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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_500/2013  
   
   
 
 
 
Urteil vom 29. November 2013  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kernen, Präsident, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner, 
Gerichtsschreiber R. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
F.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Silvan Meier Rhein, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,  
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich 
vom 16. Mai 2013. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1965 geborene F.________ bezog nebst einer ganzen Invalidenrente (seit 1. Juni 2002) ab 1. Januar 2006 eine Entschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades (Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 4. Dezember 2007). Gestützt auf eine neue Abklärung der Hilflosigkeit (vom 31. Mai 2011) hob die IV-Stelle die Hilflosenentschädigung am 11. Oktober 2011 auf das Ende des der Verfügung folgenden Monats verfügungsweise auf, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch nicht mehr erfüllt seien. 
 
B.   
F.________ liess Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, unter Aufhebung der Verfügung vom 11. Oktober 2011 sei ihr weiterhin eine Entschädigung für leichte Hilflosigkeit zu gewähren. Mit Entscheid vom 16. Mai 2013 wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt die Versicherte den Antrag auf Zusprechung einer Entschädigung wegen leichter Hilflosigkeit über den 30. November 2011 hinaus erneuern. 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen über den Anspruch auf Hilflosenentschädigung (Art. 42 Abs. 1 IVG und Art. 37 IVV) zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. 
 
3.   
Wie das kantonale Gericht festgehalten hat, sind die Voraussetzungen für eine revisionsweise Aufhebung der mit Verfügung vom 4. Dezember 2007 zugesprochenen Entschädigung für leichte Hilflosigkeit nach Art. 17 ATSG nicht erfüllt: Denn sowohl aus dem Abklärungsbericht vom 31. Mai 2011 wie auch aus der Expertise des Zentrums für Medizinische Begutachtung (vom 27. Januar 2011) ergebe sich ein stationärer Gesundheitszustand; ein Revisionsgrund liege damit nicht vor. 
 
4.   
Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell rechtskräftige Verfügungen zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Unter diesen Voraussetzungen kann die Verwaltung eine Rentenverfügung auch dann abändern, wenn die Revisionsvoraussetzungen des Art. 17 ATSG nicht erfüllt sind. Wird die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung erst vom Gericht festgestellt, kann es die auf Art. 17 ATSG gestützte Revisionsverfügung mit dieser substituierten Begründung schützen (vgl. BGE 127 V 466 E. 2c S. 469, 125 V 368 E. 2 S. 369). Das Erfordernis der zweifellosen Unrichtigkeit ist in der Regel erfüllt, wenn eine Leistungszusprache aufgrund falsch oder unzutreffend verstandener Rechtsregeln erfolgt ist oder wenn massgebliche Bestimmungen nicht oder unrichtig angewandt wurden. Anders verhält es sich, wenn der Wiedererwägungsgrund im Bereich materieller Anspruchsvoraussetzungen liegt, deren Beurteilung notwendigerweise Ermessenszüge aufweist. Erscheint die Beurteilung einzelner Schritte bei der Feststellung solcher Anspruchsvoraussetzungen (Invaliditätsbemessung, Arbeitsunfähigkeitsschätzung, Beweiswürdigung, Zumutbarkeitsfragen) vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage, wie sie sich im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung darboten, als vertretbar, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus. Zweifellos ist die Unrichtigkeit, wenn kein vernünftiger Zweifel daran möglich ist, dass die Verfügung unrichtig war. Es ist nur ein einziger Schluss - derjenige auf die Unrichtigkeit der Verfügung - denkbar (SVR 2011 IV Nr. 71 S. 213, 9C_994/2010 E. 3.2.1; Urteil 9C_760/2010 vom 17. November 2010 E. 2). Diese Grundsätze zur Wiedererwägung gelten analog, wenn es um eine Verfügung geht, mit der eine Hilflosenentschädigung zugesprochen wurde. 
 
5.  
 
5.1. Die Vorinstanz gelangte zur Auffassung, die IV-Stelle habe den bei Zusprechung der Hilflosenentschädigung im Dezember 2007 bestehenden Sachverhalt nicht hinreichend abgeklärt. Sie habe weder eine psychiatrische Untersuchung veranlasst noch eine Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) beigezogen. Zudem seien die von Frau Dr. med. T.________ attestierten Einschränkungen nicht nachvollziehbar. Die ursprüngliche Verfügung sei mangels rechtskonformer Leistungszusprechung zweifellos unrichtig. Eine voraussetzungslose Prüfung des aktuellen Leistungsanspruchs zeige, dass die Versicherte durch eine somatoforme Schmerzstörung eingeschränkt ist. Diese begründe keine Invalidität, sondern sei mit einer zumutbaren Willensanstrengung regelmässig überwindbar. Eine Ausnahme, die in einer psychischen Komorbidität oder weiteren, von der Rechtsprechung als relevant bezeichneten Kriterien begründet sein könnte, liege nicht vor. Demgemäss sei nicht zu beanstanden, dass die IV-Stelle gestützt auf den Abklärungsbericht vom 31. Mai 2011 eine Hilflosigkeit verneinte.  
 
5.2. Die Versicherte verweist zunächst auf die Aktenlage zum Zeitpunkt der Verfügung vom 4. Dezember 2007, worunter den Abklärungsbericht vom 4. Oktober 2007, welcher in den Verrichtungen Essen und Körperpflege nachvollziehbar eine Einschränkung beschrieben habe. Die Sachverhaltsermittlung durch den Abklärungsdienst der IV-Stelle habe sich mit der ärztlichen Beurteilung gedeckt. Zwar enthielten die Beurteilungen der Frau Dr. med. T.________ und des Abklärungsdienstes notwendigerweise Ermessenszüge. Dies begründe jedoch keine zweifellose Unrichtigkeit. Die Voraussetzungen von Art. 53 Abs. 2 ATSG seien daher nicht gegeben. Sodann habe das kantonale Gericht übersehen, dass die Rechtsprechung zu den somatoformen Schmerzstörungen (BGE 130 V 352) und Fibromyalgien (BGE 132 V 65) die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens im Hinblick auf eine Arbeitsunfähigkeit als Folge einer psychischen Erkrankung gebiete. Bei der Hilflosenentschädigung gehe es jedoch nicht um Arbeitsunfähigkeit, weshalb denn auch die Resultate einer Abklärung bei der versicherten Person zu Hause massgebend sind. Eine solche sei im vorliegenden Fall durchgeführt worden. Zu guter Letzt bekräftigte die Beschwerdeführerin ihren Standpunkt, wonach sich der Begriff der Überwindbarkeit auf die Erwerbsunfähigkeit, nicht jedoch auf die Hilflosigkeit, beziehe. Die mit BGE 130 V 352 begründete Schmerzstörungspraxis nehme denn auch auf die durch die fragliche Krankheit verursachte Arbeitsunfähigkeit Bezug, nicht aber auf das Leiden an sich oder die mit diesem verbundene objektive Hilflosigkeit.  
 
5.3.  
 
5.3.1. Den Darlegungen der Beschwerdeführerin ist beizupflichten. Die ursprüngliche Verfügung vom 4. Dezember 2007, mit welcher der Versicherten eine Entschädigung für leichte Hilflosigkeit gewährt wurde, kann nicht als zweifellos unrichtig im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG und der Rechtsprechung bezeichnet werden. Die Leistungszusprechung erfolgte nicht aufgrund falsch verstandener Rechtsregeln oder infolge unrichtiger Anwendung der einschlägigen Normen. Vielmehr war eine Wiedererwägung unter den gegebenen Umständen unzulässig, und die Vorinstanz durfte die Revisionsverfügung der Verwaltung vom 11. Oktober 2011 nicht mit dieser substituierten Begründung bestätigen. Denn es geht um materielle Anspruchsvoraussetzungen, deren Beurteilung mit dem Ermessen der rechtsanwendenden Behörde verbunden ist (Einschätzung der Behinderung bei den einzelnen Lebensverrichtungen, Beweiswürdigung). Die Feststellung der entsprechenden Anspruchsvoraussetzungen erscheint vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage, wie sie sich zum Zeitpunkt der rechtskräftigen Zusprechung der Hilflosenentschädigung am 4. Dezember 2007 präsentiert haben, als vertretbar. Die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit scheidet damit aus.  
 
5.3.2. Gefolgt werden kann der Beschwerdeführerin grundsätzlich auch insofern, als sie auf die fehlende Rechtsgrundlage für die Anwendung der Überwindbarkeitspraxis bei somatoformen Schmerzstörungen gemäss BGE 130 V 352 im Bereich der Hilflosenentschädigungen hinweist. In der Tat nehmen sowohl Art. 7 Abs. 2 Satz 2 ATSG, wonach eine Erwerbsunfähigkeit nur vorliegt, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist, wie auch die Rechtsprechung zum invalidisierenden Charakter einer somatoformen Schmerzstörung oder von anderen pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage (Schmerzstörungspraxis; BGE 130 V 352, 139 V 346 E. 2) nur Bezug auf die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit, verstanden als gesundheitlich bedingter, ganzer oder teilweiser Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt (vgl. Art. 7 Abs. 1 ATSG). Ob die zitierte Rechtsprechung im Bereich der Hilflosenentschädigung in Einzelfällen anwendbar sein könnte, z.B. im Rahmen der lebenspraktischen Begleitung nach Art. 42 Abs. 3 IVG, wonach für Personen, die nur an einer psychischen Gesundheitsbeeinträchtigung leiden, für die Annahme einer Hilflosigkeit mindestens Anspruch auf eine Viertelsrente gegeben sein muss, kann im vorliegenden Fall offenbleiben, da sich diese Frage hier nicht stellt.  
 
6.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
In Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 16. Mai 2013 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 11. Oktober 2011 aufgehoben. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 29. November 2013 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kernen 
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer