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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.336/2002 /zga 
 
Urteil vom 11. Juli 2002 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesrichter Aeschlimann, Catenazzi, 
Gerichtsschreiberin Leuthold. 
 
X.________, 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic.iur. 
Ivo Doswald, Möhrlistrasse 97, 8006 Zürich, 
 
gegen 
 
Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich, Büro C-2, Postfach, 8026 Zürich, 
Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich. 
 
persönliche Freiheit (Haftentlassung), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter, vom 31. Mai 2002 
 
Sachverhalt: 
A. 
Gegen X.________ ist im Kanton Zürich ein Strafverfahren wegen Verdachts des Diebstahls hängig. Es wird ihm vorgeworfen, er habe am 23. März 2001 in Zürich zum Nachteil seiner Arbeitgeberfirma fünf Millionen Franken aus dem Tresor der Firma gestohlen. X.________ ist geständig. Nach seinen Angaben reiste er mit dem Geld in Begleitung von A.________, dem er für die Hilfe im Zusammenhang mit der Flucht Fr. 13'000.-- gegeben habe, in die Slowakei. Dort stellte er sich am 28. März 2001 und übergab der Polizei ca. eine Million Franken. Er behauptet, der Rest sei ihm von A.________ gestohlen worden. X.________ wurde am 28. März 2001 in der Slowakei in Auslieferungshaft genommen. Am 21. Juni 2001 wurde er an die Schweiz ausgeliefert. Der Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich versetzte X.________ mit Verfügung vom 23. Juni 2001 in Untersuchungshaft. Diese wurde in der Folge wiederholt erstreckt. Mit Schreiben vom 19. Februar 2002 stellte X.________ bei der Untersuchungsbehörde, der Bezirksanwaltschaft V des Kantons Zürich, den Antrag, es sei ihm der vorzeitige Strafantritt zu bewilligen. Die Bezirksanwaltschaft teilte ihm mit Brief vom 25. Februar 2002 mit, der Antrag könne wegen der noch bestehenden Kollusionsgefahr erst behandelt werden, wenn klar sei, ob und wann A.________ in die Schweiz zwischenausgeliefert werden könne. Mit Verfügung vom 22. Mai 2002 bewilligte die Bezirksanwaltschaft dem Angeschuldigten den vorzeitigen Strafantritt, da die Untersuchung kurz vor dem Abschluss stehe, keine Kollusionsgefahr mehr vorliege, und mit der Ausfällung einer unbedingten Freiheitsstrafe zu rechnen sei. Am gleichen Tag stellte der Angeschuldigte ein Gesuch um Entlassung aus der Haft bzw. dem vorzeitigen Strafvollzug. Der Haftrichter wies das Begehren mit Verfügung vom 31. Mai 2002 ab. 
B. 
Gegen diesen Entscheid des Haftrichters reichte X.________ am 20. Juni 2002 beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde ein. Er beantragt, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und er sei sofort aus der Haft zu entlassen, eventuell unter Auferlegung einer Meldepflicht, einer Pass- und Schriftensperre oder einer Sicherheitsleistung. Im Weiteren stellt er das Gesuch, es sei ihm für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. 
C. 
Die Bezirksanwaltschaft beantragt in ihrer Vernehmlassung vom 26. Juni 2002, die Beschwerde sei abzuweisen. Der Haftrichter verzichtete auf eine Vernehmlassung. 
D. 
In einer Replik vom 3. Juli 2002 nahm X.________ zur Beschwerdeantwort der Bezirksanwaltschaft Stellung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Die Bezirksanwaltschaft führt in ihrer Vernehmlassung aus, soweit der Beschwerdeführer die Bewilligung des vorzeitigen Strafvollzuges rüge, hätte er dagegen innert Frist Rekurs bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich einlegen müssen. Die Rekursfrist habe er jedoch unbenützt verstreichen lassen. Der Beschwerdeführer legt in der Replik dar, aus welchen Gründen er diese Auffassung der Bezirksanwaltschaft nicht teile. 
 
Wie es sich damit verhält, steht hier nicht zur Diskussion, denn Gegenstand der staatsrechtlichen Beschwerde bildet nicht die Verfügung betreffend Bewilligung des vorzeitigen Strafantritts, sondern der Entscheid, mit dem das Gesuch des Beschwerdeführers um Entlassung aus der Haft bzw. dem vorzeitigen Strafvollzug abgewiesen wurde. Es ist im Übrigen unbestritten, dass der vorzeitige Strafvollzug gegen den Willen des Betroffenen nur so lange gerechtfertigt sein kann, als die Haftvoraussetzungen gegeben sind (BGE 117 Ia 72 E. 1d S. 80). 
2. 
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Abweisung seines Gesuchs um Entlassung aus der Haft bzw. dem vorzeitigen Strafvollzug verletze das Recht auf persönliche Freiheit nach Art. 10 Abs. 2 BV
2.1 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen Fortdauer der Haft oder Ablehnung eines Haftentlassungsgesuchs erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 123 I 31 E. 3a S. 35, 268 E. 2d S. 271, je mit Hinweisen). 
2.2 Nach § 58 Abs. 1 Ziff. 1-3 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich (StPO) ist die Anordnung oder Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft zulässig, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird und überdies Flucht-, Kollusions- oder Fortsetzungsgefahr besteht. Ausserdem darf die Haft nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe (§ 58 Abs. 3 StPO). 
 
Der Haftrichter war der Ansicht, im vorliegenden Fall seien der dringende Tatverdacht sowie Fluchtgefahr gegeben; zudem sei die Fortdauer der Haft nicht unverhältnismässig. 
 
Der Beschwerdeführer beanstandet mit Recht nicht, dass der Haftrichter den dringenden Tatverdacht bejahte. Hingegen bestreitet er, dass Fluchtgefahr bestehe und dass die Aufrechterhaltung der Haft mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit vereinbar sei. 
2.3 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts braucht es für die Annahme der Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der Angeschuldigte, wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Die Schwere der drohenden Strafe darf als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände des betreffenden Falles, insbesondere die gesamten Verhältnisse des Angeschuldigten, in Betracht gezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62; 117 Ia 69 E. 4a S. 70, je mit Hinweisen). 
 
Dem Beschwerdeführer wird zur Last gelegt, er habe zum Nachteil seiner Arbeitgeberfirma rund fünf Millionen Franken gestohlen. Die Bezirksanwaltschaft stellt in ihrer Anklageschrift vom 27. Juni 2002 den Antrag, der Beschwerdeführer sei mit 3 ½ Jahren Zuchthaus zu bestrafen. In der staatsrechtlichen Beschwerde wird geltend gemacht, der Beschwerdeführer habe bereits 15 Monate seiner Strafe verbüsst, was den Anreiz für eine Flucht deutlich vermindere. Wohl trifft es zu, dass grundsätzlich der Anreiz zur Flucht abnimmt, je grösser der bereits erstandene Haftanteil wird. Dieser Grundsatz allein genügt indes nicht, um in einem konkreten Fall die Fluchtgefahr zu verneinen. Der Haftrichter hielt im angefochtenen Entscheid fest, der Beschwerdeführer habe nach wie vor die Verbüssung eines Strafrestes in empfindlicher Höhe zu erwarten, auch wenn berücksichtigt werde, dass ihm voraussichtlich nach zwei Dritteln der Strafe die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug gewährt werden dürfte. Diese Überlegungen sind nicht zu beanstanden. Es lässt sich ohne Verletzung der Verfassung annehmen, schon mit Rücksicht auf die Schwere der drohenden Strafe bestehe ein erheblicher Anreiz zur Flucht. 
 
Die kantonale Instanz führte im Weiteren aus, der Beschwerdeführer sei nach dem ihm zur Last gelegten Diebstahl der fünf Millionen Franken zunächst in die Slowakei geflüchtet. Die Fluchtgefahr habe sich somit im März 2001 "in optima forma konkretisiert". Es treffe zwar zu, dass sich der Beschwerdeführer in Bratislava gestellt und rund eine Million Franken aus der Beute herausgegeben habe. Daraus könne aber entgegen der Ansicht der Verteidigung nicht geschlossen werden, es bestehe heute keine Fluchtgefahr mehr. Von der Beute würden nach wie vor rund vier Millionen Franken fehlen. Der Beschwerdeführer behaupte, dieses Geld sei ihm von A.________ gestohlen worden, was von diesem bestritten werde. Ein Diebstahl könne zwar vorläufig nicht ganz ausgeschlossen werden. Es bestehe indes nach wie vor auch der Verdacht, der Beschwerdeführer könnte die verschwundenen vier Millionen Franken irgendwo versteckt haben. Zeit dazu habe er in Bratislava gehabt, und Pläne dazu hätten nach seinen eigenen Aussagen auch bestanden; der Beschwerdeführer habe sogar ein Gefäss für die Aufbewahrung eines Teils des Geldes gekauft. Der Verdacht der Bezirksanwaltschaft, der Beschwerdeführer könnte das Geld vergraben haben, sei unter diesen Umständen nicht als blosse Hypothese abzutun. Das fehlende Geld aus einem vorläufigen Versteck in Sicherheit zu bringen, könne durchaus eine Motivation für eine erneute Flucht sein. Die kantonale Instanz hielt sodann fest, auch wenn man davon ausginge, A.________ habe dem Beschwerdeführer die vier Millionen Franken abgenommen, sei ein möglicher Wunsch, das Geld zurückzuholen, als Fluchtmotivation anzusehen. 
 
In der staatsrechtlichen Beschwerde wird eingewendet, es sei höchst unwahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer nach einer Haftentlassung die Flucht ergreifen würde. Dabei wird betont, der Beschwerdeführer sei Schweizer, besitze keine andere Staatsbürgerschaft und habe immer in der Schweiz gelebt. Er habe keine Beziehungen zu Ausländern im Ausland und habe solche Beziehungen in jüngster Vergangenheit auch nicht aufbauen können. Mit diesen Vorbringen und den weiteren Ausführungen des Beschwerdeführers zur Frage des Fluchtrisikos wird nicht dargetan, dass die oben angeführten Feststellungen des Haftrichters verfassungswidrig wären. Dieser durfte in vertretbarer Weise annehmen, aufgrund des Verhaltens des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit der ihm vorgeworfenen Tat, insbesondere in Anbetracht der im März 2001 ergriffenen Flucht in die Slowakei, bestünden gewichtige Indizien für eine Fluchtgefahr. Werden die gesamten Verhältnisse des Beschwerdeführers in Betracht gezogen, so verletzte der Haftrichter das Grundrecht der persönlichen Freiheit nicht, wenn er den Haftgrund der Fluchtgefahr bejahte. 
2.4 Zur Frage der Anordnung von Ersatzmassnahmen führte der Haftrichter aus, eine Pass- und Schriftensperre erweise sich in Fällen, in denen - wie hier - die Fluchtgefahr als beträchtlich einzustufen sei, als wenig wirkungsvoll angesichts der durchlässigen Landesgrenzen. Ungenügend erscheine auch eine Fluchtkaution in der angebotenen Höhe von Fr. 10'000.--. Dieser Betrag vermöchte kaum die Untersuchungs-, Anwalts- und Gerichtskosten zu decken, und stehe zudem in keiner vernünftigen Relation zum noch nicht aufgefundenen Betrag von vier Millionen Franken. 
 
In der staatsrechtlichen Beschwerde wird nicht dargetan, dass diese Überlegungen sachlich nicht vertretbar wären. Der Haftrichter war mit Grund der Auffassung, eine Ersatzmassnahme vermöchte die beim Beschwerdeführer bestehende Fluchtgefahr nicht entscheidend zu bannen. 
2.5 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Haftdauer dann nicht mehr verhältnismässig, wenn sie in grosse Nähe der konkret zu erwartenden Strafe rückt oder gar die mutmassliche Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe übersteigt (BGE 126 I 172 E. 5a S. 176; 124 I 208 E. 6 S. 215 mit Hinweisen). Die in Art. 38 Ziff. 1 Abs. 1 StGB vorgesehene Möglichkeit einer bedingten Entlassung nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe ist bei der Berechnung der mutmasslichen Dauer der Freiheitsstrafe grundsätzlich ausser Acht zu lassen, es sei denn, die konkreten Umstände des Falles würden eine Berücksichtigung ausnahmsweise gebieten. Der Beschwerdeführer befindet sich seit rund 15 Monaten in Haft. Sollte er im Sinne des Antrags der Bezirksanwaltschaft verurteilt werden, so hätte er eine Strafe von 3 ½ Jahren Zuchthaus zu gewärtigen. Es kann daher nicht gesagt werden, die Fortdauer der Haft sei mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit nicht mehr vereinbar. 
 
Nach dem Gesagten verletzte der Haftrichter das verfassungsmässige Recht auf persönliche Freiheit nicht, wenn er das Gesuch des Beschwerdeführers um Entlassung aus der Haft bzw. dem vorzeitigen Strafvollzug abwies. Die staatsrechtliche Beschwerde ist deshalb abzuweisen. 
3. 
Dem Begehren des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne von Art. 152 Abs. 1 und 2 OG kann mit Rücksicht auf die gesamten Umstände des Falles entsprochen werden. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt: 
2.1 
Es werden keine Kosten erhoben. 
2.2 
Rechtsanwalt Ivo Doswald, Zürich, wird als amtlicher Anwalt des Beschwerdeführers bezeichnet und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'800.-- entschädigt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich, Büro C-2, und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 11. Juli 2002 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: