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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
1B_288/2019  
 
 
Urteil vom 27. Juni 2019  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Chaix, Präsident, 
Bundesrichter Merkli, Fonjallaz, 
Gerichtsschreiber Dold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Meier, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich, 
Abt. für schwere Gewaltkriminalität. 
 
Gegenstand 
Untersuchungshaft, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts 
des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 23. Mai 2019 
(UB190061-O/U/BUT). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich führt gegen A.________ eine Strafuntersuchung wegen versuchter schwerer Körperverletzung und weiterer Delikte. Sie wirft ihm vor, sich am 5. Januar 2019 um ungefähr 23 Uhr beim Bahnhof Stadelhofen an einem Angriff gegen B.________ und C.________ beteiligt zu haben. Der Beschwerdeführer habe C.________ mit der Faust ins Gesicht geschlagen und, als dieser bereits auf dem Boden lag, zusammen mit weiteren Tätern auf ihn eingeschlagen und gegen Körper und Kopf getreten. Zudem habe er zusammen mit weiteren Tätern auf den ebenfalls auf dem Boden liegenden B.________ eingeschlagen und gegen Körper und Kopf getreten. B.________ habe eine Amnesie, ein leichtes Schädelhirntrauma, ein Monokelhämatom und eine Kontusion an der Stirn erlitten. 
A.________ wurde am 8. Januar 2019 verhaftet und mit Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts des Bezirks Zürich vom 11. Januar 2019 in Untersuchungshaft versetzt. Mit Verfügung vom 2. Mai 2019 verlängerte das Zwangsmassnahmengericht die Untersuchungshaft zum zweiten Mal. Eine von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 23. Mai 2019 ab. 
 
B.   
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 8. Juni 2019 an das Bundesgericht beantragt A.________, der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und er selbst sei unverzüglich aus der Haft zu entlassen, eventualiter unter Anordnung von Ersatzmassnahmen. 
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht haben auf eine Stellungnahme verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der angefochtene Entscheid betrifft die Verlängerung der Untersuchungshaft (Art. 220 Abs. 1 StPO). Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff. BGG gegeben. Der Beschwerdeführer nahm vor der Vorinstanz am Verfahren teil und befindet sich nach wie vor in Haft. Er ist deshalb nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt.  
 
1.2. Der Beschwerdeführer verweist pauschal auf seine Rechtsschriften an das Zwangsmassnahmengericht und kritisiert teilweise auch dessen Entscheid. Darauf ist nicht einzutreten. Die Begründung muss in der Beschwerde selbst enthalten sein (BGE 143 II 283 E. 1.2.3 S. 286 mit Hinweisen) und aufzeigen, inwiefern der angefochtene Entscheid - d. h. der Beschluss des Obergerichts - Recht verletzt (Art. 42 Abs. 2 BGG).  
 
2.   
Nach Art. 221 StPO ist Untersuchungshaft unter anderem zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (Abs. 1 lit. c). 
Das Obergericht führte aus, der Beschwerdeführer sei geständig, an der Auseinandersetzung vom 5. Januar 2019 beteiligt gewesen zu sein und einen der beiden Geschädigten mehrfach geschlagen zu haben. Er bestreite jedoch, mit den Füssen gegen die beiden am Boden Liegenden getreten zu haben. Gestützt auf die gegenwärtige Beweislage bestehe jedoch der dringende Verdacht, dass er mindestens einem der Geschädigten gegen den Kopf getreten habe, womit der dringende Tatverdacht auch in Bezug auf die ihm vorgeworfene versuchte schwere Körperverletzung zu bejahen sei. Zudem bestehe Wiederholungsgefahr. Es bestünden aufgrund der Anlasstat vom 5. Januar 2019 und eines weiteren, ähnlichen Vorfalls vom 1. April 2017 zwei Vortaten. 
Der Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht nicht. Er ist jedoch der Auffassung, es liege keine Wiederholungsgefahr vor. Jedenfalls reiche die Anordnung von Ersatzmassnahmen. Dem Obergericht wirft er zudem vor, die Begründungspflicht verletzt zu haben. 
 
3.   
Der angefochtene Entscheid genügt der verfassungsrechtlichen Begründungspflicht ohne Weiteres (Art. 29 Abs. 2 BV; BGE 143 III 65 E. 5.2 S. 70 f. mit Hinweisen). Das Obergericht hat detailliert dargelegt, weshalb es von Wiederholungsgefahr ausgeht. Dass der Beschwerdeführer annimmt, diese sei gestützt auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu verneinen, betrifft die inhaltliche Beurteilung, nicht die Begründungspflicht. 
 
4.  
 
4.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, das Obergericht gehe fälschlicherweise von zwei Vortaten aus. Die Anlasstat dürfe aber nicht gleichzeitig als Vortat herangezogen werden. Aus diesem Grund könnte die Wiederholungsgefahr nur dann bejaht werden, wenn die Gefahr bestünde, dass er ein schweres (Gewalt-) Verbrechen im Sinne von Art. 221 Abs. 2 StPO ausführe. Dafür gebe es aber keine Anhaltspunkte. Gemäss dem forensisch-psychiatrischen Gutachten vom 7. Mai 2019 bestehe lediglich ein moderates Rückfallrisiko für leichte bis mittelgradige Gewaltdelikte.  
 
4.2. Nach Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO sind drei Elemente für das Vorliegen von Wiederholungsgefahr konstitutiv. Erstens muss grundsätzlich das Vortatenerfordernis erfüllt sein und es müssen schwere Vergehen oder Verbrechen drohen. Zweitens muss hierdurch die Sicherheit anderer erheblich gefährdet sein. Drittens muss die Tatwiederholung ernsthaft zu befürchten sein, was anhand einer Rückfallprognose zu beurteilen ist (BGE 143 IV 9 E. 2.5 S. 14).  
Was das Vortatenerfordernis betrifft, können sich die bereits begangenen Straftaten aus rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren ergeben. Sie können jedoch auch Gegenstand eines noch hängigen Strafverfahrens bilden, in dem sich die Frage der Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft stellt, sofern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die beschuldigte Person solche Straftaten begangen hat. Der Nachweis, dass die beschuldigte Person eine Straftat verübt hat, gilt bei einem glaubhaften Geständnis oder einer erdrückenden Beweislage als erbracht. Die Gefährlichkeit des Täters lässt sich in diesem Sinne sowohl aufgrund von bereits abgeurteilten Vortaten beurteilen, als auch im Gesamtkontext der ihm neu vorgeworfenen Delikte, sofern mit ausreichender Wahrscheinlichkeit erstellt ist, dass er diese begangen hat. Erweisen sich die Risiken als untragbar hoch (sogenannte "qualifizierte Wiederholungsgefahr"), kann vom Vortatenerfordernis sogar vollständig abgesehen werden (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1 S. 13 und E. 2.6 S. 15 mit Hinweisen). 
Bei der Beurteilung der Schwere der drohenden Delikte sind neben der abstrakten Strafdrohung gemäss Gesetz insbesondere auch das betroffene Rechtsgut und der Kontext, namentlich die konkret vom Beschuldigten ausgehende Gefährlichkeit bzw. das bei ihm vorhandene Gewaltpotenzial, einzubeziehen. Die erhebliche Gefährdung der Sicherheit anderer durch drohende Verbrechen oder schwere Vergehen kann sich grundsätzlich auf Rechtsgüter jeder Art beziehen. Im Vordergrund stehen Delikte gegen die körperliche und sexuelle Integrität (BGE 143 IV 9 E. 2.6-2.7 S. 14-16 mit Hinweisen). 
Massgebliche Kriterien bei der Beurteilung der Rückfallprognose sind insbesondere die Häufigkeit und Intensität der fraglichen Delikte. Bei dieser Bewertung sind allfällige Aggravationstendenzen, wie eine zunehmende Eskalation respektive Gewaltintensität oder eine raschere Kadenz der Taten, zu berücksichtigen. Zu würdigen sind des Weiteren die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten bzw. verurteilten Person. Liegt bereits ein psychiatrisches Gutachten oder zumindest ein Vorabgutachten vor, ist dieses ebenfalls in die Beurteilung miteinzubeziehen. In der Regel erscheint die Gefährdung der Sicherheit anderer umso höher, je schwerer die drohende Tat wiegt. Betreffend die Anforderungen an die Rückfallgefahr gilt hingegen eine umgekehrte Proportionalität. Dies bedeutet, je schwerer die drohenden Taten sind und je höher die Gefährdung der Sicherheit anderer ist, desto geringere Anforderungen sind an die Rückfallgefahr zu stellen. Eine negative, d. h. eine ungünstige Rückfallprognose zur Annahme von Wiederholungsgefahr ist notwendig, grundsätzlich aber auch ausreichend (BGE 143 IV 9 E. 2.8-2.10 S. 16 f., sowie zum Ganzen: Urteil 1B_443/2017 vom 13. November 2017 E. 3.1; je mit Hinweisen). 
 
4.3. Aus dem Ausgeführten folgt, dass die Anlasstat entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers als Vortat zu berücksichtigen ist, sofern mit ausreichender Wahrscheinlichkeit erstellt ist, dass der Beschuldigte diese begangen hat (vgl. bspw. Urteil 1B_322/2014 vom 9. Oktober 2014 E. 3). Das Obergericht hat in Bezug auf den Vorfall vom 5. Januar 2019 festgestellt, dass das Geständnis des Beschwerdeführers die Straftatbestände der einfachen Körperverletzung und des Raufhandels oder Angriffs (Art. 123, 133 und 134 StGB) umfasse. Zudem sei eine weitere Strafuntersuchung hängig, in welcher dem Beschwerdeführer vorgeworfen werde, sich am 1. April 2017 an einer Schlägerei im Hauptbahnhof Zürich beteiligt zu haben. Er habe nach Vorhalt einer Videoaufnahme eingestanden, den Geschädigten im Bereich des Halses, des Bauchs und auch ins Gesicht geschlagen zu haben. Der Beschwerdeführer bestreitet diese Feststellungen nicht. Zu Recht ging das Obergericht gestützt darauf davon aus, dass das Vortatenerfordernis erfüllt sei und im eingestandenen Vorgehen zudem eine erhebliche Gefährlichkeit und ein beachtliches Gewaltpotenzial zum Ausdruck komme.  
 
4.4. Das Obergericht hat zudem detailliert dargelegt, weshalb von einer ungünstigen Rückfallprognose auszugehen sei. Der Beschwerdeführer geht auf die betreffenden Ausführungen nur insoweit ein, als er darauf verweist, dass der psychiatrische Gutachter lediglich eine moderate Rückfallgefahr in Bezug auf leichte bis mittelgradige Gewaltdelikte festgestellt habe. Das Obergericht hielt in dieser Hinsicht zu Recht fest, dass es eine Rechtsfrage darstelle, ab wann die Wahrscheinlichkeit einer Rückfallgefahr als rechtserheblich zu bewerten sei (BGE 143 IV 9 E. 3.4 S. 19; Urteil 1B_487/2017 vom 1. Dezember 2017 E. 3.8; je mit Hinweisen).  
Weiter legte das Obergericht mit Blick auf den konkreten Fall dar, dem Beschwerdeführer werde im Gutachten nebst einer moderaten Rückfallgefahr in Bezug auf leichte bis mittelgradige Gewaltdelikte auch ein hohes Rückfallrisiko für allgemeine Delinquenz attestiert. Es bestehe deshalb das Risiko, dass er sich in Situationen bringe, die nachträglich eskalierten. Auch der vorliegend zur Diskussion stehende Vorfall habe damit begonnen, dass er einer ihm unbekannten Person einen Joint entwendet habe. Weiter sei ohne therapeutische Intervention eine Progression zu befürchten. Schliesslich fielen insbesondere auch die diagnostizierten psychischen Störungen, das Fehlen einer Ausbildung, der desolate Lebensstil, die instabile Lebenssituation, die fehlende Tagesstruktur und das fehlende prosoziale Netz ins Gewicht. Der Beschwerdeführer setzt sich mit diesen Ausführungen nicht auseinander, weshalb insoweit auf die Beschwerde nicht einzutreten ist (Art. 42 Abs. 2 BGG). 
 
4.5. Insgesamt erweist sich die Kritik des Beschwerdeführers an der Annahme von Wiederholungsgefahr als unbegründet, soweit darauf einzutreten ist.  
 
5.   
Zur Möglichkeit der Anordnung von Ersatzmassnahmen hielt das Obergericht fest, gemäss den Ausführungen des Gutachters seien die Erfolgsaussichten einer ambulanten Massnahme sehr gering, lediglich eine stationäre Massnahme verspreche gewisse Erfolgsaussichten. Dem Beschwerdeführer wären bei einer Entlassung umfangreiche Auflagen und Weisungen zu machen, da eine Vielzahl von Rahmenbedingungen geschaffen und eine Behandlung fast alle Lebensbereiche erfassen müsste. Unter diesen Umständen seien eine ambulante Therapie und die weiteren vom Beschwerdeführer vorgeschlagenen Massnahmen nicht geeignet, das Rückfallrisiko kurzfristig zu minimieren. Dies gelte umso mehr, als erhebliche Zweifel an der Ernsthaftigkeit der vom Beschwerdeführer behaupteten Motivation bestünden und bisher weder die zahlreichen Bemühungen und Betreuungen schulpsychologischer, sozialarbeiterischer sowie berufsintegrativer Natur noch die Unterstützung der von ihm aufgeführten Personen und Netzwerke gefruchtet hätten. Daher seien Ersatzmassnahmen nicht geeignet, die Wiederholungsgefahr zu bannen. 
Der Beschwerdeführer geht auf diese überzeugenden Ausführungen nicht ein, sondern hält einzig fest, er dürfe nicht in Haft behalten werden, nur weil eine stationäre Massnahme erfolgversprechender sei als eine ambulante. Die Beschwerde ist auch in dieser Hinsicht unzureichend begründet (Art. 42 Abs. 2 BGG). 
 
6.   
Die Beschwerde ist aus diesen Gründen abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. 
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann dem Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. 
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
2.2. Rechtsanwalt Christian Meier wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt.  
 
3.   
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 27. Juni 2019 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Chaix 
 
Der Gerichtsschreiber: Dold