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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
M 4/01 
 
Urteil vom 13. September 2002 
II. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Schön, Bundesrichter Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiber Renggli 
 
Parteien 
W.________, 1950, Beschwerdeführer, vertreten durch den Rechtsdienst für Behinderte, Bürglistrasse 11, 8002 Zürich, 
 
gegen 
 
Bundesamt für Militärversicherung, Laupenstrasse 11, 3008 Bern, Beschwerdegegner 
 
Vorinstanz 
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden 
 
(Entscheid vom 1. November 2000) 
 
Sachverhalt: 
A. 
A.a Der 1950 geborene W.________ stürzte am 9. Mai 1994 während eines Zivilschutzkurses eine Treppe hinunter und schlug dabei mit dem Nacken auf. Der Kursarzt, Dr. med. A.________, stellte gleichentags eine Druckdolenz des 7. Halswirbels (Vertebra prominens), eine Myogelose der Halsmuskulatur links und einen Tinnitus links fest. Dr. med. S.________ diagnostizierte ein posttraumatisches Cervicocephalsyndrom sowie eine Contusio thoracis links. Ab dem Unfallzeitpunkt bis "ca. Pfingsten 94" (22. Mai 1994) attestierte er eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit (Anmeldung an die Militärversicherung [MV] vom 13. Mai 1994). In seinem Arztbericht vom 4. Juli 1994 stellte Dr. S.________ die Diagnose einer Kontusion von Kopf und Nacken und bescheinigte eine Arbeitsunfähigkeit von 66% ab dem 24. Mai 1994 bis auf unbestimmte Zeit. In der Folge klagte W.________ über verschiedene Beschwerden wie Schwindelgefühle, Tremor, Tinnitus, Kopfschmerzen, Sprechstörungen und Merkfähigkeitsstörungen. Dr. med. B.________ vom Spital X.________ führte eine neurologische Abklärung durch und erachtete den Patienten als depressiv. Zudem leide er an multiplen neurovegetativen Beschwerden inklusive Kopfschmerzen (Arztbericht vom 4. August 1994). Bei einer neuropsychologischen Untersuchung am Spital X.________ stellten Dr. med. T.________ und C.________, Klinischer Psychologe, eine motorische Koordinationsstörung fest. Weiter hielten die Experten Teilleistungsschwächen fest, vor allem im sprachlichen und analytischen Bereich, mit denen der vom Patienten vor allem links wahrgenommene Kopfschmerz gut korrespondiere, wobei aber die ätiologische Begründung sowie die Lokalisation der Probleme im Zentralnervensystem schwierig sei (Untersuchungsbericht vom 30. November 1994). Dr. med. R.________ vom Spital X.________ diagnostizierte am 1. Februar 1995 eine neurovegetative Dystonie mit Tremor, Hyperhydrosis, Spannungskopfschmerzen und Orthostase bei Status nach Sturz auf den Hinterkopf. Am 2. November 1995 erstattete Dr. med. Q.________ von der Psychiatrischen Klinik Y.________ ein psychologisches Gutachten. Zur Diagnose führte er aus, es lägen "am ehesten" eine unspezifische somatoforme Schmerzstörung sowie Spannungskopfschmerzen vor. Das Unfallereignis sei "nicht adäquat" gewesen, irgendwelche zentralnervöse oder muskuloskelettale Folgen zu hinterlassen. Der Unfall dürfte vorübergehend zu einer Schmerzsymptomatik geführt haben, aus der eine unspezifische somatoforme Störung entstanden sei, die aber in ihrem Ausmass so sei, dass unfallfremde Faktoren angenommen werden müssten, ohne dass diese ausreichend belegt werden könnten. Die Frage der MV nach dem Ausmass der Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit wurde nicht beantwortet, hingegen eine kausale Beziehung zwischen dem Unfall und der Arbeitsunfähigkeit in Zweifel gezogen. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 15. Dezember 1995 stellte Dr. med. Q.________ klar, dass seiner Meinung nach aus psychiatrischer Sicht keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit bestehe. Der behandelnde Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Dr. med. D.________, bezeichnete in seinem ärztlichen Bericht vom 8. Dezember 1995 den Umfang der Arbeitsunfähigkeit als schwierig einzuschätzen und bezifferte ihn auf 50% seit dem 1. September 1995 bis auf weiteres. 
 
Auf Ersuchen der MV nahm die IV-Stelle Thurgau im Jahre 1995 berufsberaterische Tätigkeiten auf. Mit Hilfe der MV fand W.________ ab dem 3. Juni 1996 bei der Firma O.________ AG eine Beschäftigung als Service-Techniker, welche ab 1997 zu einer festen Anstellung führte. 
 
In einer ersten versicherungsmedizinischen Beurteilung vom 5. März 1996 schrieb Dr. med. K.________ vom Chefärztlichen Dienst des Bundesamtes für Militärversicherung: "Die zur Festlegung der Arbeitsunfähigkeit dieses Patienten erforderlichen medizinischen Angaben liegen nicht vor." 
A.b Mit Verfügung vom 11. Juli 1997 sicherte das Bundesamt für Militärversicherung, MV-Sektion 5 St. Gallen, W.________ zu, die MV übernehme die durch den Unfall verursachten Kosten für die berufliche Wiedereingliederung. Zudem sprach es eine befristete Invalidenrente zu. Die Bezugsdauer wurde am 26. Januar 1998 um ein Jahr verlängert. 
 
Die Psychotherapie bei Dr. med. D.________ konnte am 27. Juni 1998 abgeschlossen werden (Bericht vom 30. Juni 1998). 
 
Auf den 30. April 1999 verlor W.________ seine Arbeitsstelle. Die Kündigung wurde aus wirtschaftlichen Gründen ausgesprochen (Restrukturierung). W.________ geht seither keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. 
A.c Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens und weiteren Untersuchungen durch Dr. med. U.________ an der Neurologischen Klinik des Spitals Z.________, welche therapieresistente chronische Spannungstyp-Kopfschmerzen bei erheblichen posttraumatischen Folgeschäden und typische Persönlichkeitsveränderungen bzw. Schmerzverhalten posttraumatischer Natur erkennen liessen (fachärztliche Beurteilung vom vom 7. Mai 1999 und ergänzendes Schreiben vom 3. August 1999), sprach die MV W.________ mit Verfügung vom 10. September 1999 eine Invalidenrente von 30% mit Wirkung ab 1. Januar 1999 zu. 
A.d Dagegen erhob W.________ Einsprache und beantragte medizinische Massnahmen zur Wiederherstellung des Zustandes vor dem Unfall, vollen Lohnausgleich mit Anpassung an die Lohn- und Preisentwicklung und Indexierung der Rente, berufliche Wiedereingliederungsmassnahmen, "Regelung der AHV und der Pensionskasse" sowie die rückwirkende Regelung der Kinderzulagen ab dem Zeitpunkt des Unfalles. 
Auf Zuweisung hin durch den Hausarzt von W.________, Dr. med. S.________, nahm Dr. med. M.________, Neurologie FMH, Abklärungen wegen eines Verdachtes auf Polyneuropathie vor. Der Verdacht konnte nicht erhärtet werden. Dr. M.________ erachtete die Kopfschmerzen als weiterhin ungeklärt und wies auf ihren Spannungscharakter sowie eine funktionelle Überlagerung durch eine ängstlich-depressive Stimmungslage hin. Zudem hielt er einen ausgeprägten Schmerzmittel-Abusus fest (ärztliche Berichte vom 20. und 21. September 1999). Die MV (Rekurs- und allgemeine Rechtsdienst II des Bundesamtes für Militärversicherung) überwies das Dossier zur versicherungsmedizinischen Beurteilung an den Chefärztlichen Dienst. In seiner versicherungsmedizinischen Beurteilung vom 28. Oktober 1999 legte Dr. med. K.________ dar, dass es schwierig sei, das Ausmass der medizinisch-theoretischen Arbeitsunfähigkeit festzulegen. Die von der MV-Sektion 5 ermittelte Invalidität von 30% erscheine jedoch aus medizinischer Sicht vertretbar. Mit Einspracheentscheid vom 25. Januar 2000 wies die MV die Einsprache ab, soweit darauf eingetreten werden konnte. 
B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 1. November 2000 abgewiesen. 
C. 
W.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sowie der Einspracheentscheid seien aufzuheben und es sei ihm eine Invalidenrente basierend auf einer Invalidität von 54% zuzusprechen. Eventualiter wird die Rückweisung an die Verwaltung zur Vornahme einer gesamtmedizinischen Abklärung und zum Erlass einer neuen Verfügung beantragt. 
 
Das Bundesamt für Militärversicherung schliesst auf Abweisung der Beschwerde. 
D. 
Mit Schreiben vom 30. Januar 2002 brachte das Bundesamt für Militärversicherung dem Eidgenössischen Versicherungsgericht ein Gutachten der Psychiatrischen Poliklinik des Spitals Z.________ vom 21. Januar 2002 betreffend die psychischen Schwierigkeiten von W.________ zur Kenntnis. Dessen Rechtsvertreterin hat sich dazu mit Schreiben vom 5. Juni 2002 vernehmen lassen. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Streitig und zu beurteilen ist der Invaliditätsgrad. 
1.1 Das kantonale Gericht hat die gesetzliche Grundlage für die Bestimmung des Invaliditätsgrades (Art. 40 Abs. 4 MVG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
1.2 Um den Invaliditätsgrad bemessen zu können, ist die Verwaltung (und im Beschwerdefall das Gericht) auf Unterlagen angewiesen, die ärztliche und gegebenenfalls auch andere Fachleute zur Verfügung zu stellen haben. Aufgabe des Arztes oder der Ärztin ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Im Weiteren sind die ärztlichen Auskünfte eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistungen der Person noch zugemutet werden können (BGE 125 V 261 Erw. 4, 115 V 134 Erw. 2, 114 V 314 Erw. 3c, 105 V 158 Erw. 1). 
2. 
Um den Invaliditätsgrad berechnen zu können, sind das hypothetische Validen- und das hypothetische Invalideneinkommen zu bestimmen. 
2.1 Bei der Ermittlung des Valideneinkommens ist entscheidend, was der Versicherte im massgebenden Zeitpunkt nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit als Gesunder tatsächlich verdienen würde (RKUV 1993 Nr. U 168 S. 100 f. Erw. 3b mit Hinweis). Die Einkommensermittlung hat so konkret wie möglich zu erfolgen; daher ist in der Regel vom letzten Lohn auszugehen, den der Versicherte vor Eintritt der Gesundheitsschädigung erzielt hat (Urteil H. vom 4. April 2002, I 446/01). 
 
Weil die letzte Erwerbstätigkeit des Versicherten vor dem Unfall lediglich 8 Tage dauerte und die Entlöhnung ausschliesslich auf Provisionsbasis erfolgen sollte, hat die MV auf den Verdienst bei der vorletzten Arbeitsstelle abgestellt. Dieses Vorgehen ist zulässig und wird vom Beschwerdeführer auch nicht beanstandet. 
2.2 Zur Ermittlung des hypothetischen Invalideneinkommens hat die MV die SUVA-Dokumentation über die Arbeitsplätze (DAP) herangezogen. Auf Grund der versicherungsärztlichen Beurteilung durch Dr. med. K.________ vom 28. Oktober 1999, welche Angaben zu einer zumutbaren Tätigkeit enthält, erachtete die MV die auf den DAP-Blättern 4243, 3231 und 1109 dokumentierten Beschäftigungen als zumutbar. Das vermag bezüglich des erstgenannten Arbeitsplatzes nicht zu überzeugen, da es sich bei dieser Arbeit (Produktionsmitarbeiter in einer Firma, die Magnetventile herstellt) laut Beschreibung um "Feinarbeit" handelt, bei der mit "Geduld und Konzentration" die Ventile von Hand zu montieren sind. Der Versicherungsmediziner Dr. K.________ hat festgehalten, dass "auf der rechten Seite feinere manuelle Tätigkeiten Schwierigkeiten bereiten können". Ausserdem wurden ärztlicherseits verschiedentlich Konzentrationsstörungen beschrieben. Damit erweist sich der Arbeitsplatz gemäss DAP-Blatt 4243 als nicht geeignet für den Beschwerdeführer. 
2.3 
Wesentlicher ist jedoch, dass die MV für diese Arbeitsplätze eine uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit angenommen hat, was auf Grund der ärztlichen Stellungnahmen nicht einleuchtet. Die Beurteilungen des Grades der Arbeitsunfähigkeit durch die medizinischen Fachleute lassen sich nicht dahingehend zusammenfassen, dass für leichtere Arbeiten keine Einschränkungen bestünden. Vielmehr sind sie sehr uneinheitlich. Zwar wird die Arbeitsunfähigkeit in einigen Arztberichten quantifiziert; die Angaben widersprechen sich aber. Verschiedentlich wird darauf aufmerksam gemacht, die Frage sei schwierig zu beurteilen. Infolgedessen verzichten einige Berichte bzw. Gutachten ganz auf genaue Angaben, andere wählen offene Formulierungen. 
 
Gemäss der Rechtsprechung (siehe Erw. 1.2) hat die Beurteilung der medizinischen Fachleute nicht nur die Art der Tätigkeiten, für die eine versicherte Person arbeitsunfähig ist, sondern auch den Umfang dieser Arbeitsunfähigkeit zu umfassen. Solche Angaben stehen hier nicht zur Verfügung, weshalb eine korrekte Berechnung des hypothetischen Invalideneinkommens und damit des Invaliditätsgrades nicht möglich ist. Die Verwaltung wird die notwendigen Abklärungen nachzuholen haben. Diese werden ihr auch ermöglichen, die bisher vorliegende Berechnung des Invalideneinkommens auf Grund von DAP-Lohnangaben durch eine solche, die sich auf die Tabellenlöhne der vom Bundesamt für Statistik herausgegebene Schweizerische Lohnstrukturerhebung (LSE) abstützt, zu ergänzen (vgl. BGE 124 V 321; RKUV 2000 Nr. U 405 S. 399). 
2.4 Die körperlichen Beeinträchtigungen, die sich aus dem Unfall vom 9. Mai 1994 ergaben, waren offenbar schon früh überlagert von einer psychischen Problematik. So wurde der Versicherte schon am 4. August 1994, also keine drei Monate nach dem Sturz, von Dr. med. B.________ als depressiv beschrieben. Dr. med. U.________beobachtete unter anderem posttraumatische Persönlichkeitsveränderungen, die er ausdrücklich als "typisch" und nicht auf individuelle Merkmale zurückgehend bezeichnete (Schreiben vom 3. August 1999). Das lässt es als notwendig erscheinen, auch die psychischen Aspekte in die Abklärung des Gesundheitszustandes und dessen Entwicklung einzubeziehen. Die Beschwerdegegnerin wird demnach die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde eventualiter beantragte gesamtmedizinische Abklärung vornehmen lassen und auf Grund der Ergebnisse neu über die Ansprüche des Beschwerdeführers verfügen. 
 
3. 
Bei diesem Ausgang steht dem Beschwerdeführer als obsiegender Partei eine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 135 OG). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 1. November 2000 und der Einspracheentscheid vom 25. Januar 2000 aufgehoben werden und die Sache an das Bundesamt für Militärversicherung zurückgewiesen wird, damit es, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die Ansprüche des Beschwerdeführers neu verfüge. 
2. 
Das Bundesamt für Militärversicherung hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
3. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Versicherungsgericht, zugestellt. 
Luzern, 13. September 2002 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: