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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6S.265/2005/rom 
 
Sitzung vom 1. Dezember 2005 
Kassationshof 
 
Besetzung 
Bundesrichter Schneider, Präsident, 
Bundesrichter Wiprächtiger, Kolly, Karlen, Zünd, 
Gerichtsschreiber Thommen. 
 
Parteien 
Generalprokurator des Kantons Bern, 3012 Bern, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
A.________, 
Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher Dr. Peter Stauffer, 
 
Gegenstand 
Grobe Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Ziff. 2 SVG), 
 
Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil der 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern vom 20. Mai 2005. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Am 1. Juli 2004 fuhr A.________ in seinem Personenwagen mit mässiger Geschwindigkeit auf dem rechten Fahrstreifen der Speichergasse in Bern. Auf dem linken Fahrstreifen stand ein Polizeifahrzeug vor einem Fussgängerstreifen. Erst als A.________ auf Höhe des Polizeifahrzeuges war, bemerkte er, dass dieses angehalten hatte, um eine von links kommende Fussgängerin passieren zu lassen. Die Fussgängerin verlangsamte ihren Gang, als sie das Fahrzeug von A.________ kommen sah. Obwohl er noch hätte bremsen können, entschied sich A.________ seine Fahrt fortzusetzen. Er tat dies nach eigenem Bekunden, um die Fussgängerin nicht weiter zu behindern und "damit der Fussgängerstreifen für die Passantin frei werde". 
B. 
Am 7. Dezember 2004 wurde A.________ von der Gerichtspräsidentin des Gerichtskreises VIII Bern-Laupen der groben Verkehrsregelverletzung durch Nichtbelassen des Vortritts auf Fussgängerstreifen im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 i.V.m Art. 33 Abs. 2 SVG und Art. 6 Abs. 1 VRV für schuldig befunden und zu Fr. 1'000.- Busse verurteilt. Seine dagegen erhobene Appellation hiess das Obergericht des Kantons Bern am 20. Mai 2005 gut und verurteilte ihn antragsgemäss wegen einfacher Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Ziff. 1 SVG). 
C. 
Gegen diesen Entscheid erhebt der Generalprokurator des Kantons Bern eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt, den Entscheid aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
In seiner Vernehmlassung vom 5. August 2005 beantragt A.________ die Abweisung der Beschwerde (act. 9). Den gleichen Antrag stellt das Obergericht des Kantons Bern in seinen Gegenbemerkungen vom 29. Juli 2005 (act. 7). 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 90 Ziff. 2 SVG. Die Vorinstanz habe den Begriff des subjektiven Tatbestands der groben Verkehrsregelverletzung verkannt. Unter Verweis auf diverse Bundesgerichtsentscheide zu Art. 90 Ziff. 2 SVG wird dargelegt, weshalb das Verhalten des Beschwerdegegners als rücksichtslos einzustufen sei. Er habe die örtlichen Verhältnisse gut gekannt und gewusst, dass er auf einen Fussgängerstreifen zufahre, was sich erschwerend auswirke. Sodann habe er mit dem Erscheinen einer Fussgängerin hinter dem wartenden Polizeifahrzeug rechnen müssen. Bei seiner Geschwindigkeit hätte er anhalten und der Fussgängerin den Vortritt gewähren können. Trotzdem habe er sich bewusst dagegen entschieden. Dabei sei er sich der Gefährlichkeit seines regelwidrigen Verhaltens bewusst gewesen. Seine Erklärung, er sei ohne anzuhalten weitergefahren, weil er die Passantin nicht habe behindern wollen, sei unbehelflich und lasse sein Verhalten nicht als weniger vorwerfbar erscheinen. 
1.2 Die Vorinstanz sieht den Tatbestand von Art. 90 Ziff. 2 SVG als objektiv erfüllt an. Art. 33 Abs. 2 SVG sei eine wichtige Verkehrsregel, deren Verletzung regelmässig zu schweren Unfällen führe. Der Beschwerdegegner habe diese Vorschrift objektiv in grober Weise verletzt. Er habe übersehen, dass das Polizeifahrzeug unmittelbar vor dem Fussgängerstreifen angehalten habe, um einer Fussgängerin das Überqueren der Strasse zu ermöglichen. Durch seine Weiterfahrt habe er eine erhöhte abstrakte Gefahr für die Fussgängerin geschaffen (angefochtenes Urteil S. 6 f.). 
 
Subjektiv jedoch sei Art. 90 Ziff. 2 SVG nicht erfüllt. In einer ersten Phase sei dem Beschwerdegegner die Sicht auf die Fussgängerin durch das Polizeifahrzeug versperrt gewesen. Dass er seine ohnehin mässige Geschwindigkeit nicht noch zusätzlich verringert habe, sei nicht grobfahrlässig gewesen. Seine Annahme, das Polizeifahrzeug hätte auch aus dienstlichem Anlass berechtigterweise dort stehen können, sei nicht vollkommen abwegig gewesen. Seine Unachtsamkeit erscheine insoweit als gering. Der Beschwerdegegner habe die Fussgängerin sodann erst auf Höhe des stehenden Polizeifahrzeugs wahrgenommen. Obwohl eine Vollbremsung noch möglich gewesen wäre, habe er seine Fahrt ungebremst fortgesetzt. Er sei davon ausgegangen, den Fussgängerstreifen ohne Gefährdung der Fussgängerin passieren zu können. Er sei nicht zugefahren in der Hoffnung, die Fussgängerin werde schon noch anhalten, sondern im Bewusstsein, dass diese ihren Gang bereits verlangsamt habe. Diese überlegte Weiterfahrt sei weder rowdyhaft noch rücksichtslos gewesen. Es fehle deshalb an einem besonders vorwerfbaren Verhalten des Beschwerdegegners und damit auch an einer groben Fahrlässigkeit. Somit liege bloss eine einfache Verkehrsregelverletzung vor (angefochtenes Urteil S. 8 f.). 
1.3 Der Beschwerdegegner bestreitet die Erfüllung des objektiven Tatbestands von Art. 90 Ziff. 2 SVG. Er habe nicht in objektiv schwerer Weise Verkehrsregeln verletzt, und die Verkehrssicherheit sei nicht ernstlich gefährdet worden. Subjektiv habe er weder bedenken- noch rücksichtslos gehandelt (Vernehmlassung S. 3 ff.). 
2. 
2.1 Vor Fussgängerstreifen hat der Fahrzeugführer besonders vorsichtig zu fahren und nötigenfalls anzuhalten, um den Fussgängern den Vortritt zu lassen, die sich schon auf dem Streifen befinden oder im Begriffe sind, ihn zu betreten (Art. 33 Abs. 2 SVG). Vor Fussgängerstreifen ohne Verkehrsregelung muss der Fahrzeugführer jedem Fussgänger, der sich bereits auf dem Streifen befindet oder davor wartet und ersichtlich die Fahrbahn überqueren will, den Vortritt gewähren. Er muss die Geschwindigkeit rechtzeitig mässigen und nötigenfalls anhalten, damit er dieser Pflicht nachkommen kann (Art. 6 Abs. 1 VRV). 
2.2 Nach Art. 90 Ziff. 2 SVG wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt. Der Tatbestand ist nach der Rechtsprechung objektiv erfüllt, wenn der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit ernstlich gefährdet. Eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG ist bereits beim Vorliegen einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben. Die erhöhte abstrakte Gefahr setzt die naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder Verletzung voraus (BGE 131 IV 133 E. 3.2.). 
 
Subjektiv erfordert der Tatbestand von Art. 90 Ziff. 2 SVG nach der Rechtsprechung ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend verkehrswidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, bei fahrlässigem Handeln mindestens grobe Fahrlässigkeit (BGE 130 IV 32 E. 5.1; 126 IV 192 E. 3; 123 IV 88 E. 2a und E. 4a; 118 IV 285 E. 4). Diese ist zu bejahen, wenn der Täter sich der allgemeinen Gefährlichkeit seiner verkehrswidrigen Fahrweise bewusst ist. Grobe Fahrlässigkeit kann aber auch vorliegen, wenn der Täter die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer pflichtwidrig gar nicht in Betracht gezogen, also unbewusst fahrlässig gehandelt hat (BGE 130 IV 32 E. 5.1 mit Hinweis). In solchen Fällen ist grobe Fahrlässigkeit zu bejahen, wenn das Nichtbedenken der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auf Rücksichtslosigkeit beruht (BGE 118 IV 285 E. 4 mit Hinweisen). Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Dieses kann auch in einem blossen (momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen (Urteile des Bundesgerichts 6S.100/2004 vom 29. Juli 2004 und 6S.11/2002 vom 20. März 2002). 
2.3 Zu Recht nimmt die Vorinstanz eine objektiv schwere Verkehrsregelverletzung an. Die Pflicht zur erhöhten Vorsicht vor Fussgängerstreifen ergibt sich aus Art. 33 Abs. 2 SVG. Diese Vorsichtspflicht hat der Beschwerdegegner verletzt. Er fuhr so, dass er selbst bei einer Vollbremsung nicht mehr vor, sondern erst auf dem Fussgängerstreifen zum Stillstand gekommen wäre. Dies ergibt sich aus seiner Aussage, dass er die Fussgängerin durch sein Anhalten nicht habe behindern wollen. Er verstiess damit gegen eine zentrale Verkehrsregel, deren Missachtung regelmässig zu schweren Unfällen führt. Ausserdem hat er nach zutreffender Ansicht der Vorinstanz durch sein Zufahren eine erhöhte abstrakte Gefahr für die Fussgängerin geschaffen (angefochtenes Urteil S. 7). Die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 90 Ziff. 2 SVG sind erfüllt. 
2.4 In subjektiver Hinsicht hat sich der Beschwerdegegner in grober Weise fahrlässig verhalten. Er fuhr als Ortskundiger ungebremst auf einen Fussgängerstreifen zu, obwohl er sah, dass ein Polizeifahrzeug vor dem Fussgängerstreifen angehalten hatte. Die naheliegendste Interpretation dieser Situation ist, dass das Polizeiauto dort stand, um eine vortrittsberechtigte Fussgängerin passieren zu lassen. Eigenen Angaben zufolge nahm der Beschwerdegegner jedoch an, dass das Polizeifahrzeug aus dienstlichen Gründen vor dem Fussgängerstreifen angehalten hatte. Hierfür bestanden aber keinerlei Anhaltspunkte. Doch selbst wenn man mit dem Beschwerdegegner von einem Halt aus dienstlichen Gründen ausginge, rechtfertigte dies noch kein ungebremstes Weiterfahren. Im Gegenteil hätte er auch für diesen Fall vorsichtiger fahren und allenfalls bremsen müssen. Angesichts des stillstehenden Fahrzeugs hätte er jedenfalls mit einer Fussgängerin rechnen und seine Fahrt verlangsamen müssen. Weil er trotz verdeckter Sicht ungebremst auf einen Fussgängerstreifen zufuhr und ihm die allgemeine Gefährlichkeit dieses verkehrsregelwidrigen Manövers bewusst gewesen sein musste, handelte er entgegen den Ausführungen der Vorinstanz bereits in der ersten Phase des Geschehens grob fahrlässig. Hinsichtlich der zweiten Phase kann deshalb offen bleiben, ob das Vorbeifahren an der Fussgängerin, welche ihren Gang schon verlangsamt hatte, ebenfalls rücksichtslos war. 
2.5 Mit dem Beschwerdeführer ist somit objektiv wie subjektiv von einer groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG auszugehen. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist deshalb gutzuheissen. 
3. 
Bei diesem Verfahrensausgang trägt der Beschwerdegegner die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens (Art. 278 Abs. 1 BStP). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil der 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern vom 20. Mai 2005 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdegegner auferlegt. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien und der 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 1. Dezember 2005 
Im Namen des Kassationshofes 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: