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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6P.151/2005 /rom 
 
Urteil vom 17. August 2006 
Kassationshof 
 
Besetzung 
Bundesrichter Schneider, Präsident, 
Bundesrichter Wiprächtiger, Karlen, 
Gerichtsschreiber Boog. 
 
Parteien 
A.X.________, 
B.X.________, 
C.X.________, 
Beschwerdeführer, 
alle drei vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. Peter Conrad, 
 
gegen 
 
A.________, 
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Urs Beat Pfrommer, 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau. 
 
Gegenstand 
Willkürliche Beweiswürdigung (Art. 9 BV), Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV), Unschuldsvermutung (Art. 32 BV), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 25. August 2005. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Am 4. Juni 2001 kollidierten bei Wittnau in der Luft zwei Segelflugzeuge, die beide abstürzten. A.________, der Pilot der am Unfall beteiligten DG-600, konnte sich mit dem Fallschirm retten und erlitt bei der Landung eine Unterschenkelfraktur. B.________ und D.X.________, die im anderen Segelflugzeug - einer ASK 21 - sassen, fanden beim Absturz den Tod. Der Zusammenstoss ereignete sich um die Mittagszeit, als sich in der Umgebung des Flugplatzes Schupfart bereits sieben Segelflugzeuge in der Luft befanden. Zur Kollision kam es, als die ASK 21 von rechts - in leicht angestellter und leichter Rechts-Querlage - unmittelbar vor die DG-600 flog. 
B. 
Aufgrund dieses Sachverhalts klagte die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau A.________ der mehrfachen fahrlässigen Tötung gemäss Art. 117 StGB an. Sie warf ihm im Wesentlichen vor, den recht eng besetzten Luftraum beim Sich-Einfügen nicht mit der genügenden Sorgfalt beobachtet und das von rechts nahende und daher vortrittsberechtigte Segelflugzeug nicht gesehen und den nötigen Abstand nicht eingehalten zu haben. Mit Urteil vom 22. April 2004 sprach das Bezirksgericht Laufenburg A.________ von der Anklage der mehrfachen fahrlässigen Tötung frei. Die gegen dieses Urteil von der Staatsanwaltschaft und von A.X.________, B.X.________ und C.X.________ erhobenen Berufungen wies das Obergericht des Kantons Aargau am 25. August 2005 ab. 
C. 
A.X.________, B.X.________ und C.X.________ führen staatsrechtliche Beschwerde, mit der sie die Aufhebung des angefochtenen Entscheids wegen willkürlicher Beweiswürdigung, Verletzung der Unschuldsvermutung und des Anspruchs auf rechtliches Gehör beantragen. 
D. 
Das Obergericht hat auf eine Stellungnahme zur Beschwerde verzichtet. Vernehmlassungen wurden nicht eingeholt. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Die Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde setzt die persönliche Betroffenheit des Beschwerdeführers in eigenen rechtlich geschützten Positionen voraus (Art. 88 OG; vgl. BGE 120 Ia 110 E. 1a). Nach der Praxis des Bundesgerichts ist der durch eine angeblich strafbare Handlung Geschädigte grundsätzlich nicht legitimiert, gegen die Einstellung eines Strafverfahrens oder gegen ein freisprechendes Urteil staatsrechtliche Beschwerde zu erheben. Er kann daher nur die Verletzung von Verfahrensrechten rügen, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt (BGE 128 I 218 E. 1.1). 
 
Doch kann der Geschädigte, wenn ihm die Stellung als Opfer im Sinne von Art. 2 Abs. 1 des Opferhilfegesetzes (OHG; SR 312.5) zukommt, gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG den Gerichtsentscheid mit den gleichen Rechtsmitteln anfechten wie der Beschuldigte, wenn es sich bereits vorher am Verfahren beteiligt hat und soweit der Entscheid seine Zivilansprüche betrifft oder sich auf deren Beurteilung auswirken kann. Diese Bestimmung geht Art. 88 OG als Spezialgesetz vor. Die Legitimation des Opfers ist insoweit auf materiellrechtliche Fragen erweitert (BGE 128 I 218 E. 1.1; BGE 120 Ia 101 E. 2a S. 105, 157 E. 2c). 
 
Als Opfer gilt jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist, und zwar unabhängig davon, ob der Täter ermittelt worden ist und ob er sich schuldhaft verhalten hat (Art. 2 Abs. 1 OHG). Die Beschwerdeführer sind die hinterbliebenen Kinder und die Witwe des einen Unfallopfers. Da diese gemäss Art. 2 abs. 2 OHG dem Opfer gleich gestellt werden und auch die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind, kann auf die Beschwerde grundsätzlich eingetreten werden. 
2. 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde kann allein die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden. Sie ist nur zulässig, wenn die behauptete Rechtsverletzung nicht sonstwie durch Klage oder Rechtsmittel beim Bundesgericht oder einer andern Bundesbehörde gerügt werden kann (vgl. BGE 120 Ia 36 E. b; 118 Ia 139 E. c). Die Rüge, der kantonale Richter habe eidgenössisches Recht falsch angewendet, ist der Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichtes vorbehalten und kann daher mit staatsrechtlicher Beschwerde nicht erhoben werden (Art. 84 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 OG; Art. 269 BstP; BGE 122 I 70 E. 1 mit Hinweisen). Soweit die Beschwerdeführer ein unzulässiges Herabsetzen des Sorgfaltsmassstabes rügen, kann auf ihre Beschwerde somit nicht eingetreten werden. 
3. 
Das Obergericht gelangt aufgrund der Würdigung der Beweismittel zum Schluss, dass der genaue Hergang der Kollision der Segelflugzeuge vom 4. Juni 2001 nicht vollständig ermittelt werden kann. Klarheit besteht darüber, dass der Beschwerdegegner seine DG-600 östlich des Tiersteinbergs vom sie schleppenden Flugzeug löste, er darauf eine Umkehrkurve nach links vollzog und hierauf geradeaus in südwestlicher Richtung flog und dass es nach nicht ganz einer Minute seit dem Ausklinken zur Kollision mit der ASK 21 kam. Nach dem Schlussbericht des Büros für Flugunfalluntersuchungen vom 23. Dezember 2002 flog die ASK 21 von rechts, in leicht angestellter und leichter Rechts-Querlage unmittelbar vor die DG-600. Letztere berührte hierauf mit dem rechten Flügel zuerst die linke Seite der Seitenflosse der ASK 21. Durch die Vorwärtsbewegung der ASK 21 schlug anschliessend ihre Höhenflosse gegen den Rumpf der DG-600 und trennte sich von der Seitenflosse. Die beiden Segelflugzeuge bewegten sich bezogen auf die Hochachse in einem spitzen Winkel von rund 60° aufeinander zu. Der Beschwerdegegner erklärte, die ASK 21 beim Steigflug nicht gesehen zu haben. Nach dem Ausklinken sei diese von hinten, unten rechts gekommen, so dass er sie nicht habe erkennen können. Der Pilot des Schleppflugzeugs ist zwar beim Aufstieg einem Segelflugzeug ausgewichen. Er konnte sich jedoch nicht erinnern, die ASK 21 während des Schleppens gesehen zu haben. 
 
Im angefochtenen Entscheid wird die Auffassung der ersten Instanz verworfen, nach der die ASK 21 schneller flog als die DG-600 und die Letztere - von hinten kommend - überholt habe. Als erstellt erachtet das Obergericht einzig, dass die ASK 21 von rechts, in leicht angestellter und leichter Rechts-Querlage, unmittelbar vor die sich geradeaus bewegende DG-600 geflogen ist. Eine Rekonstruktion des Flugverlaufs der ASK 21 hält es dagegen für unmöglich. Insbesondere könne nicht gesagt werden, wo sich dieses Flugzeug beim Ausklinken der DG-600 befunden habe. Aus diesem Grund sei es nicht erwiesen, dass der Beschwerdegegner die ASK 21 vor der Kollision hätte sehen und ihr hätte ausweichen können. Es komme hinzu, dass es bei der DG-600 tote Winkel gebe, und es stehe nicht fest, dass sich die ASK 21 nicht in einem solchen befunden habe. Schliesslich könne auch nicht ausgeschlossen werden, dass herunterhängende Wolkenfetzen die Sicht beeinträchtigt hätten. 
4. 
Die Beschwerdeführer erachten die Beweiswürdigung im angefochtenen Entscheid aus mehreren Gründen für willkürlich. Es sei unhaltbar anzunehmen, für den Beschwerdegegner sei die ASK 21 vor der Kollision möglicherweise nicht früh genug sichtbar gewesen, um eine Kollision vermeiden zu können. Vielmehr habe sich dieses Flugzeug für ihn, als er seinen Geradeausflug in Richtung Südwesten aufgenommen habe, in einer 12- bis 2-Uhr-Position befunden und sei während mindestens 30 Sekunden sichtbar gewesen. Ein anderer Schluss erschiene nur möglich, wenn die ASK 21 auf kürzeste Distanz aus den Wolken aufgetaucht wäre, wofür aber keine vernünftigen Anhaltspunkte bestünden. 
 
Die Argumentation der Beschwerdeführer stützt sich unter anderem auf Aussagen des Piloten, der die DG-600 hinaufgeschleppt hatte, und auf die Ergebnisse des erwähnten Schlussberichts des Büros für Flugunfalluntersuchungen, vor allem aber auf eigene Berechnungen des Zeitraums, während dessen die ASK 21 für den Beschwerdegegner mindestens habe sichtbar sein müssen. Es ist durchaus einzuräumen, dass der in der Beschwerde geschilderte Ablauf der Kollision eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen kann. Im genannten Schlussbericht wird als mögliche Unfallursache denn auch ausdrücklich erwähnt, dass die Piloten der ASK 21 am Kreisen gewesen sein könnten und geglaubt hätten, der auf sie zufliegende Beschwerdegegner habe sie gesehen und wolle zu ihnen in den gleichen Aufwind fliegen, dieser aber die ASK 21 in Wirklichkeit nicht gesehen habe (Hypothese 3). Allerdings steht nach dem Schlussbericht nicht fest, warum der Beschwerdegegner die ASK 21 nicht wahrnahm, und es werden dazu verschiedene Hypothesen aufgestellt. Auch das Obergericht schliesst nicht aus, dass es in der von den Beschwerdeführern beschriebenen Art zur Kollision kam und die ASK 21 für den Beschwerdegegner eine gewisse Zeit sichtbar war. Es hält jedoch angesichts des ungeklärten Flugverlaufs der ASK 21 auch einen anderen Hergang für möglich und legt deshalb seinem Urteil nicht den von den Beschwerdeführern behaupteten Ablauf zugrunde. Für diese Würdigung kann es sich auf sachliche Gründe stützen. So beruht die in der Beschwerde vorgenommene Berechnung auf der Annahme, dass sich die beiden Flugzeuge einander geradlinig angenähert haben. Ob es sich so verhielt, konnte aber gerade nicht ermittelt werden. Die Beschwerdeführer klammern ausserdem zu Unrecht die Möglichkeit aus, dass sich die ASK 21 nicht erst in der Schlussphase, sondern bereits zuvor von schräg hinten - im sichttoten Winkel - der DG-600 genähert haben könnte. Schliesslich ist es auch nicht unhaltbar, wenn das Obergericht eine gewisse Sichtbehinderung wegen herunterhängender Wolkenfetzen in Betracht zieht, nachdem im Schlussbericht ebenfalls auf diese Möglichkeit hingewiesen wird. Auch die weiteren von den Beschwerdeführern vorgebrachten Einwände lassen die Beweiswürdigung im angefochtenen Entscheid nicht als willkürlich erscheinen. 
5. 
Nach Ansicht der Beschwerdeführer verletzt das angefochtene Urteil auch den Grundsatz "in dubio pro reo". Der vom Obergericht für möglich gehaltene Ablauf, dass sich die ASK 21 während längerer Zeit im toten Winkel der DG-600 befand, stelle eine derart abstrakte und theoretische Möglichkeit dar, dass sie keine ernsthaften Zweifel an der Richtigkeit des von den Beschwerdeführern behaupteten Unfallhergangs zu begründen vermöge. 
 
Wie bereits dargelegt wurde, stützt das Obergericht seine Auffassung, dass sich der Flugverlauf der ASK 21 und deren Sichtbarkeit für den Beschwerdegegner nicht zweifelsfrei ermitteln lasse, auf sachliche Gründe, insbesondere auf die Ausführungen im Schlussbericht des Büros für Flugunfalluntersuchungen. Eine Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" als Beweiswürdigungsregel ist daher nicht ersichtlich. 
6. 
Schliesslich erblicken die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör darin, dass das Obergericht ihren Antrag auf Einholung einer Expertise und auf Einvernahme von vier Zeugen abgelehnt hat. 
 
Wie in der Beschwerde selber eingeräumt wird, entfiel der Grund für die beantragte Expertise zu einem erheblichen Teil schon dadurch, dass das Obergericht der erstinstanzlichen Ansicht über den Unfallhergang (Überholmanöver der ASK 21) nicht folgte. Zu den beiden weiteren Punkten, welche die Beschwerdeführer gutachterlich klären lassen wollten, gibt - soweit sie das Obergericht überhaupt als rechtserheblich erachtet - bereits der Schlussbericht des Büros für Flugunfalluntersuchungen hinreichende Auskunft. Eine Gehörsverletzung liegt deshalb in dieser Hinsicht nicht vor. Der Verzicht auf die Einvernahme der vier Zeugen wird im angefochtenen Entscheid näher begründet. Mit dieser Erwägung setzen sich die Beschwerdeführer nicht auseinander. Auf die Beschwerde ist daher in diesem Punkt mangels genügender Begründung (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG) nicht einzutreten. 
7. 
Aus diesen Gründen ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens tragen die Beschwerdeführer die Kosten (Art. 156 Abs. 1 OG). Dem Beschwerdegegner ist mangels entstandener Umtriebe keine Parteientschädigung zuzusprechen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird den Beschwerdeführern unter solidarischer Haftung auferlegt. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 17. August 2006 
Im Namen des Kassationshofes 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: