen ist entweder gestützt auf Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG eine Nachfrist zur Behebung des formellen Mangels anzusetzen, oder es liegt seitens des Anwalts ein zu Lasten der Beschwerde führenden Person gehendes rechtsmissbräuchliches Verhalten vor. 
 
3.2 Die relevante Verfügung der IV-Stelle vom 22. Dezember 2009 wurde dem Rechtsanwalt der Beschwerdeführerin am 24. Dezember 2009 zugestellt, die Beschwerdefrist lief entsprechend bis am 1. Februar 2010. Der von der Beschwerdeführerin unterzeichneten und vom 9. März 2009 datierten Vollmacht ist zu entnehmen, dass der Rechtsanwalt bereits rund elf Monate vor Fristablauf in die Angelegenheit involviert worden ist. Daraus, dass gemäss BGE 134 V 162 E. 5.2 S. 168 f. Rechtsmissbrauch in der Regel zu verneinen ist, wenn die Mandatierung erst kurz vor Ablauf der Beschwerdefrist erfolgt, ergibt sich indessen nicht zwangsläufig, dass umgekehrt in jedem Fall Rechtsmissbrauch vorliegt, wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist. 
 
3.3 Ausschlaggebend für die Beantwortung der Frage, ob dem Anwalt ein rechtsmissbräuchliches Verhalten anzulasten sei, sind die konkreten Umstände. Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin hat die IV-Stelle mit Einschreiben vom 28. Dezember 2009 und somit inklusive Gerichtsferien sechs Wochen vor Ablauf der Beschwerdefrist um Zustellung der Akten gebeten. Aus dem vorliegenden Dossier ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerdegegnerin dieser Aufforderung nachgekommen ist. Aktenkenntnis indes ist in aller Regel erforderlich, um die Erfolgsaussichten einer Beschwerde beurteilen zu können, was wiederum mit zur sorgfältigen Mandatsausübung gehört. Ein solches Vorgehen scheint jedenfalls für das Einspracheverfahren in der Praxis nicht selten zu sein und wird auch in der Lehre nicht grundsätzlich als rechtsmissbräuchlich betrachtet (BGE 134 V 162 E. 5.1 S. 168). Dass der Rechtsvertreter als Reaktion auf die laxe Behandlung seines Akteneditionsgesuchs am letzten Tag der Rechtsmittelfrist vorsorglich eine unbegründete Beschwerde eingereicht hat, ist die Konsequenz einer seriösen Mandatsführung und somit nicht rechtsmissbräuchlich. 
 
4. 
Nach dem Gesagten wäre die Vorinstanz gehalten gewesen, eine Nachfrist zur Begründung der Beschwerde vom 1. Februar 2010 einzuräumen und sie nach Vorliegen derselben materiell zu behandeln. Der angefochtene Entscheid verletzt somit Bundesrecht. Die Sache ist unter Aufhebung des Entscheides vom 10. Februar 2010 an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie diese materiell prüfe und darüber entscheide. 
 
5. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die IV-Stelle hat als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 10. Februar 2010 aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 23. Juni 2010 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: 
 
Meyer Dormann