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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_90/2017  
   
   
 
 
 
Urteil vom 4. Juli 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber Fessler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch die Sozialen Dienste der Stadt B.________, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; gemische Methode), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 12. Dezember 2016. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________, alleinerziehende Mutter eines Sohnes, arbeitete zuletzt vom... bis zum... zu 40 % als ungelernte Verkäuferin. Im Dezember 2013 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Auf den 1. August 2014 verlegte die Versicherte ihren Wohnsitz aus dem Kanton Aargau in die Stadt B.________. U.a. gestützt auf das rheumatologisch-psychiatrische Gutachten der Academy of Swiss Insurance Medicine (asim), Universitätsspital Basel, vom 5. Mai 2015 und den Bericht vom 10. November 2015 über die Abklärung der beeinträchtigten Arbeitsfähigkeit in Beruf und Haushalt verneinte die IV-Stelle des Kantons Aargau nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 2. Juni 2016 den Anspruch der Versicherten auf eine Invalidenrente. 
 
B.   
Die Beschwerde von A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 12. Dezember 2016 ab. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den Rechtsbegehren, der Entscheid vom 12. Dezember 2016 und die Verfügung der IV-Stelle vom 2. Juni 2015 seien aufzuheben; es sei ihr eine halbe Rente zuzusprechen; eventualiter sei die Sache an die IV-Stelle zur rechtsgenüglichen Sachverhaltsabklärung zurückzuweisen; im Falle des Unterliegens sei ihr die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren. 
 
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz auf Rüge hin oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Eine solche Verletzung von Bundesrecht stellt namentlich die unvollständige (gerichtliche) Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen dar (BGE 135 V 23 E. 2 S. 25) oder wenn der angefochtene Entscheid eine entscheidwesentliche Tatfrage, im Streit um eine Rente der Invalidenversicherung namentlich Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit einer versicherten Person, auf unvollständiger Beweisgrundlage beantwortet (Urteil 9C_292/2014 vom 3. September 2014 E. 3; vgl. auch BGE 132 III 83 E. 3.5 S. 88). Die vorinstanzliche Beweiswürdigung ist lediglich auf Willkür hin überprüfbar (Urteil 4A_67/2014 vom 4. März 2015 E. 2.2, in: SVR 2015 KV Nr. 19 S. 73). 
 
2.   
Streitgegenstand bildet der von der Vorinstanz und zuvor schon von der Beschwerdegegnerin verneinte Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Rente der Invalidenversicherung. 
 
3.   
Das kantonale Versicherungsgericht hat in Anwendung der gemischten Methode der Invaliditätsbemessung (Art. 28a Abs. 3 IVG) im Sinne der Rechtsprechung gemäss BGE 125 V 146 und seitherige Urteile (vgl. statt vieler BGE 137 V 334 E. 3.1.3 und E. 3.2 S. 338) einen    Invaliditätsgrad von 12 % (0,6 x 16.66 % + 0.4 x 4.5 %) ermittelt, was für den Anspruch auf eine Rente nicht ausreicht (Art. 28 Abs. 2 IVG). Die Beschwerdeführerin rügt unter Verweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR; Zweite Kammer) in Sachen Di Trizio gegen die Schweiz (7186/09) vom 2. Februar 2016 eine "Diskriminierung von Frauen durch die Anwendung der gemischten Methode" (E. 4). Weiter bestreitet sie, im Gesundheitsfall lediglich zu 60 % als Verkäuferin erwerbstätig zu sein. Vielmehr würde sie ohne gesundheitliche Beeinträchtigung mindestens ein 90 %-Pensum versehen (E. 5). 
 
4.   
In Umsetzung des Urteils des EGMR i. S. Di Trizio vom 2. Februar 2016 hat das Bundesgericht entschieden, dass die revisionsweise Herabsetzung oder Aufhebung einer Invalidenrente konventionswidrig ist, wenn allein familiäre Gründe (wie die Geburt von Kindern und die damit einhergehende Reduktion des Erwerbspensums) für einen Statuswechsel von "vollerwerbstätig" zu "teilerwerbstätig" mit Aufgabenbereich sprechen (BGE 143 I 50 E. 4.1 S. 58; 143 I 60 E. 3.3.4 S. 64). Es hat indessen die gemischte Methode nach geltender Praxis nicht "per se" als diskriminierend erachtet "sans égard à la situation concrète" (Urteil 9C_473/2016 vom 25. Januar 2017 E. 4, in: SVR 2017 IV Nr. 31 S. 88). Namentlich hat das Bundesgericht diese Methode der Invaliditätsbemessung weiterhin für anwendbar erklärt in Fällen der erstmaligen Zusprechung einer Rente an eine während des massgebenden Beurteilungszeitraums als teilerwerbstätig (mit Aufgabenbereich) zu qualifizierende versicherte Person (Urteil 9C_615/2016 vom 21. März 2017 E. 5.2). Nicht anders kann es sich verhalten, wenn bei der erstmaligen Prüfung ein Rentenanspruch zu verneinen ist. Es besteht kein Anlass, vorliegend anders zu entscheiden (vgl. auch Urteil 9C_525/2016 vom 15. März 2017 E. 4.2). 
 
5.  
 
5.1. Ob und gegebenenfalls in welchem zeitlichen Umfang eine in einem Aufgabenbereich tätige versicherte Person (Art. 5 Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 8 Abs. 3 ATSG) ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erwerbstätig wäre (Statusfrage), ergibt sich aus der Prüfung, was sie bei im Übrigen unveränderten Umständen täte, wenn keine gesundheitliche Beeinträchtigung bestünde (BGE 141 V 15 E. 3.1 S. 20). Entscheidend ist somit nicht, welches Ausmass der Erwerbstätigkeit der versicherten Person im Gesundheitsfall zugemutet werden könnte, sondern in welchem Pensum sie hypothetisch erwerbstätig wäre (BGE 133 V 504 E. 3.3 S. 507). Bei im Haushalt tätigen Versicherten im Besonderen (vgl. Art. 27 IVV) sind die persönlichen, familiären, sozialen und erwerblichen Verhältnisse ebenso wie allfällige Erziehungs- und Betreuungsaufgaben gegenüber Kindern, das Alter, die beruflichen Fähigkeiten und die Ausbildung sowie die persönlichen Neigungen und Begabungen zu berücksichtigen (Urteil 9C_701/2016 vom 1. März 2017 E. 3.1 mit Hinweisen).  
 
Mit Bezug auf den invalidenversicherungsrechtlichen Status (voll-, teil- oder nichterwerbstätig mit oder ohne Aufgabenbereich) qualifiziert sich als grundsätzlich frei überprüfbare Rechtsfrage, ob die Festlegung nach den massgeblichen Gesichtspunkten erfolgte (vgl. zu diesen: BGE 125 V 146 E. 2c S. 150; Urteil 8C_78/2016 vom 26. August 2016 E. 4.2). Dagegen ist die Festsetzung des Umfangs der Erwerbstätigkeit im Gesundheitsfall, soweit sie auf einer Würdigung konkreter Umstände und hypothetischer Geschehensabläufe beruht und sich nicht ausschliesslich auf die allgemeine Lebenserfahrung oder auf arbeitsmarktliche Empirie stützt, eine Tatfrage, welche der eingeschränkten Kognition unterliegt (Urteil 9C_441/2016 vom 16. Dezember 2016 E. 5.1 mit Hinweisen). 
 
5.2. Die Vorinstanz hat namentlich aufgrund der Angaben der Beschwerdeführerin gegenüber der Abklärungsperson "Beruf und Haushalt" sowie ihrer "bisherigen Erwerbs- und Aufgabenbiographie" den Anteil der Erwerbstätigkeit und der Betätigung im Aufgabenbereich Haushalt im Gesundheitsfall auf 0.6 und 0.4 festgesetzt (vgl. BGE 125 V 146 E. 2b S. 149). Dem Sozialhilfegesetz des Kantons Zürich, in welchem die Versicherte seit 1. August 2014 wohnt, hat es im Übrigen jegliche Bedeutung für die Beurteilung der Statusfrage abgesprochen.  
 
5.3. Die Beschwerdeführerin hatte im Vorbescheidverfahren und vor Vorinstanz geltend gemacht, Sozialhilfeempfänger der Stadt B._______ müssten, sobald das jüngste Kind dreijährig sei, wieder eine Erwerbstätigkeit mit einem Beschäftigungsgrad von bis zu 100 % aufnehmen, wenn damit eine weitere Abhängigkeit von der Sozialhilfe verhindert werden könne. Für die Deckung ihres Lebensunterhalts und desjenigen ihres Sohnes wäre nach der Berechnung der Sozialen Dienste ein Arbeitspensum von 90 % erforderlich (Einwand zum Vorbescheid vom 9. März 2016, Beschwerde vom 8. Juli 2016). Vor Bundesgericht weist sie wiederum auf die Auflage einer Erwerbstätigkeit im Gesundheitsfall im Rahmen der sozialhilferechtlichen Schadenminderungspflicht hin, welcher sie - sinngemäss - umso mehr nachzukommen hätte, als die Betreuung des Sohnes vollumfänglich gewährleistet werden könnte. Sie rügt eine Verletzung von Art. 43 Abs. 1 ATSG. Sie hätte gefragt werden müssen, welches Arbeitspensum sie ausüben würde, wenn aufgrund des Sozialhilfegesetzes die Leistungen reduziert oder gänzlich gestrichen würden, da ihr dadurch ein nicht unwesentlicher Teil an Einkommen entgehen würde. Sie wäre gezwungen, dieses Einkommen auf irgendeine andere Art anderweitig zu erzielen. Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit hätte sie das getan, indem sie ihr Arbeitspensum erhöht hätte.  
 
5.4.  
 
5.4.1. Das für die Sozialhilfe zuständige Gemeinwesen kann vom Leistungsempfänger verlangen, dass er, soweit zumutbar, eine Erwerbstätigkeit ausübt. Dabei handelt es sich im Sinne des in diesem Bereich geltenden Grundsatzes der Subsidiarität bzw. des Vorrangs der Selbsthilfe um eine Anspruchsvoraussetzung (BGE 133 V 353 E. 4.2 S. 357; 130 V 71 E. 4.3 S. 76; Urteil 8C_787/2011 vom 28. Februar 2012 E. 3.2.1-2). Im Wohnkanton Zürich der Beschwerdeführerin gilt Folgendes: Die wirtschaftliche Hilfe darf mit Auflagen und Weisungen verbunden werden, die geeignet sind, die Lage des Hilfeempfängers und seiner Angehörigen zu verbessern, insbesondere Bestimmungen über die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit (§ 21 des Sozialhilfegesetzes vom 14. Juni 1981 [SHG; LS 851.1] und § 23 lit. d der Verordnung vom 21. Oktober 1981 zum Sozialhilfegesetz [SHV; LS 851.11]). Bei Verstössen gegen Anordnungen, Auflagen oder Weisungen können die Leistungen nach entsprechendem vorgängigem schriftlichem Hinweis so weit gekürzt werden, als dadurch der Lebensunterhalt des Hilfeempfängers und seiner Angehörigen nicht gefährdet wird (§ 24 lit. a Ziff. 1 SHG und § 24 SHV).  
 
5.4.2. Die Beschwerdeführerin könnte im Gesundheitsfall somit von der Sozialhilfebehörde angehalten werden, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, andernfalls die Leistungen gekürzt würden. Daraus kann indessen nicht ohne Weiteres gefolgert werden, sie würde ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ein höheres Arbeitspensum ausüben als die gegenüber der Abklärungsperson "Beruf und Haushalt" angegebenen 60-80 %, sodass überhaupt keine Sozialhilfeabhängigkeit mehr bestünde. Daran ändert das in der vorinstanzlichen Beschwerde erwähnte umfassende Kinderbetreuungs- und Wiedereingliederungsangebot für (arbeitslose) Sozialhilfe-Ansprecher am Wohnort der Versicherten (B._______) nichts. Vielmehr ist, ganz allgemein, für die Annahme eines im Gesundheitsfall höheren erwerblichen Arbeitspensums der Nachweis einer konsequent gehandhabten Praxis erforderlich, wonach die betreffenden Personen effektiv zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder zur Erweiterung der bestehenden angehalten werden, bei Androhung einer und gegebenenfalls verhängten Leistungskürzung im Unterlassungsfalle. Unter Umständen kann auch genügen, dass die am Recht stehende versicherte Person konkret aufgefordert wurde, soweit zumutbar, die verbleibende Arbeitsfähigkeit erwerblich zu verwerten und sie entsprechende Bemühungen um eine Anstellung nachweisen kann.  
 
Die Sozialen Dienste der Stadt B._______, welche die Beschwerdeführerin bereits im Vorbescheidverfahren vertraten, haben sich nie in dem Sinne geäussert und entsprechende Belege dafür eingereicht, dass in Bezug auf die Pflicht von Bezügern wirtschaftlicher Hilfe zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit eine Praxis im dargelegten Sinne besteht. Aufgrund der Akten hatte sodann die Beschwerdeführerin bereits Sozialhilfeleistungen bezogen, bevor sie sich im Dezember 2013 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug anmeldete. Sie macht auch in diesem Verfahren nicht geltend und es bestehen keine Anhaltspunkte, dass sie von den Sozialhilfebehörden jemals zur Arbeitssuche angehalten worden wäre oder sie von sich aus eine Anstellung gesucht hätte. Dabei steht fest, dass sie zu 50 % arbeitsfähig ist und eine erwerbliche Tätigkeit in diesem Umfang neben der Betreuung des Sohnes grundsätzlich zumutbar wäre. Unter diesen Umständen verletzt die Annahme einer Erwerbstätigkeit im Gesundheitsfall von 60 % kein Bundesrecht. 
 
6.   
Die vorinstanzliche Invaliditätsbemessung wird im Übrigen nicht beanstandet. Es besteht kein Grund zu einer näheren Prüfung. 
 
Die Beschwerde ist unbegründet. 
 
7.   
Ausgangsgemäss wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann indessen entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a       S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach sie der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes einstweilen auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 4. Juli 2017 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler