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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_524/2011 
 
Urteil vom 13. Oktober 2011 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident, 
Bundesrichter Raselli, Merkli, 
Gerichtsschreiber Forster. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Petra Oehmke, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Molkenstrasse 15/17, Postfach 2251, 8026 Zürich. 
 
Gegenstand 
Sicherheitshaft, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung vom 12. September 2011 des Obergerichtes des Kantons Zürich, 
I. Strafkammer, Präsident. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Mit Urteil vom 3. Mai 2011 sprach das Bezirksgericht Zürich X.________ des versuchten Raubes schuldig (nachdem er am 13. November 2009 mit einer Gaspistole bewaffnet die Rezeption eines Hotels überfallen habe). Es fällte eine Freiheitsstrafe von 3½ Jahren gegen ihn aus, welche das Bezirksgericht zugunsten einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB (Behandlung von psychischen Störungen) aufschob. Der Verurteilte befindet sich seit 16. November 2009 in Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Mit Urteil vom 13. Januar 2011 hat das Bundesgericht letztmals eine Haftbeschwerde des Inhaftierten (während des Untersuchungsverfahrens) letztinstanzlich abgewiesen (Verfahren 1B_424/2010). 
 
B. 
Am 16. Juni 2011 stellte der Verurteilte das Gesuch, aus der Sicherheitshaft in den vorzeitigen Massnahmenvollzug versetzt zu werden. Das Bezirksgericht Zürich bewilligte mit Beschluss vom 17. Juni 2011 den vorzeitigen Massnahmenantritt. Es hielt fest, dass die Sicherheitshaft auf den Zeitpunkt des vorzeitigen Massnahmenvollzuges aufgehoben werde und ersuchte das kantonale Amt für Justizvollzug, für die Einweisung in eine geeignete Massnahmenanstalt besorgt zu sein. 
 
C. 
Am 18. Juli 2011 wurde das begründete Strafurteil des Bezirksgerichtes Zürich vom 3. Mai 2011 den Parteien eröffnet. Am 8. August 2011 erklärte die Verteidigung die Berufung. Das Berufungsverfahren wurde am 18. August 2011 bei der I. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Zürich anhängig gemacht. 
 
D. 
Mit Gesuch vom 1. September 2011 an die Verfahrensleitung der I. Strafkammer des Obergerichtes beantragte der Verurteilte die Entlassung aus der Sicherheitshaft; eventualiter sei diese bis zum 12. November 2011 zu befristen. Mit Verfügung vom 12. September 2011 wies der Präsident der I. Strafkammer des Obergerichtes das Haftentlassungsgesuch ab; gleichzeitig bewilligte er die Fortdauer der Sicherheitshaft (vorbehältlich des bereits bewilligten vorzeitigen Massnahmenantritts) bis zum 12. Dezember 2011. 
 
E. 
Gegen die Präsidialverfügung vom 12. September 2011 gelangte X.________ mit Beschwerde vom 23. September 2011 an das Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und seine sofortige Entlassung aus der Sicherheitshaft. 
Der Strafkammerpräsident liess sich am 27. September 2011 vernehmen, während von der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich innert Frist keine Stellungnahme einging. Der Beschwerdeführer replizierte am 10. Oktober 2011. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Am 1. Januar 2011 sind die Schweizerische Strafprozessordnung (StPO; SR 312.0) und das Strafbehördenorganisationsgesetz (StBOG; SR 173.71) in Kraft getreten. Für Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Entscheide, die nach dem 31. Dezember 2010 gefällt werden, gilt neues Strafverfahrensrecht (Art. 454 Abs. 1 StPO). Ausschlaggebend für die Anwendbarkeit des alten oder neuen Prozessrechts ist insofern das erstinstanzliche Verfügungsdatum (zur amtlichen Publikation bestimmte Urteile des Bundesgerichtes 1B_123/2011 vom 11. Juli 2011 E. 1.1 sowie 1B_412/2010 vom 4. April 2011 E. 1). Die haftrichterliche Verfügung datiert vom 12. September 2011, weshalb hier die StPO zur Anwendung gelangt. 
 
2. 
Zu prüfen ist, ob ein anfechtbarer letztinstanzlicher Entscheid (im Sinne von Art. 80 Abs. 2 BGG) vorliegt. 
 
2.1 Da die angefochtene Verfügung nach dem 31. Dezember 2010 erfolgte, ist hier Art. 80 Abs. 2 BGG dritter Satz in der Fassung gemäss Anhang Ziff. II 5 des StBOG, in Kraft seit 1. Januar 2011 (AS 2010 3267), anwendbar (Art. 132 Abs. 1 BGG; vgl. zur amtlichen Publikation bestimmtes Urteil des Bundesgerichtes 1B_123/2011 vom 11. Juli 2011 E. 2.1 mit Hinweisen). Gemäss Art. 80 Abs. 2 BGG setzen die Kantone als letzte kantonale Instanzen obere Gerichte ein (Satz 1). Diese entscheiden als Rechtsmittelinstanzen (Satz 2). Ausgenommen sind die Fälle, in denen nach der StPO ein Zwangsmassnahmengericht oder ein anderes Gericht als einzige kantonale Instanz entscheidet (Satz 3). 
 
2.2 Gemäss Art. 233 StPO entscheidet die Verfahrensleitung des Berufungsgerichtes über Haftentlassungsgesuche während des Berufungsverfahrens; dieser Entscheid ist nicht mit StPO-Beschwerde (nach Art. 222 i.V.m. Art. 393 ff. StPO) anfechtbar. Insofern besteht hier (im Sinne von Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG) eine zulässige Ausnahme von den Sachurteilsvoraussetzungen gemäss Art. 80 Abs. 2 Sätze 1-2 BGG (vgl. Marc Forster, in: Basler Kommentar StPO, Basel 2011, Art. 222 N. 7, Art. 233 N. 5). 
 
2.3 Auch die übrigen Eintretensvoraussetzungen von Art. 78 ff. BGG sind erfüllt. 
 
3. 
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des in Art. 31 Abs. 3 BV verankerten Anspruches auf eine verhältnismässige Haftdauer. Er macht geltend, das Bundesgericht habe in seinem früheren Haftentscheid vom 13. Januar 2011 festgestellt, dass die Staatsanwaltschaft die Strafuntersuchung in diesem nicht sehr komplexen Fall "eher schleppend" geführt habe. Zwar sei anschliessend am 3. Mai 2011 die Hauptverhandlung erfolgt und hätten die Parteien unterdessen Berufung bzw. Anschlussberufung erhoben. Das Obergericht habe jedoch noch keinen Termin für die Berufungsverhandlung angesetzt. Ausserdem stehe die bisherige Haftdauer von knapp zwei Jahren in keinem Verhältnis zur Schwere der Tatvorwürfe. Der vom inkriminierten Raubversuch betroffene Hotelangestellte habe Verletzungen erlitten, die höchstens den Tatbestand der Tätlichkeit erfüllten. Die bisherige Haftdauer von fast zwei Jahren erscheine daher willkürlich und unverhältnismässig (Art. 9, Art. 10 und Art. 31 Abs. 3 BV). 
 
3.1 Gemäss Art. 31 Abs. 3 BV hat eine in strafprozessualer Haft gehaltene Person Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist richterlich abgeurteilt oder während des Strafverfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Eine übermässige Haftdauer stellt eine unverhältnismässige Beschränkung dieses Grundrechts dar. Sie liegt dann vor, wenn die Haftfrist die mutmassliche Dauer der zu erwartenden freiheitsentziehenden Sanktion übersteigt (vgl. auch Art. 212 Abs. 3 StPO). Bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der Haftdauer ist namentlich der Schwere der untersuchten Straftaten Rechnung zu tragen. Der Richter darf die Haft nur so lange erstrecken, als sie nicht in grosse zeitliche Nähe der (im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung) konkret zu erwartenden Dauer der freiheitsentziehenden Sanktion rückt (BGE 133 I 168 E. 4.1 S. 170, 270 E. 3.4.2 S. 281, je mit Hinweisen). Nach der Praxis des Bundesgerichtes kann nicht ohne weiteres von der Höhe einer separat ausgefällten (schuldadäquaten) Freiheitsstrafe auf die voraussichtliche Dauer der gleichzeitig angeordneten freiheitsentziehenden Massnahme geschlossen werden (vgl. BGE 126 I 172 E. 5d S. 178). In Fällen wie dem vorliegenden ist die Fortdauer der strafprozessualen Haft verhältnismässig, wenn aufgrund der Aktenlage mit einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer freiheitsentziehenden Massnahme ernsthaft zu rechnen ist, deren gesamter Vollzug deutlich länger dauern könnte als die bisherige strafprozessuale Haft (BGE 126 I 172 E. 5e S. 178; Urteile 1B_281/2009 vom 19. Oktober 2009 E. 3.1-3.2; 1B_165/2009 vom 30. Juni 2009 E. 4.3-4.4; vgl. Forster, a.a.O., Art. 227 N. 8). Im Weiteren kann eine Haft die zulässige Dauer auch dann überschreiten, wenn das Strafverfahren nicht genügend vorangetrieben wird. Die Frage, ob eine Haftdauer als übermässig bezeichnet werden muss, ist aufgrund der konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen (BGE 133 I 168 E. 4.1 S. 170 f., 270 E. 3.4.2 S. 281; 132 I 21 E. 4.1 S. 27 f.; je mit Hinweisen). 
 
3.2 Die bisherige Haftdauer (von einem Jahr und 11 Monaten) bewegt sich noch nicht in grosser Nähe der (im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung) konkret zu erwartenden Gesamtdauer des stationären Massnahmenvollzuges nach Art. 59 StGB. Dies um so weniger, als gemäss den Feststellungen der psychiatrischen Gutachter eine gravierende Rückfallsgefahr besteht und mit einem längeren Massnahmenverlauf zu rechnen ist. Auch in Anbetracht der vom Bezirksgericht separat ausgefällten (subsidiär zu vollziehenden) Freiheitsstrafe von 3½ Jahren erweist sich die bisherige Dauer der strafprozessualen Haft noch nicht als unverhältnismässig. 
Zwar macht der Beschwerdeführer geltend, er habe das erstinstanzliche Urteil angefochten, weshalb ihm bis zum Entscheid des Berufungsgerichtes Überhaft drohe. Bei Vorliegen eines erstinstanzlichen Strafurteils hat der Haftrichter in diesem Zusammenhang jedoch Zurückhaltung zu üben: Überhaft könnte grundsätzlich nicht allein damit begründet werden, dass der Verurteilte im Haftprüfungsverfahren appellatorische Einwände gegen das vom erstinstanzlichen Gericht ausgefällte Strafmass vorbringen würde. Die Prüfung solcher Vorbringen wäre Aufgabe des Berufungsgerichtes, nicht der haftprüfenden Instanz. Anders zu entscheiden wäre nur in Ausnahmefällen, wenn für den Haftrichter (auf entsprechende substanzierte Rügen hin) offensichtlich erschiene, dass die erstinstanzlich ausgefällten Sanktionen unzulässig oder deutlich zu streng wären und eine grundrechtswidrige Überhaft im Berufungsverfahren nur dadurch vermieden werden könnte, dass der Haftrichter insofern dem Urteil des Berufungsgerichtes vorgreift. Ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht gegeben. Die vom Bezirksgericht ausgefällten Sanktionen erscheinen nicht offensichtlich übertrieben. In der Beschwerdeschrift wird im Übrigen keine Kritik gegen die vom Bezirksgericht ausgefällten Sanktionen erhoben. 
 
3.3 Die Vorbringen des Beschwerdeführers begründen auch keine schweren Verfahrensmängel im Sinne der dargelegten Praxis, welche eine sofortige Haftentlassung als geboten erscheinen liessen. Seine Kritik an der Untersuchungsführung der Staatsanwaltschaft wurde bereits im bundesgerichtlichen Urteil vom 13. Januar 2011 geprüft. Er bestreitet nicht, dass am 3. Mai 2011 die Hauptverhandlung stattfand und am 18. Juli 2011 das begründete Strafurteil des Bezirksgerichtes Zürich den Parteien eröffnet wurde. Seit 18. August 2011 ist das Berufungsverfahren beim Obergericht hängig. Zwar macht der Beschwerdeführer geltend, es sei noch kein Termin für die Berufungsverhandlung bekannt. Er legt jedoch nicht dar, inwiefern darin eine unzulässige Verfahrensverschleppung zu sehen wäre. Eine solche wird auch aus den vorliegenden Akten nicht ersichtlich. 
 
4. 
Die Beschwerde ist als unbegründet abzuweisen. 
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung. Er ist amtlich verteidigt und befindet sich seit knapp zwei Jahren in strafprozessualer Haft. Auch seine finanzielle Bedürftigkeit geht aus den Akten hervor. Die gesetzlichen Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege sind erfüllt (Art. 64 BGG), sodass das Gesuch zu bewilligen ist. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen: 
 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben. 
 
2.2 Der amtlichen Verteidigerin des Beschwerdeführers, Rechtsanwältin Petra Oehmke, wird für das Verfahren vor Bundesgericht aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet. 
 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft IV und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, Präsident, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 13. Oktober 2011 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Fonjallaz 
 
Der Gerichtsschreiber: Forster