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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
5A_461/2020  
 
 
Urteil vom 1. September 2020  
 
II. zivilrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Herrmann, Präsident, 
Bundesrichter Schöbi, Bovey, 
Gerichtsschreiberin Friedli-Bruggmann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.____ ____, 
vertreten durch Rechtsanwalt Boris Züst, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
B._____ ___, 
vertreten durch Rechtsanwältin Christine Kobelt, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
aufschiebende Wirkung (Betreuungsregelung), 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts Appenzell Ausserrhoden, Einzelrichter, vom 29. April 2020 (ERZ 20 8). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________ (Beschwerdeführerin) und B.________ (Beschwerdegegner) sind die unverheirateten Eltern von C.________ (geb. 2014) und D.________ (geb. 2016). Sie haben die gemeinsame elterliche Sorge. 
 
B.  
 
B.a. Am 8. Februar 2019 beantragte B.________ klageweise die Regelung des Unterhalts sowie der Betreuung der Kinder. Das Kantonsgericht Appenzell Ausserrhoden stellte die Kinder mit Entscheid vom 23. September 2019 unter die gemeinsame Obhut der Eltern (Dispositiv-Ziffer 1 Satz 1), erliess einen Betreuungsplan (Ziff. 1 Satz 2 ff.), regelte den Unterhalt (Ziff. 2), hielt die Grundlagen der Unterhaltsregelung fest (Ziff. 3) und wies die Eltern an, eine Elternberatung in Anspruch zu nehmen (Ziff. 4).  
 
B.b. Die Beschwerdeführerin erhob beim Obergericht Appenzell Ausserrhoden Berufung gegen die Dispositiv-Ziffern 1 bis 3 sowie gegen die Regelung der Prozesskosten.  
 
B.c. Der Beschwerdegegner erhob daraufhin Anschlussberufung in Bezug auf die Dispositiv-Ziffern 1 Satz 2 ff. und Ziff. 2. Er beantragte, Berufung und Anschlussberufung sei die aufschiebende Wirkung zu entziehen soweit diese Dispositiv-Ziffer 1 beträfen. Es fand ein Schriftenwechsel hinsichtlich der Frage der vorzeitigen Vollstreckbarkeit statt. Die Beschwerdeführerin beantragte in ihrer Anschlussberufungsantwort vom 17. März 2020 und mit separater Stellungnahme vom 6. April 2020, der prozessuale Antrag des Beschwerdegegners auf Entzug der aufschiebenden Wirkung sei vollumfänglich abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei, unter Kosten- und Entschädigungsfolge.  
 
B.d. Mit Verfügung vom 29. April 2020 trat das Obergericht auf das Gesuch um vorzeitige Vollstreckbarkeit bezüglich Dispositiv-Ziffer 1 Satz 1 des Entscheids vom 23. September 2019 nicht ein, im Übrigen wies es das Gesuch ab. Die Kosten wurden bei der Hauptsache belassen.  
 
C.  
 
C.a. Die Beschwerdeführerin gelangt mit Beschwerde in Zivilsachen vom 5. Juni 2020 an das Bundesgericht. Sie verlangt, die Verfügung des Obergerichts sei in dem Umfang aufzuheben, als das Obergericht auf das Gesuch um vorzeitige Vollstreckbarkeit nicht eingetreten sei (bezüglich Dispositiv-Ziffer 1 Satz 1 des Entscheids vom 23. September 2019); das Gesuch auf vorzeitige Vollstreckbarkeit sei bezüglich Dispositiv-Ziffer 1 Satz 1 des Entscheids vom 23. September 2019 abzuweisen. Eventualiter sei die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen.  
 
C.b. Der Beschwerdegegner zweifelt in seiner Vernehmlassung vom 21. August 2020 an, vor Bundesgericht (noch) Gegenpartei zu sein. Nicht mehr sein Gesuch um Entzug der aufschiebenden Wirkung sei Streitgegenstand, sondern eine Erwägung der Vorinstanz. Er verzichte daher auf eine Vernehmlassung zu den Beschwerdegründen und einen Antrag in der Sache. Er schliesst dann aber doch darauf, dass es der Beschwerdeführerin an einem schutzwürdigen Interesse fehle und ihr kein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 BGG drohe, weshalb auf die Beschwerde nicht einzutreten sei. Im Übrigen teile er die von der Vorinstanz geäusserte Auffassung zum Berufungsantrag der Kindsmutter nicht und habe diesbezüglich auch im vorinstanzlichen Verfahren nie so argumentiert. Für den Fall, dass das Bundesgericht auf den Fall eintritt, ersucht er eventualiter darum, es sei "mit Blick auf seine spezielle Verfahrensstellung" auf die Erhebung von Gerichtskosten und auf die Verlegung von Parteikosten zu seinen Lasten zu verzichten. Die Vernehmlassung wurde der Beschwerdeführerin zur Wahrung des rechtlichen Gehörs zugestellt. Das Obergericht verzichtete auf eine Vernehmlassung.  
 
C.c. Das Bundesgericht hat die vorinstanzlichen Akten eingeholt.  
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Das Bundesgericht überprüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein Rechtsmittel zulässig ist (BGE 144 V 97 E. 1 S. 99; 144 II 184 E. 1 S. 186; 143 III 140 E. 1; 141 III 395 E. 2.1; 135 III 3 E. 1.1). 
 
1.1. Angefochten ist eine Verfügung des Obergerichts, mit welchem dieses auf das Gesuch des Beschwerdegegners um Entzug der aufschiebenden Wirkung in Bezug auf Dispositivziffer 1 Satz 1 des Urteils vom 23. September 2019 nicht eingetreten ist (vgl. Sachverhalt lit. B.a, B.c, B.d). Das Nichteintreten erfolgte, weil - so argumentierte die Vorinstanz - beide Parteien Ziff. 1 Satz 1 des Urteils vom 23. September 2019 im Berufungsverfahren nicht angefochten hätten, womit dieser Punkt in Rechtskraft erwachsen und vollstreckbar sei. Allein vom Urteilsspruch her betrachtet hat die Beschwerdeführerin im vorinstanzlichen Verfahren damit obsiegt, da sie das Begehren gestellt hatte, das genannte Gesuch des Beschwerdegegners sei vollumfänglich abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Wie weit sie dennoch beschwert ist und über ein aktuelles Interesse an der Beschwerdeführung hat (zum Grundsatz, dass sich die Beschwer aus dem Dispositiv ergeben muss: BGE 131 I 153 E. 1.2 S. 157; 133 III 421 E. 1.1 S. 426; zu Ausnahmen: Bernard Corboz, in: Commentaire de la LTF, 2. Aufl. 2014, N. 17 und 21 zu Art. 76 BGG; Nicolas von Werdt/Andreas Güngerich, in: Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bundesgesetz über das Bundesgericht, 2. Aufl. 2015, N. 6 zu Art. 76 BGG; vgl. auch Urteil 5A_618/2015 vom 2. März 2016 E. 2.1), braucht nicht weiter erörtert zu werden, da auf die Beschwerde in jedem Fall nicht eingetreten werden kann.  
 
1.2. Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen selbständig eröffneten Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG und gleichzeitig um eine vorsorgliche Massnahme im Sinne von Art. 98 BGG (Nicolas von Werdt, in: Bundesgerichtsgesetz [BGG]; a.a.O., N. 10 zu Art. 93 BGG; mit Hinweis auf Urteil 5A_237/2009 vom 10. Juni 2009 E. 1.1).  
Gegen Vor- und Zwischenentscheide ist die Beschwerde an das Bundesgericht nur zulässig, wenn der Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 Bst. a BGG) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 Bst. b BGG). Die zuletzt genannte Voraussetzung steht hier nicht in Frage. Der drohende nicht wieder gutzumachende Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Bst. a BGG muss rechtlicher Natur sein (BGE 138 III 333 E. 1.3.1 S. 335 mit Hinweisen). Nicht wieder gutzumachen ist der Nachteil nur, wenn ihn auch ein für die Beschwerdeführerin günstiger Endentscheid nicht vollumfänglich zu beheben vermöchte (BGE 141 III 395 E. 2.5 S. 399 f.; 137 III 522 E. 1.3 S. 525 mit Hinweisen). Ausschlaggebend ist also, wie sich der Zwischenentscheid auf die Hauptsache auswirkt (BGE 137 III 380 E. 1.2.2 S. 383). Die blosse Möglichkeit eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils rechtlicher Natur genügt. Dagegen reichen rein tatsächliche Nachteile wie die Verfahrensverlängerung oder -verteuerung nicht aus (BGE 138 III 190 E. 6 S. 192; 137 III 380 E. 1.2.1 S. 382; je mit Hinweisen). Ob ein kantonaler Entscheid ein End- bzw. Teilentscheid im Sinne von Art. 90 f. BGG oder ein Vor- oder Zwischenentscheid (Art. 92 f. BGG) ist, steht zwar schon fest, bevor dieser Entscheid vor Bundesgericht angefochten wird (Urteil 5A_462/2018 vom 12. November 2018 E. 4.3). Gleichwohl setzt die Anfechtbarkeit nach Massgabe von Art. 93 Abs. 1 Bst. a BGG voraus, dass der Zwischenentscheid auch im Zeitpunkt der Urteilsfällung noch einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann. Dies ergibt sich aus dem prozessualen Grundsatz, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Verfahrens auch im Zeitpunkt der Urteilsfällung noch gegeben sein müssen (BGE 133 III 539 E. 4.3 S. 542). Es obliegt der rechtsuchenden Partei darzutun, dass eine der beiden Voraussetzungen nach Art. 93 Abs. 1 BGG erfüllt ist, es sei denn, deren Vorliegen springe geradezu in die Augen (BGE 138 III 46 E. 1.2 S. 47 mit Hinweisen). 
 
1.3. Die Beschwerdeführerin macht zusammengefasst geltend, die Vorinstanz sei willkürlich davon ausgegangen, sie habe Ziffer 1 Satz 1 des Urteilsdispositivs des Urteils vom 23. September 2019 (Anordnung der gemeinsamen Obhut im Grundsatz) nicht angefochten, sondern nur die Sätze 2 ff. derselben Ziffer (konkreter Betreuungsplan; vgl. Sachverhalt lit. B.a). Sie habe die Betreuungsregelung vollumfänglich, d.h die ganze Ziffer 1, angefochten. Die Vorinstanz habe ihr Rechtsbegehren unnötig und rechtlich unhaltbar zu eng ausgelegt. Gehe nun aber die Vorinstanz davon aus, dass Ziff. 1 Satz 1 - mangels Anfechtung - rechtskräftig sei, erwachse ihr daraus ein nicht wieder gut zu machender Nachteil, weil die Vorinstanz wohl darauf abstütze beim Entscheid in der Sache und nicht mehr auf ihre Rüge eingehen werde, dass die Voraussetzungen für eine gemeinsame resp. alternierende Obhut gar nicht gegeben seien. Sie bestreite nämlich in der Berufung, dass die Voraussetzungen für eine alternierende Obhut gegeben seien. Gemäss angefochtenem Entscheid würde dem Grundsatz nach aber bereits rechtskräftig eine alternierende Obhut gelten. Damit schaffe die Vorinstanz eine erhebliche Rechtsunsicherheit für das Verfahren in der Sache und die (fehlerhafte) Festlegung einer mutmasslichen gemeinsamen Obhut durch das Obergericht lasse sich mit einem späteren günstigen Hauptentscheid nicht mehr beseitigen.  
 
1.4. Der Beschwerdeführerin kann nicht gefolgt werden. Das in der Hauptsache entscheidende Gericht ist nicht an die Begründung des Entscheids über die aufschiebende Wirkung gebunden, ist doch auch der Prüfungsmassstab, mit welchem der Einzelrichter über die aufschiebende Wirkung entschied, nicht mit dem Massstab identisch, mit welchem das in der Hauptsache befasste Gericht entscheiden wird. Sollte das in der Hauptsache urteilende Gericht die Argumentation des angefochtenen Entscheids übernehmen, wie dies die Beschwerdeführerin befürchtet, kann sie dies zu gegebener Zeit zusammen mit dem Hauptentscheid anfechten.  
Im angefochtenen Entscheid hat sich die Vorinstanz nicht darüber ausgesprochen, in welchem Umfang die Kinder von der Beschwerdeführerin einerseits und dem Beschwerdegegner anderseits betreut werden sollen. Die Beschwerdeführerin kann sich daher auch nicht auf die Rechtsprechung berufen, nach welcher bei Entscheiden über die aufschiebende Wirkung im Zusammenhang mit der Obhutszuteilungein drohender nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zu bejahen ist (BGE 137 III 475 E. 1 S. 476; Urteile 5A_303/2012 vom 30. August 2012 E. 1.1, nicht publ. in: BGE 138 III 565; 5A_350/2013 vom 8. Juli 2013 E. 1.1). Wer die Obhut hat und in welchem Umfang wird im Hauptverfahren noch zu entscheiden sein. 
Auch unter der Annahme, dass die Vorinstanz fälschlicherweise davon ausging, die Beschwerdeführerin habe den Grundsatz der gemeinsamen Obhut nicht angefochten - wie dies sowohl die Beschwerdeführerin als auch der Beschwerdegegner ausführen - gelang es der Beschwerdeführerin somit nicht aufzuzeigen, inwiefern ihr der angefochtene Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur hätte bewirken können sollen. 
Auf die Beschwerde ist mithin nicht einzutreten. 
 
2.   
In der Vernehmlassung zweifelt der Beschwerdegegner seine Parteistellung im bundesgerichtlichen Verfahren an. Die Beschwerde der Beschwerdeführerin habe nicht mehr sein Gesuch zum Gegenstand, sondern eine Erwägung der Vorinstanz. Unabhängig davon, wie das bundesgerichtliche Verfahren ausgehe, komme der Berufung - anders als von ihm beantragt - aufschiebende Wirkung zu. 
Der Beschwerdegegner wollte mit seinen Ausführungen offensichtlich eine allfällige Kostentragungspflicht im Falle der Gutheissung der Beschwerde umgehen. Er bleibt indes Gegenpartei und hat faktisch auch Anträge gestellt zur bundesgerichtlichen Beschwerde (vgl. Sachverhalt lit. C.b). Entsprechend kann ihm eine Parteientschädigung zugesprochen werden. 
 
3.   
Der besonderen Umstände des Falles wegen kann auf die Erhebung von Gerichtskosten verzichtet werden (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner zu entschädigen (Art. 68Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht Appenzell Ausserrhoden, Einzelrichter, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 1. September 2020 
 
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Herrmann 
 
Die Gerichtsschreiberin: Friedli-Bruggmann