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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_1085/2022  
 
 
Urteil vom 20. Dezember 2023  
 
I. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Muschietti, 
nebenamtliche Bundesrichterin Pont Veuthey, 
Gerichtsschreiberin Frey Krieger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokat Dr. Christian von Wartburg, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, 4051 Basel, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Nichteintreten auf Einsprache infolge Verspätung (Widerhandlung gegen die COVID-19-Verordnung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, vom 8. Juli 2022 (BES.2021.135). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Strafbefehl vom 13. August 2021 wurde A.________ wegen Widerhandlung gegen die COVID-19-Verordnung mit einer Busse von Fr. 100.-- bestraft. Auf eine dagegen am 7. September 2021 erhobene Einsprache trat das Einzelgericht in Strafsachen infolge Verspätung mit Verfügung vom 12. Oktober 2021 nicht ein. Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt mit Entscheid vom 8. Juli 2022 ab. 
 
B.  
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, der Entscheid des Appellationsgerichts vom 8. Juli 2022 sei aufzuheben, und es sei die Vorinstanz anzuweisen, auf die gegen den Strafbefehl vom 13. August 2021 erhobene Einsprache vom 7. September 2021 einzutreten. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO. Zur Begründung beruft sie sich einerseits auf den Wortlaut dieser Bestimmung, andererseits auf den Vertrauensschutz. Sie macht zudem geltend, dass sie nicht mit einer (fristauslösenden) Zustellung respektive der Zustellung eines Strafbefehls habe rechnen müssen. 
 
2.  
Die Vorinstanz gelangt zum Schluss, das Strafgericht sei zufolge verspäteter Eingabe zu Recht nicht auf die am 7. September 2021 erhobene Einsprache eingetreten. 
Zur Begründung erwägt sie im Wesentlichen, die Zustellfiktion komme nicht erst dann zum Tragen, wenn eine Sendung überhaupt nicht abgeholt werde. Die Nichtabholung gelte für die 7-tägige Abholfrist und nicht für deren Verlängerung. Nichts anderes ergebe sich aus der aktuellen bundesgerichtlichen Rechtsprechung, gemäss welcher eine Verlängerung der postalischen Abholfrist keinen Einfluss auf den Eintritt der Zustellfiktion habe und die Beschwerdeführerin die Abholfrist nicht hätte verlängern dürfen, ohne sich vorher nach dem Absender des avisierten eingeschriebenen Briefes zu erkundigen. Sodann bestreite die Beschwerdeführerin nicht, die Zahlungserinnerung vom 29. April 2021 erhalten zu haben. Zwischen diesem Schreiben und der fingierten Zustellung des Strafbefehls am 23. August 2021 liege ein Zeitraum von rund vier Monaten. Dieser liege innerhalb der gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zulässigen Aufmerksamkeitsspanne von rund sechs Monaten und einem Jahr. Auch der Einwand, sie hätte höchstens mit der Vorladung zu einer Einvernahme rechnen müssen, überzeuge nicht. Zudem sei sie zwei Mal darauf hingewiesen worden, dass bei nicht fristgemässer Bezahlung der Busse das Verfahren zur Beurteilung an die Staatsanwaltschaft überwiesen werde. Damit habe sie mit dem Erlass eines Strafbefehls rechnen müssen, zumal spätestens mit der gegen die Busse erhobenen Einsprache ein Prozessrechtsverhältnis begründet worden sei. Zusammenfassend gelte der am 13. August 2021 per Einschreiben verschickte und am 16. August 2021 zur Abholung avisierte Strafbefehl als am 23. August 2021 zugestellt, womit die Einsprache gegen den Strafbefehl spätestens am 2. September 2021 hätte erfolgen müssen. 
 
3.  
Gegen den Strafbefehl kann die beschuldigte Person bei der Staatsanwaltschaft innert 10 Tagen schriftlich Einsprache erheben (Art. 354 Abs. 1 lit. a StPO). Die Einsprachefrist beginnt mit der Zustellung des Strafbefehls zu laufen. Die Formen der Zustellung sind in Art. 85 StPO geregelt. Die Zustellung erfolgt durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung, insbesondere durch die Polizei (Art. 85 Abs. 2 StPO; BGE 144 IV 57 E. 2.3; Urteil 6B_860/2020 vom 18. November 2020 E. 1.3.1; je mit Hinweisen). 
Die Zustellung einer eingeschriebenen Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt nach Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste (sog. Zustell- oder Zustellungsfiktion; BGE 143 III 15 E. 4.1; 138 III 225 E. 3.1). Die Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses verpflichtet die Parteien, sich nach Treu und Glauben zu verhalten und unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akten zugestellt werden können, welche das Verfahren betreffen (BGE 146 IV 30 E. 1.1.2; 141 II 429 E. 3.1; 138 III 225 E. 3.1; Urteile 6B_1057/2022 vom 30. März 2023 E. 1.1.; 6B_368/2022 vom 29. Juni 2022 E. 3; 6B_548/2022 vom 30. Mai 2022 E. 3.4; 6B_110/2016 vom 27. Juli 2016 E. 1.2, nicht publiziert in: BGE 142 IV 286; je mit Hinweisen). Von einer verfahrensbeteiligten Person wird namentlich verlangt, dass sie für die Nachsendung ihrer an die bisherige Adresse gelangenden Korrespondenz besorgt ist und der Behörde gegebenenfalls längere Ortsabwesenheiten mitteilt oder eine Stellvertretung ernennt (vgl. BGE 146 IV 30 E. 1.1.2; 141 II 429 E. 3.1; 139 IV 228 E. 1.1; Urteile 6B_880/2022 vom 30. Januar 2023 E. 2.1; 6B_1455/2021 vom 11. Januar 2023 E. 1.1; 6B_1083/2021, 6B_1084/2021 vom 16. Dezember 2022 E. 5.2, nicht publiziert in: BGE 149 IV 105). Diese Obliegenheit beurteilt sich nach den konkreten Verhältnissen und dauert nicht unbeschränkt an (Urteil 6B_324/2020 vom 7. September 2020 E. 1.2 mit Hinweisen). Das Bundesgericht hat hinsichtlich der gebotenen Aufmerksamkeitsdauer verschiedentlich einen Zeitraum von bis zu einem Jahr seit der letzten verfahrensrechtlichen Handlung der Behörde als vertretbar bezeichnet (Urteile 6B_674/2019 vom 19. September 2019 E. 1.4.3; 6B_826/2023 vom 26. Oktober 2023 E. 2). 
 
4.  
Die mit der Beschwerde erhobene Kritik ist unbegründet, soweit sie den gesetzlichen Begründungsanforderungen überhaupt genügt. 
 
4.1. Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, mit einer Ordnungsbusse von Fr. 100.-- bestraft worden zu sein; ebenso wenig, dass sie Einsprache gegen die ausgefällte Busse erhoben hat. Mit den vorinstanzlichen Erwägungen, dass spätestens ab jenem Zeitpunkt ein Prozessrechtsverhältnis bestanden habe, setzt sie sich nicht auseinander. Ebenso wenig stellt sie in Abrede, zwei Mal darauf hingewiesen worden zu sein, dass bei nicht fristgemässer Bezahlung der Busse das Verfahren zur Beurteilung an die Staatsanwaltschaft überwiesen werde (angefochtenes Urteil S. 6), respektive dass ein ordentliches Strafverfahren eingeleitet werde (vgl. Beschwerde S. 10). Unbestritten ist ebenso, dass die letzte Verfahrenshandlung am 29. April 2021 (Zustellung Zahlungserinnerung) erfolgt ist. Inwiefern die Vorinstanz gegen das Recht verstösst, wenn sie davon ausgeht, dass die Beschwerdeführerin im August 2021 mit der Zustellung strafbehördlicher Post rechnen musste, wird von dieser nicht rechtsgenüglich dargetan und ist auch nicht ersichtlich. Hiervon, mithin dass sie mit Zustellungen der Staatsanwaltschaft rechnen musste, geht die Beschwerdeführerin denn auch selber aus, wenn sie geltend macht, sie hätte (höchstens) mit der Vorladung zu einer Einvernahme rechnen müssen. Weshalb sie demgegenüber und generell nicht mit fristauslösenden Zustellungen und damit einhergehend auch nicht mit der Zustellung eines Strafbefehls hätte rechnen müssen, erschliesst sich nicht.  
Auch mit den vorinstanzlichen Erwägungen, gemäss welchen die Staatsanwaltschaft nicht gehalten sei, in jedem Fall eine Einvernahme durchzuführen - "insbesondere nicht in Verfahren aufgrund einer Ordnungsbusse" - setzt sich die Beschwerdeführerin wiederum nicht in einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Weise auseinander. Mithin zeigt sie nicht ansatzweise auf, dass und weshalb die Staatsanwaltschaft entgegen den Erwägungen der Vorinstanz und mit Blick auf Art. 352 Abs. 1 StPO in der vorliegenden Konstellation gehalten gewesen wäre, vor Erlass des Strafbefehls eine Einvernahme durchzuführen. 
 
4.2. Insoweit die Beschwerdeführerin sich auf die von ihr bei der Post vorgenommene Verlängerung der Abholfrist beruft, übersieht sie, dass eine solche gemäss ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung keinen Einfluss auf den Fristenlauf hat, mithin das Wirksamwerden der Fiktion nicht durch eine Verlängerung der Abholfrist verhindert werden kann (BGE 141 II 429 E. 3.b; 134 V 49 E. 4; siehe auch BGE 123 III 492 E. 1; zuletzt Urteil 6B_1415/2021 vom 9. März 2022 E. 3.2. m.w.H. auf 6B_1430/2020 vom 15. Juli 2021 E. 1.3, 6F_35/2020 vom 1. Februar 2021 E. 3, 6B_302/2020 vom 25. Juni 2020 E. 5.2 und 6B_28/2020 vom 1. April 2020 E. 4). Auch aus den von ihr herangezogenen Urteilen (BGE 127 I 31 E. 3b/bb, 1C_85/2010 vom 4. Juni 2010 und 2D_37/2010 vom 23. November 2010) kann die Beschwerdeführerin nichts zu ihren Gunsten ableiten. In casu liegt keine Konstellation vor, in der das Datum der Zustellfiktion und des letzten Tages der Abholfrist deswegen auseinanderklaffen, weil die Post von sich aus eine längere Abholfrist gewährt bzw. falsche Angaben zur Abholfrist gemacht hätte.  
Im Übrigen reicht für die Anwendbarkeit der Zustellfiktion im Sinne von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO aus, dass die Sendung per Einschreiben versandt und diejenige Behörde als Absender auf dem Briefumschlag erkennbar ist, mit deren Sendung der Empfänger aufgrund des Prozessrechtsverhältnisses rechnen musste (BGE 142 IV 286 E. 1.6.). Auf dem Briefumschlag des eingeschrieben versandten Strafbefehls vom 13. August 2021 ist vorliegend die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt vermerkt. Dass die Beschwerdeführerin hiervon keine Kenntnis nahm bzw. nehmen konnte, hat sie sich selber zuzuschreiben, nachdem sie gemäss ihren eigenen Angaben die Abholungseinladung noch vor ihrer Ferienabreise im Briefkasten vorgefunden und alsdann um Verlängerung der postalischen Abholfrist ersucht hat. Da sie wie erwähnt mit (fristauslösenden) Zustellungen der Strafbehörden rechnen musste, hätte sie die Abholfrist nicht verlängern dürfen, ohne sich vorher nach dem Absender des avisierten eingeschriebenen Briefes zu erkundigen (vgl. Urteil 6B_28/2020 vom 1. April 2020 E. 4). Die Beschwerde erweist sich insoweit als unbegründet. 
 
5.  
Schliesslich rügt die Beschwerdeführerin eine Rechtsverweigerung. Trotz expliziter Ankündigung habe sich die Vorinstanz nicht zum "Wiedereinsetzungsgesuch" geäussert. 
 
5.1. Formelle Rechtsverweigerung liegt vor, wenn eine Instanz einzelne Anträge einer Partei oder Teile davon nicht behandelt, obwohl sie dazu verpflichtet wäre (BGE 144 II 184 E. 3.1; 135 I 6 E. 2.1; Urteil 6B_61/2021 vom 16. Februar 2021 E. 3.3).  
 
5.2. Mit Eingabe vom 15. November 2021 stellte die Beschwerdeführerin beim Strafgericht Basel-Stadt ein Gesuch um Wiederherstellung der Frist gemäss Art. 94 StPO. Mit Verfügung vom 16. November 2021 trat das Strafgericht auf das Gesuch nicht ein und leitete dieses zuständigkeitshalber an die Staatsanwaltschaft weiter. In ihrer Vernehmlassung vom 21. Dezember 2021 (im vorinstanzlichen Beschwerdeverfahren) führte Letztere aus, dass über das an sie weitergeleitete Gesuch nach rechtskräftigem Abschluss des Beschwerdeverfahrens entschieden werden würde (vorinstanzliche Akten [VI] act. 6 samt Beilagen). Mit Schreiben vom 24. Februar 2022 ersuchte die Beschwerdeführerin die Vorinstanz um Anweisung der Staatsanwaltschaft, über das Gesuch um Wiederherstellung der Frist zu entscheiden. Dies mit der Begründung, dass im Falle einer Gutheissung desselben das Beschwerdeverfahren obsolet würde (VI act. 10). Mit Verfügung vom 28. Februar 2022 teilte die Vorinstanz mit, dass vorgesehen sei, über das Gesuch um Wiederherstellung der Frist ebenfalls im Beschwerdeverfahren zu entscheiden. Im angefochtenen Entscheid vom 8. Juli 2022 erwägt die Vorinstanz alsdann, dass Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ausschliesslich die Nichteintretensverfügung der Vorinstanz sei. Geprüft werde daher nur, ob das Einzelgericht in Strafsachen zu Recht nicht auf die Einsprache eingetreten sei (angefochtener Entscheid S. 3).  
 
5.3. Damit hat sich die Vorinstanz, wenn auch bloss implizit, zum Gesuch der Beschwerdeführerin geäussert. Dies dahingehend, dass sie auf ihre prozessleitende Ankündigung - dass vorgesehen sei, über das bei der Staatsanwaltschaft hängige Gesuch um Fristwiederherstellung im bei ihr hängigen Beschwerdeverfahren zu entscheiden - zurückgekommen ist, und zwar mit der Begründung, dass solches nicht Gegenstand des bei ihr hängigen Beschwerdeverfahrens sei. Inwiefern sie damit gegen das Recht gemäss Art. 95 BGG verstösst respektive damit eine Rechtsverweigerung einhergeht, ist nicht ersichtlich. Die Beschwerde erweist sich auch in diesem Punkt als unbegründet.  
 
6.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Ausgangsgemäss hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 20. Dezember 2023 
 
Im Namen der I. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Frey Krieger