Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_455/2013  
   
   
 
 
 
Urteil vom 4. Oktober 2013  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner, 
Gerichtsschreiber Furrer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,  
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
G.________, vertreten durch 
Rechtsanwalt Markus Bischoff, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 5. Juni 2013. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
G.________, geboren 1954, vom 1. Januar 1981 bis zum 31. Juli 2010 bei der P.________ AG als Polier bzw. Vorarbeiter angestellt, meldete sich am 27. Juni 2008 unter Hinweis auf Bandscheibenprobleme bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 16. Mai 2011 verneinte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen den Anspruch auf eine Invalidenrente. 
 
B.   
In Gutheissung der hiegegen von G.________ erhobenen Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 5. Juni 2013 die Verfügung vom 16. Mai 2011 auf, sprach G.________ ab 1. Dezember 2008 eine Viertelsrente zu und wies die Sache zur Festsetzung der Rentenhöhe und zu neuer Verfügung im Sinn der Erwägungen an die IV-Stelle zurück. 
 
C.   
Die IV-Stelle erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die Verfügung vom 16. Mai 2011 zu bestätigen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ersucht die IV-Stelle um aufschiebende Wirkung ihrer Beschwerde. 
 
Der Beschwerdegegner schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Stellungnahme. 
 
D.   
Mit Verfügung vom 23. August 2013 hat der Instruktionsrichter der Beschwerde die aufschiebende Wirkung erteilt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz den Anspruch des Beschwerdegegners auf eine Viertelsrente ab 1. Dezember 2008 zu Recht bejaht hat. In diesem Zusammenhang steht nur mehr in Frage, ob sie mit der Gewährung eines Abzugs vom Tabellenlohn von 10 % Bundesrecht verletzte.  
 
2.2. Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage der Schweizerischen Lohnstrukturerhebungen des Bundesamtes für Statistik ermittelt, ist der entsprechende Ausgangswert (Tabellenlohn) allenfalls zu kürzen. Ob und in welcher Höhe statistische Tabellenlöhne herabzusetzen sind, hängt von sämtlichen persönlichen und beruflichen Umständen des Einzelfalles ab, die nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen sind. Relevante Merkmale sind leidensbedingte Einschränkung, Alter, Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad (BGE 134 V 322 E. 5.2 S. 327; 126 V 75 E. 5b/bb S. 80).  
 
2.3. Ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter) Abzug vom hypothetischen Invalideneinkommen vorzunehmen sei, ist eine Rechtsfrage. Demgegenüber stellt die Höhe des Abzuges eine typische Ermessensfrage dar, deren Beantwortung letztinstanzlicher Korrektur nur mehr dort zugänglich ist, wo das kantonale Gericht das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, d.h. bei Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung (BGE 137 V 71 E. 5.1 S. 72 f. mit Hinweis auf BGE 132 V 393 E. 3.3 in fine S. 399).  
 
3.  
 
3.1. Das kantonale Gericht erwog, der Beschwerdegegner sei zum Verfügungszeitpunkt bereits 57-jährig gewesen. Erwerbslose Personen ab 50 Jahren seien auf dem Arbeitsmarkt bekanntermassen benachteiligt, was beim Zusammenfallen mit gesundheitlichen Beschwerden umso mehr gelte. Zudem sei der Beschwerdegegner während 26 Jahren bei derselben Bauunternehmung als diplomierter Baupolier tätig gewesen. Seine langdauernde Betriebszugehörigkeit sowie die langjährige körperlich schwere Tätigkeit und die damit verbundene Problematik hinsichtlich der Einarbeitung in neue Tätigkeitsgebiete seien ebenfalls geeignet, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und den zu erwartenden Lohn zu schmälern. Unter Berücksichtigung dieser Umstände halte die Aberkennung eines Leidensabzugs einer Ermessensprüfung nicht stand. Das auf rückenadaptierte Tätigkeiten beschränkte Arbeitsspektrum in Verbindung mit dem lohnmindernden Alter und der langen Betriebszugehörigkeit lasse einen Leidensabzug von insgesamt 10 % als angemessen erscheinen.  
 
3.2. Die Beschwerdeführerin rügt, die vorinstanzliche Gewährung eines Abzugs von 10 % sei bundesrechtswidrig. Das Alter wirke sich im Bereich der einfachen und repetitiven Tätigkeiten des Anforderungsniveaus 4 bei männlichen Arbeitnehmern im Alterssegment von 50 bis 64/65 nicht lohnsenkend aus, dessen negativer Einfluss bei der Stellensuche sei invaliditätsfremd und damit unbeachtlich. Gemäss Rechtsprechung sei kein Abzug gerechtfertigt, sofern - wie hier - leichte bis mittelschwere Arbeiten zumutbar seien, auch wenn die Leistungsfähigkeit eingeschränkt sei. Die gesundheitlich bedingte Unmöglichkeit, weiterhin schwere körperliche Arbeit zu verrichten, bilde keinen Grund für einen leidensbedingten Abzug. Hinsichtlich der langen Betriebszugehörigkeit sei vor allem zu berücksichtigen, dass die Bedeutung der Dienstjahre im privaten Sektor abnehme, je niedriger das Anforderungsprofil sei. Da es vorliegend um einfache und repetitive Tätigkeiten gehe, wirke sich die lange Betriebszugehörigkeit nicht lohnsenkend aus.  
 
3.3. Der Beschwerdegegner hält dagegen, er sei gesundheitsbedingt nicht mehr im ganzen Segment des Arbeitsmarktes einsetzbar. Das Dienstalter wirke sich lohnmindernd aus, weil er nach über 26 Jahren bei derselben Unternehmung den realen Arbeitsmarkt nicht mehr kenne und ein neuer Arbeitgeber grösste Zweifel hätte, ob er sich in einer anderen Tätigkeit und in einem anderen persönlichen Berufsumfeld noch einordnen könnte. In seinem Fall sei auch das Alter abzugsbegründend, weil er lohnmässig in einem völlig anderen beruflichen Umfeld wieder "unten anstehen" müsste. Schliesslich lebe er in einer strukturschwachen Gegend.  
 
4.  
 
4.1. Dass der seit 1981 für den gleichen Arbeitgeber tätig gewesene Beschwerdegegner mit dem Verlust seiner Arbeitsstelle auch den (allenfalls) lohnrelevanten Vorteil der bisherigen Dienstjahre verliert, ist plausibel. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht geltend macht, ist eine lange Dienstdauer beim gleichen Arbeitgeber auf dem hypothetischen ausgeglichenen Arbeitsmarkt aber grundsätzlich positiv zu werten, indem die durch die langjährige Betriebstreue ausgewiesene Zuverlässigkeit und Tüchtigkeit sich bei einem anderen Arbeitgeber im Anfangslohn niederschlägt. Vor allem aber nimmt die Bedeutung der Dienstjahre im privaten Sektor ab, je niedriger das Anforderungsprofil ist (BGE 126 V 75 E. 5a/cc S. 79; Urteile 9C_386/2012 vom 18. September 2012 E. 5.2; 8C_939/2011 vom 13. Februar 2012 E. 5.2.3; je mit Hinweisen). Mit Blick auf das der vorinstanzlichen Festlegung des Invalideneinkommens zu Grunde liegende Anforderungsniveau 4 kommt der langen Betriebszugehörigkeit daher keine relevante Bedeutung zu.  
 
4.2. Was das Merkmal Alter anbelangt - der Beschwerdegegner war bei Verfügungserlass am 16. Mai 2011 (BGE 132 V 215 E. 3.1.1 S. 220) 57 Jahre alt -, so ist der Einwand der Beschwerdeführerin zutreffend, wonach sich das Alter im Anforderungsniveau 4 unter Umständen sogar lohnerhöhend auswirkt (z. B. Urteil 8C_939/2011 vom 13. Februar 2013 E. 5.2.3). Indes ist das fortgeschrittene Alter als abzugsrelevanter Aspekt immer unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalles zu prüfen (Urteil 9C_334/2013 vom 24. Juli 2013 E. 3). Diese zeichnen sich hier wesentlich dadurch aus, dass der Beschwerdegegner während 26 Jahren als gelernter Maurer mit Weiterbildung zum Maurerpolier für sämtliche Arbeiten auf einer Baustelle zuständig war, kleineren oder grösseren Gruppen Anleitungen für die Erstellung von Bauten gab und sich auf Schalungen spezialisiert hat (Bericht Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit vom 26. Mai 2008). Das jahrzehntelange Arbeiten im Baugewerbe sowie die grosse Erfahrung im Erstellen von Schalungen zeichnen ihn als Facharbeiter aus, welcher über ein solides berufliches Rüstzeug verfügt. Damit dürfte die Integration in den Arbeitsmarkt trotz des fortgeschrittenen Alters nicht wesentlich erschwert sein, weshalb sich ein Abzug auch unter diesem Titel nicht rechtfertigen lässt.  
 
4.3. Keinen Abzug rechtfertigt auch der vom Beschwerdegegner geltend gemachte Umstand, er lebe in einer strukturschwachen Gegend. Denn der bei der Invaliditätsbemessung massgebende Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes (Art. 16 ATSG) berücksichtigt die konkrete Arbeitsmarktlage nicht (BGE 134 V 64 E. 4.2.1 S. 70; Ulrich Meyer, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 2. Aufl. 2010, S. 323 f.; a. M. Philipp Geertsen, Der Tabellenlohnabzug, in: Kieser/Lendfers [Hrsg.]: Jahrbuch zum Sozialversicherungsrecht 2012, S. 139 ff., S. 152). Zudem vermag die versicherte Person ihre Resterwerbsfähigkeit nicht bloss in einer bestimmten Region zu verwerten (Urteil 9C_466/2007 vom 25. Januar 2008 E. 4.2.1 mit Hinweisen), woran auch im Falle des Beschwerdegegners festzuhalten ist.  
 
4.4. Die gesundheitlich bedingte Unmöglichkeit, weiterhin körperlich schwere Arbeit zu verrichten, führt nicht automatisch zu einer weiteren Verminderung des hypothetischen Invalidenlohnes, weil der Tabellenlohn im Anforderungsniveau 4 bereits eine Vielzahl von leichten und mittelschweren Tätigkeiten umfasst (Urteil 9C_386/2012 vom 18. September 2012 E. 5.2 mit Hinweis). Indes sind im hier zu beurteilenden Fall die Voraussetzungen für einen derartigen Abzug - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin - mit dem kantonalen Gericht insofern erfüllt, als der Beschwerdegegner auch bei grundsätzlich zumutbaren leichten bis mittelschweren Arbeiten auf "optimal" rückenadaptierte Tätigkeiten verwiesen (Stellungnahme des Dr. med. B.________, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, Physikalische Medizin und Rehabilitation sowie Rheumatologie FMH, vom 16. August 2010) und sein erwerbliches Leistungsvermögen entsprechend beschränkt ist, so dass er sich wohl mit einem geringeren Lohn zu begnügen hat als voll leistungsfähige und entsprechend einsetzbare Arbeitnehmer (BGE 129 V 472 E. 4.2.3 S. 481 mit weiteren Hinweisen). Die Gewährung eines Abzugs vom Tabellenlohn ist unter diesem Blickwinkel - auch in Anbetracht ähnlich gelagerter Fälle (Urteile 8C_305/2012 vom 6. September 2012 E. 5.3; 9C_617/2010 vom 10. Februar 2011 E. 4.3; 8C_190/2010 vom 19. März 2010 E. 3.4; U 122/05 vom 30. August 2005 E. 3.2.2) - bundesrechtskonform. Schliesslich hat die Vorinstanz ihr Ermessen in Bezug auf die Höhe des Abzugs nicht rechtsfehlerhaft (ermessensmissbräuchlich; E. 2.3 hievor) ausgeübt, weshalb das Bundesgericht nicht korrigierend einzugreifen hat. Damit hat es beim gewährten Abzug vom Tabellenlohn von 10 % sein Bewenden.  
 
4.5. Die Invaliditätsbemessung des kantonalen Gerichts ist weiter nicht bestritten. Es besteht kein Anlass zu einer näheren Prüfung.  
 
5.   
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie hat dem Beschwerdegegner überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.- zu entschädigen. 
 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der Ausgleichskasse Schweizerischer Baumeisterverband, Zürich, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 4. Oktober 2013 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Meyer 
 
Der Gerichtsschreiber: Furrer