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[AZA] 
I 125/99 Vr 
 
III. Kammer  
 
Bundesrichter Schön, Spira und Bundesrichterin Widmer; 
Gerichtsschreiberin Hostettler 
 
Urteil vom 19. April 2000  
 
in Sachen 
 
S.________, 1952, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechts- 
anwalt H.________, 
gegen 
 
IV-Stelle Zug, Baarerstrasse 11, Zug, Beschwerdegegnerin, 
 
und 
 
Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Zug 
 
    A.- Am 19. April 1995 meldete sich der 1952 geborene 
S.________ wegen einer Lyme-Borreliose nach Zeckenbiss zum 
Leistungsbezug (Umschulung und Rente) an. Die IV-Stelle des 
Kantons Zug klärte die erwerblichen und gesundheitlichen 
Verhältnisse ab, indem sie u.a. die Eingliederungsmöglich- 
keiten durch ihren Berufsberater beurteilen liess und ein 
polydisziplinäres Gutachten der Medizinischen Abklärungs- 
stelle (MEDAS) vom 20. Dezember 1996 einholte. Mit Verfü- 
gung vom 10. Februar 1997 lehnte die IV-Stelle das Leis- 
tungsbegehren mangels anspruchsrelevanter Invalidität ab. 
    B.- Beschwerdeweise liess S.________ beantragen, die 
angefochtene Verfügung sei vollumfänglich aufzuheben und es 
seien ihm die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen. Zusam- 
men mit der Replik vom 20. Oktober 1997 reichte er ein Gut- 
achten des Dr. med. B.________, Facharzt FMH für Psychiat- 
rie, vom Oktober 1997 und ein weiteres Gutachten des Spi- 
tals X.________ vom 9. April 1997 ein. Mit Entscheid vom 
17. Dezember 1998 wies das Verwaltungsgericht des Kantons 
Zug das Rechtsmittel ab. 
 
    C.- S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde 
führen und das im vorinstanzlichen Verfahren gestellte 
Rechtsbegehren erneuern. Eventuell sei die Sache zur Ein- 
holung eines psychiatrischen Obergutachtens an das kanto- 
nale Gericht zurückzuweisen. 
    Das kantonale Gericht und die IV-Stelle schliessen auf 
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, letztere mit 
dem Hinweis auf das inzwischen vom Beschwerdeführer einge- 
reichte Revisionsbegehren. Das Bundesamt für Sozialversi- 
cherung lässt sich nicht vernehmen. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:  
 
    1.- Die Vorinstanz hat die massgeblichen Grundlagen 
zum Anspruch auf Invalidenrente und zur Bemessung des Inva- 
liditätsgrades nach der Methode des Einkommensvergleichs 
zutreffend dargelegt. Darauf kann verwiesen werden. Zu er- 
gänzen ist, dass zu den geistigen Gesundheitsschäden, wel- 
che in gleicher Weise wie die körperlichen eine Invalidität 
im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG zu bewirken vermögen, neben 
den eigentlichen Geisteskrankheiten auch seelische Abwegig- 
keiten mit Krankheitswert gehören. Nicht als Auswirkungen 
einer krankhaften seelischen Verfassung und damit invali- 
denversicherungsrechtlich nicht als relevant gelten Beein- 
trächtigungen der Erwerbsfähigkeit, welche die versicherte 
Person bei Aufbietung allen guten Willens, Arbeit in aus- 
reichendem Masse zu verrichten, zu vermeiden vermöchte, wo- 
bei das Mass des Forderbaren weitgehend objektiv bestimmt 
werden muss. Es ist somit festzustellen, ob und in welchem 
Masse eine versicherte Person infolge ihres geistigen Ge- 
sundheitsschadens auf dem ihr nach ihren Fähigkeiten offen 
stehenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein 
kann. Dabei kommt es darauf an, welche Tätigkeit ihr zuge- 
mutet werden darf. Zur Annahme einer durch einen geistigen 
Gesundheitsschaden verursachten Erwerbsunfähigkeit genügt 
es also nicht, dass die versicherte Person nicht hinrei- 
chend erwerbstätig ist; entscheidend ist vielmehr, ob anzu- 
nehmen ist, die Verwertung der Arbeitsfähigkeit sei ihr 
sozial-praktisch nicht mehr zumutbar oder - als alternative 
Voraussetzung - sogar für die Gesellschaft untragbar (BGE 
102 V 165; AHI 1996 S. 302 Erw. 2a, S. 305 Erw. 1a, S. 308 
Erw. 2a; ZAK 1992 S. 170 Erw. 2a mit Hinweisen). 
 
    2.- Vorliegend ist unbestritten, dass organische Be- 
funde die Kniebeschwerden des Beschwerdeführers nicht zu 
erklären vermögen. Streitig ist hingegen die Frage, ob ein 
psychischer Gesundheitsschaden mit Auswirkungen auf die Ar- 
beits- und Erwerbsfähigkeit vorliegt und ob für die Beant- 
wortung dieser Frage auf das MEDAS-Gutachten vom 20. Dezem- 
ber 1996 abgestellt werden kann, was die Vorinstanz bejaht, 
der Beschwerdeführer gestützt auf das medizinische Gutach- 
ten des Spitals X.________ vom 9. April 1997 und das 
psychiatrische Privatgutachten vom Oktober 1997 dagegen 
verneint. 
 
    a) Der psychiatrische Gutachter der MEDAS, Dr. med. 
V.________, diagnostizierte beim Beschwerdeführer eine 
aggravierte somatoforme Schmerzstörung (ICD-10; 
F68.0/F45.4) bei einer soziopathischen, reizbaren un 
querulatorischen Persönlichkeit (ICD-10;F60.0/60.2/60.3). 
Diese psychogene Störung erreiche jedoch nicht ein solches 
Ausmass, dass sie die Arbeitsfähigkeit des Betroffenen 
beeinträchtigen würde (S. 8 und 10 des Gutachtens). 
    b) Gemäss dem Gutachten des Spitals X.________ vom 
9. April 1997 können die Gelenkbeschwerden als somatische 
Symptome einer Depression interpretiert werden, da der 
Patient über multiple psychische Beschwerden wie vermehrte 
Müdigkeit, Lustlosigkeit, allgemeines Leeregefühl, gele- 
gentliches Auftreten von Suizidgedanken klage. Auffällig 
sei, dass er sich gerade in der Zeit der ersten Symptome 
nach dem Zeckenbiss (September 1993) in psychiatrischer 
Abklärung befand (Dr. med. N.________), diese allerdings 
nach drei Sitzungen wieder abgebrochen habe, sodass dort 
eine schlüssige Beurteilung nicht möglich gewesen sei. Eine 
psychogene Ursache der Beschwerden und insbesondere eine 
psychogene Ursache der Chronifizierung sei deshalb in Be- 
tracht zu ziehen (S. 8 des Gutachtens). 
 
    c) Der psychiatrische Privatgutachter, Dr. med. 
B.________, diagnostizierte eine tiefgreifende, gemischte 
Persönlichkeitsstörung mit paranoiden, dissozialen und 
emotional-instabilen Anteilen (ICD-10:F61.0) und als 
Sekundärphänomen eine mittelschwere depressive Episode 
(ICD-10:F32.1) sowie die Fixierung auf körperliche 
Schmerzen (anhaltende somatoforme Schmerzstörung; 
ICD-10:F45.4). Diese erheblichen Störungen bestünden 
bereits seit Jahren und dekompensierten 1993 in eine 
"somatoforme Schonhaltung". Zudem manifestierten sie sich 
in einer schweren sozialen Anpassungsstörung mit starker 
Behinderung und wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- 
und Gestaltungsfähigkeit (depressive Alteration, kognitiv- 
konzentrative Leistungseinbussen, somatoforme Störung im 
Rahmen eines chronischen projektiv-wahnhaften Schmerz- 
syndroms), welche eine mindestens 80 %ige Arbeits- und 
Erwerbsunfähigkeit veranschlagen liesse (S. 9./12 des Gut- 
achtens). 
 
    3.- Nach dem Gesagten bestehen entgegen gesetzte 
Aussagen sowohl bezüglich der invalidisierenden psychischen 
Störungen wie auch betreffend deren Auswirkungen auf die 
Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers. So verneint Dr. 
med. V.________ im MEDAS-Gutachten einen psychischen Ge- 
sundheitsschaden mit Krankheitswert und attestiert eine 
volle Arbeitsfähigkeit. Die Gutachter des Spitals 
X.________ ziehen hingegen eine psychogene Ursache der Be- 
schwerden und deren Chronifizierung in Betracht. Der Pri- 
vatgutachter geht von einer psychischen Störung mit Krank- 
heitswert aus und veranschlagt die Arbeitsunfähigkeit mit 
80 %. 
 
    a) Das Bundesrecht schreibt nicht vor, wie die ein- 
zelnen Beweismittel zu würdigen sind. Für das gesamte Ver- 
waltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren gilt 
der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 40 BZP in 
Verbindung mit Art. 135 OG; Art. 95 Abs. 2 OG in Verbindung 
mit Art. 113 und 132 OG; Art. 85 Abs. 2 lit. c AHVG in Ver- 
bindung mit Art. 69 IVG; Meyer-Blaser, Rechtsprechung des 
Bundesgerichts zum IVG, Zürich 1997, S. 229). Danach haben 
Versicherungsträger und Sozialversicherungsrichter die Be- 
weise frei, d.h. ohne Bindung an förmliche Beweisregeln, 
sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen. Für das Be- 
schwerdeverfahren bedeutet dies, dass der Sozialversiche- 
rungsrichter alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem 
sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden 
hat, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beur- 
teilung des streitigen Rechtsanspruches gestatten. Insbe- 
sondere darf er bei einander widersprechenden medizinischen 
Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Be- 
weismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum er 
auf die eine und nicht auf die andere medizinische These 
abstellt. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes 
ist also entscheidend, ob der Bericht für die streitigen 
Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen be- 
ruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in 
Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in 
der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und in der 
Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob 
die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind. Aus- 
schlaggebend für den Beweiswert ist grundsätzlich somit we- 
der die Herkunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung 
der eingereichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahmen 
als Bericht oder Gutachten, sondern dessen Inhalt (BGE 122 
V 160 Erw. 1c mit Hinweisen). 
 
    b) Was Parteigutachten anbelangt, rechtfertigt der Um- 
stand allein, dass eine ärztliche Stellungnahme von einer 
Partei eingeholt und in das Verfahren eingebracht wird, 
nicht Zweifel an ihrem Beweiswert (ZAK 1986 S. 189 Erw. 2a 
in fine). Daraus folgt indessen nicht, dass eine solche Ex- 
pertise den gleichen Rang besitzt wie ein vom Gericht oder 
- wie vorliegend - von einer IV-Stelle im Rahmen des Abklä- 
rungsverfahrens eingeholtes Gutachten. Es verpflichtet in- 
dessen - wie jede substanziiert vorgetragene Einwendung ge- 
gen ein solches Gutachten - den Richter, den von der Recht- 
sprechung aufgestellten Richtlinien für die Beweiswürdigung 
folgend, zu prüfen, ob es in rechtserheblichen Fragen die 
Auffassungen und Schlussfolgerungen des vom Gericht oder 
von der IV-Stelle förmlich bestellten Gutachters derart zu 
erschüttern vermag, dass davon abzuweichen ist (vgl. BGE 
125 V 351). 
 
    c) Im MEDAS-Gutachten wird beim Beschwerdeführer eine 
aggravierte somatoforme Schmerzstörung bei einer sozio- 
pathischen, reizbaren und querulatorischen Persönlichkeit 
diagnostiziert, ohne dass ein geistiger Gesundheitsschaden 
mit Krankheitswert und eine Einschränkung des Leistungs- 
vermögens vorliege. Diese Beurteilung wird einmal durch die 
Fachärzte des Spitals X.________, die psychogene Ursachen 
der Beschwerden in Betracht ziehen, in Frage gestellt. 
Erschüttert wird sie entscheidend vom Privatgutachter, der 
den diagnostizierten psychischen Beeinträchtigungen einen 
die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigenden Krankheitswert 
attestiert. 
    4.- Bei dieser Aktenlage sieht sich das Eidgenössische 
Versicherungsgericht ausser Stande, den Fall abschliessend 
zu beurteilen. Vielmehr drängt sich die Einholung eines 
Obergutachtens auf, welches sich mit den Widersprüchen zwi- 
schen den verschiedenen Gutachten befassen und prüfen wird, 
ob der Beschwerdeführer an einem psychischen Gesundheits- 
schaden mit Krankheitswert leidet und - gegebenenfalls - 
wie hoch eine allfällige Einschränkung in der Arbeitsfähig- 
keit ist. Zu diesem Zweck gehen die Akten an das kantonale 
Gericht zurück, welches das Obergutachten veranlassen und 
hernach erneut über die Beschwerde befinden wird. 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:  
 
I.In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichts- 
    beschwerde wird der angefochtene Entscheid des Ver- 
    waltungsgerichts des Kantons Zug vom 17. Dezember 1998 
    aufgehoben, und es wird die Sache an die Vorinstanz 
    zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Aktenergän- 
    zung im Sinne der Erwägungen, über die Beschwerde neu 
    entscheide. 
 
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
III.Die IV-Stelle des Kantons Zug hat dem Beschwerdeführer 
    für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versiche- 
    rungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- 
    (inkl. Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
 
IV.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsge- 
    richt des Kantons Zug, der Ausgleichskasse des Kantons 
    Zug und dem Bundesamt für Sozialversicherung zuge- 
    stellt. 
 
 
Luzern, 19. April 2000 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der III. Kammer: 
 
Die Gerichtsschreiberin: