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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 301/04 
I 305/04 
 
Urteil vom 19. April 2005 
III. Kammer 
 
Besetzung 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiber Traub 
 
Parteien 
I 301/04 
L.________, 1960, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin, 
 
und 
 
I 305/04 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
L.________, 1960, Beschwerdegegnerin 
 
Vorinstanz 
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern 
 
(Entscheid vom 23. April 2004) 
 
Sachverhalt: 
A. 
L.________ (geb. 1960) erlitt am 16. Juli 1999 durch einen Auffahrunfall ein Distorsionstrauma der Halswirbelsäule. Am 13. November 2000 meldete sie sich unter Hinweis auf Kopf- und Nackenschmerzen und verschiedene neurologische Ausfälle bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Einsichtnahme in zwei Gutachten (der Medizinischen Abklärungsstelle [MEDAS] vom 11. Januar 2001 sowie der Neurologin Dr. L.________ vom 20. August 2001) und weiteren medizinischen sowie erwerblichen Abklärungen verneinte die IV-Stelle Luzern das Bestehen eines Anspruchs auf eine Invalidenrente mit Verfügung vom 11. Dezember 2001. 
B. 
Die Versicherte erhob beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Beschwerde gegen die Verwaltungsverfügung vom 11. Dezember 2001. Das kantonale Gericht holte beim Spital B.________ ein Gutachten vom 3. September 2003/10. Februar 2004 ein und hiess das Rechtsmittel gut, indem es der Versicherten mit Wirkung ab dem 1. Juni 2000 eine halbe Invalidenrente zusprach (Dispositiv-Ziff. 1); zudem sprach die Vorinstanz der Versicherten eine Parteientschädigung zulasten der IV-Stelle zu (Dispositiv-Ziff. 2) und überwies die Akten der Verwaltung, damit diese im Sinne der Erwägungen verfahre (Dispositiv-Ziff. 3 des Entscheids vom 23. April 2004). 
C. 
C.a 
C.a.a L.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit folgenden Rechtsbegehren: 
"1. Die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 11.12.2001 sowie das Urteil des Sozialversicherungsgerichts Luzern vom 23. April 2004 seien aufzuheben; 
2. der Beschwerdeführerin sei eine volle IV-Rente ab 1. Juni 2000 auszu- richten; 
3. die Rente sei gemäss den gesetzlichen Bestimmungen ab dem 1. Januar 2003 zu verzinsen; 
4. eventualiter sei ein aktuelles neurologisches und neuropsychologisches Gutachten durch eine weibliche Fachperson zu erstellen; 
5. die Kosten für das Verfahren sowie eine angemessene Prozessentschä- digung seien den Beschwerdegegnerinnen aufzuerlegen; 
6. der Beschwerdeführerin sei die unentgeltliche Prozessführung zu bewil- ligen und ihr in der Person des Unterzeichneten ein unentgeltlicher Rechtsbeistand zu bestellen." 
C.a.b Die IV-Stelle führt ebenfalls Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, die Dispositiv-Ziff. 1, 2 und 3 des vorinstanzlichen Entscheids seien aufzuheben. 
C.b Die Parteien schliessen jeweils auf Gutheissung des eigenen und auf Abweisung des gegnerischen Rechtsmittels. Das Bundesamt für Sozialversicherung enthält sich der Stellungnahme. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Den Verwaltungsgerichtsbeschwerden der Versicherten einerseits und der Verwaltung anderseits liegt derselbe Sachverhalt zu Grunde und es sind die gleichen Rechtsfragen zu beurteilen. Bei dieser Ausgangslage rechtfertigt es sich, die Verfahren zu vereinigen und in einem einzigen Urteil zu erledigen (vgl. BGE 128 V 126 Erw. 1 und 194 Erw. 1, je mit Hinweisen). 
2. 
Das kantonale Gericht hat unter anderem die Bestimmungen und Grundsätze zum Begriff der Invalidität (Art. 4 IVG; BGE 116 V 249 Erw. 1b), zur Bemessung des Invaliditätsgrades bei Erwerbstätigen nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE 126 V 75, 104 V 136 f. Erw. 2a und b), insbesondere auch nach der Methode des Prozentvergleichs (BGE 114 V 313 Erw. 3a), über die Aufgabe des Arztes im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 115 V 134 Erw. 2 mit Hinweisen; AHI 2002 S. 70 Erw. 4b/cc) und die beweisrechtliche Würdigung von medizinischen Berichten (BGE 125 V 352 Erw. 3a) richtig wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. Beizufügen ist, dass das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 (in Kraft seit dem 1. Januar 2003) keine Anwendung findet; massgebend sind vielmehr die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der streitigen Verfügung vom 11. Dezember 2001 (BGE 129 V 4 Erw. 1.2; vgl. BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b). Das Gleiche gilt für die auf den 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Bestimmungen gemäss der Änderung des IVG vom 21. März 2003 (4. IV-Revision). 
3. 
Zu prüfen ist, ob die Versicherte ab Juni 2000 Anspruch auf eine Invalidenrente hat. In diesem Verfahren sind, wie die Vorinstanz richtig festgehalten hat, nur die Verhältnisse bis zum Zeitpunkt der strittigen Verfügung (11. Dezember 2001) zu betrachten (BGE 121 V 366 Erw. 1b). 
3.1 
3.1.1 Im Gutachten der MEDAS vom 11. Januar 2001 zuhanden des Unfallversicherers, das auf je einem rheumatologischen, psychiatrischen, neurologischen und neuropsychologischen Konsilium beruht, wird bezogen auf leichte Tätigkeiten eine Arbeitsfähigkeit von 80 Prozent ausgewiesen. Die Einschränkung ergibt sich allein aus rheumatologischer Sicht. Weil der Unfallversicherer gewisse Zweifel am Beweiswert dieser Expertise hegte, gab er bei der Neurologin Dr. U.________ ein weiteres Gutachten in Auftrag. Die Sachverständige kam am 20. August 2001 gestützt auf eigene Untersuchungen sowie ein neuropsychologisches Konsilium zum Schluss, der zerebrale Schmerzverarbeitungsmechanismus sei unter anderem wegen einer leichten kognitiven Leistungsminderung erheblich erschwert, was zur Ausbreitung und Chronifizierung von Schmerzen führe. Die Versicherte sei zur Zeit bezogen auf jede erwerbliche Tätigkeit vollständig arbeitsunfähig. Bei erfolgreicher Umsetzung therapeutischer Massnahmen bestehe aber die Möglichkeit, dass sie wieder eine uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit erlange. Bei einer knapp einmonatigen Hospitalisierung in der Rehaklinik R.________ im Frühjahr 2002 wurden unter anderem ein persistierender zephalo-zervikaler Symptomenkomplex, leichte neuropsychologische Funktionsstörungen sowie eine Anpassungsstörung mit Depression und Angst diagnostiziert. Der Austrittsbericht vom 29. Mai 2002 weist eine hundertprozentige Arbeitsunfähigkeit aus; die Belastbarkeit werde unter therapeutischem Einfluss "mittelfristig" zunehmen. 
3.1.2 Wegen der divergierenden Einschätzungen holte das kantonale Gericht bei der Klinik für Rheumatologie am Spital B.________ eine Expertise vom 3. September 2003/10. Februar 2004, ergänzt durch ein neuropsychologisches und ein psychiatrisches Teilgutachten, ein. Der federführende Rheumatologe gibt an, gemäss aktueller Untersuchung habe sich die initial typische Symptomatologie eines Beschleunigungstraumas graduell gebessert, so dass nunmehr ein altersentsprechend normaler Zustand vorliege. Die früher festgestellten Weichteilbefunde hätten sich vollständig zurückgebildet und die schon vor dem Unfall registrierten minimalen skelettalen Alterationen seien jetzt "klinisch stumm". Während frühere neuropsychologische Untersuchungen nur diskrete Hirnleistungsstörungen ergeben hätten, seien aktuell äusserst starke Abweichungen von den Altersnormen gefunden worden, wie sie üblicherweise erst nach einem fortgeschrittenen demenziellen Prozess festgestellt würden (sog. Pseudodemenz). Da keine der neurologischen Untersuchungen eine relevante hirnorganische Störung ergeben habe, bestünden erhebliche Zweifel an der Leistungsmotivation. Aus psychiatrischer Sicht schliesslich könnten die geschilderte Rückzugstendenz und die in früheren ärztlichen Berichten erwähnte Angststörung "nicht einer arbeitsrelevanten oder therapiebedürftigen Problematik zugeordnet werden". Insgesamt bestehe im Zeitpunkt der Begutachtung keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit mehr. Am 11. Dezember 2001 (Datum der strittigen Verfügung) habe diese noch 50 Prozent betragen. 
3.1.3 Die Vorinstanz hat auf diese Auffassung abgestellt und für den Zeitpunkt der strittigen Verfügung eine hälftige Arbeitsunfähigkeit in allen zumutbaren Tätigkeiten angenommen. Mit Blick auf den Verlauf des im Anschluss an den Unfall eingetretenen Gesundheitsschadens könne nicht davon ausgegangen werden, die Einschränkung sei, wie im Gutachten der MEDAS vom 11. Januar 2001 angegeben, schon damals nur noch im Umfang von 20 Prozent vorhanden gewesen. Das ist insoweit nicht zu beanstanden. Immerhin weisen die Berichte der Frau Dr. U.________ vom August 2001 und der Rehaklinik R.________ vom 29. Mai 2002 noch vollständige Arbeitsunfähigkeiten aus. Diese Feststellungen können zwar nicht unmittelbar zur Beantwortung der Frage nach der massgebenden erwerblichen Einschränkung herangezogen werden. Denn die betreffenden Ärzte prognostizierten im Grundsatz eine weitgehende erwerbliche Belastbarkeit, deren effektive Feststellung offenbar mit Rücksicht auf die empfohlenen umfangreichen Therapien vorläufig aufgeschoben wurde ("Sollten die vorgeschlagenen therapeutischen Massnahmen implementiert werden können, besteht die Möglichkeit einer Restitutio in integrum" [Gutachten der Frau Dr. U.________ vom 20. August 2001, S. 24]). Gleichwohl weisen die zitierten Quellen klar darauf hin, dass die Versicherte einige Monate vor und nach dem Verfügungszeitpunkt - auch unter Berücksichtigung zumutbarer Anstrengungen zur Schmerzüberwindung - noch bis zu einem gewissen Grad arbeitsunfähig war. Entsprechendes gilt mit Bezug auf die im Zusammenhang mit den Begutachtungen im Januar 2001 (MEDAS), August 2001 (Frau Dr. U.________) und März/April 2002 (Rehaklinik R.________) vorgenommenen neuropsychologischen Beurteilungen, in deren Rahmen jeweilen eine minimale bis leichte zerebrale Funktionsstörung festgestellt wurde. Schliesslich leuchtet ein, dass die nach dem Unfall vom Juli 1999 zunächst anscheinend vollständige, rheumatologisch begründete Arbeitsunfähigkeit, die nach gerichtsgutachtlicher Feststellung im Herbst 2003 im Rahmen eines kontinuierlichen Heilungsprozesses einem ungeschmälerten Leistungsvermögen gewichen war, um Ende 2001 noch ungefähr zur Hälfte vorhanden gewesen sein muss. Somit bleibt es dabei, dass für den Zeitpunkt der strittigen Verfügung nach der Methode des Prozentvergleichs ein Invaliditätsgrad von 50 Prozent ermittelt wird, was zum Anspruch auf eine halbe Invalidenrente führt. 
3.2 Das vorinstanzliche Entscheiddispositiv sieht vor, dass diese Leistung mit Wirkung ab dem 1. Juni 2000 ausgerichtet werde. Damit ging das kantonale Gericht implizit davon aus, die Verhältnisse seit Ablauf der Wartezeit (Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG) hätten sich bis zum Zeitpunkt der strittigen Verfügung vom 11. Dezember 2001 nicht in anspruchserheblicher Weise geändert. Aufgrund des Verlaufs des Gesundheitsschadens (Erw. 3.1 hievor) besteht indes eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit, dass die Invalidität über einen gewissen Zeitraum hinweg mehr als 66 2/3 Prozent betragen haben könnte (vgl. Art. 28 Abs. 1 IVG). Die Sache geht zurück an die Verwaltung, damit diese, allenfalls gestützt auf ergänzende Abklärungen, überprüfe, ob sich der Leistungsanspruch im massgebenden Zeitraum veränderte und gegebenenfalls eine abgestufte Rente zuspreche. 
3.3 Im Rahmen dieses Verfahrens ist der Verlauf der anspruchserheblichen Tatsachen wie erwähnt nur bis zum 11. Dezember 2001 zu berücksichtigen (Erw. 3 Ingress). Es fragt sich daher, ob die im Gerichtsgutachten vom 3. September 2003 enthaltenen Feststellungen, die zum Befund einer Pseudodemenz führten (Erw. 3.1.2 hievor), eine Rückwirkung auf den hier massgebenden Zeitraum entfalten. Die damals vorliegenden neuropsychologischen Abklärungen sprechen indes übereinstimmend nur von einer leichten Funktionsstörung. Den Akten lassen sich mithin keine Anhaltspunkte für eine schon vor Ende 2001 bestehende einschlägige Symptomatik entnehmen. 
4. 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Der teilweise obsiegenden Versicherten wird eine reduzierte Parteientschädigung zu Lasten der IV-Stelle zugesprochen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 und 2 OG). Im Übrigen kann die unentgeltliche Verbeiständung gewährt werden (Art. 135 in Verbindung mit Art. 152 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verfahren I 301/04 und I 305/04 werden vereinigt. 
2. 
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde der L.________ werden Dispositiv-Ziff. 1 des Entscheids des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern und die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 11. Dezember 2001 aufgehoben und es wird die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre. Im Übrigen werden die Verwaltungsgerichtsbeschwerden abgewiesen. 
3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
4. 
Die IV-Stelle Luzern hat der Versicherten für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine reduzierte Parteientschädigung von Fr. 1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
5. 
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Christoph Erdös, Zürich, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet. 
6. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 19. April 2005 
 
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: