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[AZA 7] 
C 165/00 Ws 
III. Kammer 
 
Bundesrichter Schön, Spira und Bundesrichterin Widmer; 
Gerichtsschreiber Nussbaumer 
 
Urteil vom 18. Oktober 2000 
 
in Sachen 
Industrie-, Gewerbe- und Arbeitsamt des Kantons Aargau, Rain 53, Aarau, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
S.________, Beschwerdegegner, 
 
und 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau 
 
A.- S.________, Architekt HTL, bezog seit dem 1. 
Februar 1997 Taggelder der Arbeitslosenversicherung. 
Bereits vor Eintritt der Arbeitslosigkeit übte er eine Tätigkeit als Agent im Bereich Beratung und Vertrieb von Grabmalen und Natursteinprodukten aus, die während seiner Arbeitslosigkeit als Nebenerwerb behandelt und für die Berechnung der Arbeitslosenentschädigung nicht berücksichtigt wurde. Am 13. Juni 1997 beantragte er die Ausrichtung besonderer Taggelder zur Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit, da er beabsichtigte, den bisher ausgeübten Nebenerwerb zur selbstständigen Erwerbstätigkeit auszubauen. Dieses Gesuch bewilligte das Industrie-, Gewerbe- und Arbeitsamt des Kantons Aargau (KIGA) mit Verfügung vom 8. September 1997 und gewährte dem Versicherten die Ausrichtung von 60 besonderen Taggeldern in der Zeit vom 9. Oktober bis 31. Dezember 1997. Am 29. Dezember 1997 teilte S.________ dem KIGA mit, dass er ab 1. Januar 1998 die selbstständige Erwerbstätigkeit aufnehme. 
Am 15. Juni 1998 meldete sich S.________ wieder zur Arbeitsvermittlung an und ersuchte erneut um Arbeitslosenentschädigung. 
 
Mit Schreiben vom 10. Juli 1998 wies das KIGA S.________ darauf hin, dass bei einem erneuten Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung die selbstständige Erwerbstätigkeit gänzlich aufgegeben werden müsse. 
S.________ teilte daraufhin mit, er beende gezwungenermassen per 14. Juni 1998 die Agententätigkeit, da er auf die Arbeitslosenunterstützung angewiesen sei. 
Nachdem er mit den Unterlagen für den Monat Juni eine Zwischenverdienstabrechnung über seine Tätigkeit als Agent für den Vertrieb von Grabsteinen eingereicht hatte, überwies die Aargauische Arbeitslosenkasse IHG die Sache im Zweifelsfallverfahren an das KIGA zur Prüfung der Anspruchsberechtigung. 
Mit Verfügung vom 29. Juli 1998 lehnte das KIGA den Anspruch von S.________ auf Arbeitslosenentschädigung für die Zeit ab 15. Juni 1998 ab, da die arbeitsmarktliche Massnahme der Förderung der selbstständigen Erwerbstätigkeit nicht mit dem Instrument des Zwischenverdienstes vereinbar sei und sich mit dem früher ausgeübten Nebenverdienst nicht mehr vereinbaren lasse. Ein erneuter Anspruch setze voraus, dass die mit besonderen Taggeldern geförderte selbstständige Erwerbstätigkeit gänzlich aufgegeben werde. 
 
B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 1. März 2000 gut und hob die Verfügung vom 29. Juli 1998 auf. 
 
 
C.- Das KIGA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides. 
 
S.________ und das Staatssekretariat für Wirtschaft verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- a) Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdegegner ab 15. Juni 1998 wiederum Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung hat, nachdem ihm zur Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit besondere Taggelder bis zum 31. Dezember 1997 gewährt worden waren und er eine solche Tätigkeit tatsächlich aufgenommen hat. 
 
b) Die in den Art. 71a-71d AVIG geregelte Förderung der selbstständigen Erwerbstätigkeit ist eine im Rahmen der zweiten Teilrevision von 1995 neu eingeführte Leistungsart (eingefügt durch Ziff. I des Bundesgesetzes vom 23. Juni 1995 und in Kraft seit dem 1. Januar 1996; AS 1996 273, 293; BBl 1994 I 340). Gefördert wird der Statuswechsel vom Unselbstständigerwerbenden zum Selbstständigerwerbenden. 
Damit liegen nicht eigentlich vom AVIG nicht vorgesehene Leistungen an Selbstständigerwerbende vor, sondern sie sind als Nachwirkung der beitragspflichtigen Arbeitnehmertätigkeit zu sehen. Dem Zweck des Instruments entsprechend kann nur die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit gefördert werden, welche die Arbeitslosigkeit des Gesuchstellers voraussichtlich ganz beendet (Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 625 S. 230). 
Nach Art. 71a Abs. 1 AVIG werden einem Versicherten während der Planungsphase höchstens 60 besondere Taggelder gewährt. Nimmt der Versicherte nach Bezug des letzten besonderen Taggeldes eine selbstständige Erwerbstätigkeit auf oder hat er sie zu diesem Zeitpunkt bereits aufgenommen, ist seine Arbeitslosigkeit beendet und er erhält keine weiteren Leistungen der Arbeitslosenversicherung (SVR 1999 AlV Nr. 23 S. 56 Erw. 2 = ARV 2000 Nr. 5 S. 22; Nussbaumer, a.a.O., Rz 647 S. 236). 
Bei Abbruch der selbstständigen Erwerbstätigkeit gilt für den allfälligen Bezug weiterer normaler oder besonderer Taggelder eine Rahmenfrist von vier Jahren (Art. 71d Abs. 2 AVIG), gerechnet ab Stichtag der Eröffnung der ursprünglichen Rahmenfrist für den Leistungsbezug. Damit wird die laufende zweijährige Rahmenfrist um zwei Jahre erstreckt (Art. 95e Abs. 2 AVIV). Der Versicherte soll für das freiwillig auf sich genommene Risiko nicht benachteiligt werden. 
 
2.- a) Aufgrund der Akten steht fest, dass der Beschwerdegegner die selbstständige Erwerbstätigkeit aufgenommen hat. Am 15. Juni 1998 meldete er sich wieder zum Leistungsbezug bei der Arbeitslosenversicherung an und rechnete für den Monat Juni 1998 seine Agententätigkeit als Zwischenverdienst ab. Das kantonale Gericht ist der Auffassung, bei Weiterausübung der mit besonderen Taggeldern finanzierten selbstständigen Erwerbstätigkeit im Nebenerwerb im Umfang vor Eintritt der Arbeitslosigkeit sei kein Missbrauch der Arbeitslosenversicherung zu erblicken, da der Beschwerdegegner nichts anderes beabsichtige, als er vor Aufnahme der selbstständigen Erwerbstätigkeit bereits ausgeübt habe. Insbesondere seien keinerlei Anzeichen dafür vorhanden, dass er in der Vermittlungsfähigkeit eingeschränkt gewesen sei. Es erscheine nicht sinnvoll, einem Versicherten diejenigen Einnahmequellen zu untersagen, über die er bereits vor und auch während seiner Arbeitslosigkeit im Nebenerwerb verfügt habe, und die bei allfälligen, über dem Nebenerwerb liegenden Einnahmen auch zu geringeren Taggeldern und damit zu einer Schadenminderung für die Versicherung führen könnten, wenn wie im vorliegenden Fall keinerlei Anzeichen dafür vorhanden seien, dass tatsächlich ein weiterer Ausbau der selbstständigen Erwerbstätigkeit und damit ein Missbrauch der Arbeitslosenversicherung angestrebt werde. 
Diese Betrachtungsweise verkennt indessen den Zweck des Instruments der Förderung der selbstständigen Erwerbstätigkeit, wonach nur die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit gefördert werden kann, welche die Arbeitslosigkeit des Gesuchstellers voraussichtlich ganz beendet (Nussbaumer, a.a.O., Rz 625 S. 230). Namentlich ist es nicht mehr Sache der Arbeitslosenversicherung, Personen, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufgenommen haben und damit zeitlich nicht ausgelastet sind oder einen geringen Verdienst erzielen, weiterhin Leistungen auszurichten (SVR 1999 AlV Nr. 23 S. 55 = ARV 2000 Nr. 5 S. 22). Diese Überlegungen gelten auch für den Fall, dass ein Versicherter die vor Eintritt der Arbeitslosigkeit ausgeübte Nebenerwerbstätigkeit durch Ausrichtung besonderer Taggelder nach Art. 71a AVIG zur selbstständigen Erwerbstätigkeit ausgebaut hat. Andernfalls könnte ein solcher Versicherter das Risiko der selbstständigen Erwerbstätigkeit und die fehlenden Einnahmen mit Hilfe der Arbeitslosenversicherung überbrücken. Er würde sodann gegenüber denjenigen Arbeitslosen, die erstmals eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufgenommen haben und diese nach der Wiederanmeldung bei der Arbeitslosenversicherung in reduziertem Umfang weiterführen, bevorzugt behandelt. Schliesslich kann der kantonalen Auffassung auch aus Gründen der Missbrauchsgefahr und der fehlenden oder erschwerten Möglichkeit zur Kontrolle über die weiterhin teilzeitlich ausgeübte selbstständige Erwerbstätigkeit nicht gefolgt werden. 
 
b) Damit ist indessen noch nicht gesagt, dass die Verfügung des Beschwerdeführers vom 29. Juli 1998 rechtens ist. In der vorinstanzlichen Replik vom 4. Dezember 1998 macht der Beschwerdegegner wiederum geltend, er habe ab 
15. Juni 1998 seine selbstständige Erwerbstätigkeit beendet. 
Aus seinen Akquisitionsbemühungen vor diesem Datum sei per 17. Juni 1998 eine Bestellung zu Stande gekommen. Er habe sich daraufhin bei der Arbeitslosenkasse erkundigt, wie er den nachträglichen Verdiensteingang aus früheren Bemühungen abzurechnen habe, worauf er zur Antwort erhalten habe, er müsse dies auf dem Zwischenverdienstformular angeben. 
Das kantonale Gericht hat denn auch angenommen, der Beschwerdegegner habe die selbstständige Erwerbstätigkeit sofort aufgegeben, nachdem ihm das KIGA mitgeteilt habe, dass Arbeitslosentaggelder nur ausbezahlt würden, wenn er seine Agententätigkeit aufgegeben habe. Wie es sich damit verhält, lässt sich aufgrund der Akten nicht in zuverlässiger Weise beurteilen. Sollte die Sachdarstellung des Beschwerdegegners zutreffen, so hätte er - sofern die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind - ab 15. Juni 1998 Anspruch auf Arbeitslosentaggelder. Einkünfte, die auf Bemühungen vor der Wiederanmeldung bei der Arbeitslosenversicherung beruhen und die erst nach Wiederanmeldung realisiert werden, könnten dem Beschwerdegegner nicht als Weiterausübung der selbstständigen Erwerbstätigkeit angerechnet werden. Gegebenenfalls wird auch zu prüfen sein, ob die beantragten Leistungen unter dem Aspekt von Treu und Glauben zu gewähren sind, worauf sich der Beschwerdegegner sinngemäss in der vorinstanzlichen Beschwerde vom 6. August 1998 beruft. Es wird Sache des Beschwerdeführers sein, die entsprechenden Abklärungen zu treffen und hernach erneut über den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ab 15. Juni 1998 zu verfügen. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne 
gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts 
des Kantons Aargau vom 1. März 2000 und die 
Verwaltungsverfügung vom 29. Juli 1998 aufgehoben 
werden, und die Sache an das Industrie-, Gewerbe- und 
Arbeitsamt des Kantons Aargau zurückgewiesen wird, 
damit dieses, nach erfolgter Abklärung im Sinne der 
Erwägungen, über den Anspruch auf Arbeitslosentaggelder 
ab 15. Juni 1998 neu verfüge. 
 
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Aargauischen Arbeitslosenkasse IHG und dem Staatssekretariat für Wirtschaft 
 
 
zugestellt. 
Luzern, 18. Oktober 2000 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der III. Kammer: 
 
Der Gerichtsschreiber: 
 
i.V.