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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
6B_1052/2019  
 
 
Urteil vom 4. Dezember 2019  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichter Oberholzer, 
Bundesrichter Rüedi, 
Gerichtsschreiber Briw. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Claudio Nosetti, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Verspätete Einsprache; Zustellfiktion, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Kantonsgerichts Luzern, 1. Abteilung, vom 5. August 2019 (2N 19 62). 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Staatsanwaltschaft Emmen bestrafte A.________ (nachfolgend: Beschwerdeführer) am 12. September 2018 wegen Tätlichkeiten, Drohung, Beschimpfung, versuchter Nötigung, Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte und mehrfacher Nichtabgabe der Kontrollschilder und des Fahrzeugausweises mit einer unbedingten Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu Fr. 60.-- und Fr. 200.-- Busse.  
 
Die Staatsanwaltschaft versandte den Strafbefehl am 13. September 2018 mit eingeschriebener Post. Der Strafbefehl wurde von der Post am 14. September 2018 zur Abholung bis 21. September 2018 avisiert und am 22. September 2018 als "nicht abgeholt" zurückgesandt. 
 
1.2. Der Beschwerdeführer erhob am 13. Dezember 2018 bei der Staatsanwaltschaft Einsprache und machte geltend, der Strafbefehl sei ihm erst mit Schreiben vom 4. Dezember 2018 zugestellt worden. Erst nach Erhalt der Rechnung habe er vom Strafbefehl erfahren. Im September habe er die Sendung wegen Auslandsabwesenheit nicht abholen können. Er habe keine Kenntnis über ein laufendes Verfahren gehabt und deshalb auch nicht mit der Zustellung rechnen müssen.  
 
Die Staatsanwaltschaft überwies die Akten am 6. Februar 2019 an das Bezirksgericht Kriens. Dieses entschied am 16. April 2019, die vom 13. Dezember 2018 datierte Einsprache sei ungültig und der Strafbefehl vom 12. September 2018 rechtskräftig. 
 
Das Kantonsgericht Luzern wies mit Beschluss vom 5. August 2019 die Beschwerde ab. 
 
1.3. Der Beschwerdeführer beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, den vorinstanzlichen Beschluss aufzuheben und die Gültigkeit der Einsprache festzustellen, sämtliche Kosten- und Entschädigungsfolgen über sämtliche Instanzen der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen.  
 
1.4. Der Beschwerdeführer begründet die beantragte aufschiebende Wirkung damit, die vorzeitige Bezahlung der Kosten würde ihn in seiner wirtschaftlichen Existenz beeinträchtigen. Damit belegt er nicht, dass Vollzugsmassnahmen angeordnet wurden oder unmittelbar bevorstünden und begründet keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 103 Abs. 3 BGG. Auf das Gesuch ist daher nach konstanter Rechtsprechung nicht einzutreten (Urteile 6B_575/2018 vom 22. November 2018 E. 4, 6B_1324/2017 vom 9. Mai 2018 E. 1 und 6B_515/2014 vom 26. August 2014 E. 1 mit Hinweisen).  
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, streitig sei, ob die Zustellfiktion  in casu zur Anwendung gelange (Beschwerde Ziff. 11). Die Vorinstanz qualifiziere den Polizeirapport vom 14. August 2018 als zulässiges Beweismittel und verweise dazu auf das Urteil 6B_1057/2013 vom 19. Mai 2014. Das bedeute nicht per se, dass der Inhalt bzw. die Aussage korrekt sei. Das voraussetzungslose, blinde Vertrauen stelle eine unzulässige Beweisregel dar (BGE 97 IV [227] S. 229, 232). Die Vorinstanz sei ohne jegliche Überprüfung von der Richtigkeit des Polizeirapports ausgegangen, woraus sich ergebe, dass die Polizistin ihn als beschuldigte Person angesprochen und ihn über die Anzeigeerstattung informiert habe (Ziff. 16). Relevant sei, dass es sich um einen nachträglich und selbständig ausgearbeiteten Bericht darüber handle, was am 4. August 2018 angeblich geschehen sei. Die Fehleranfälligkeit steige mit dem schwindenden Erinnerungsvermögen linear. Es sei nicht auszuschliessen, dass die Polizistin davon ausgegangen sei, eine entsprechend Mitteilung gemacht zu haben, obwohl dem tatsächlich nicht so gewesen sei. Die Vorinstanz gehe ungeprüft von der absoluten Richtigkeit des Rapports aus und verletze den Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäss Art. 10 Abs. 2 StPO.  
 
Selbst wenn die Polizistin ihn auf die Einleitung des Strafverfahrens hingewiesen hätte, was bestritten werde, wäre dies nicht ausreichend dafür, dass er mit der Zustellung des Strafbefehls hätte rechnen müssen (Ziff. 25). Über die Verfahrenseinleitung betreffend Nichtabgabe der Kontrollschilder sei er nicht informiert worden. Der Beweis sei nicht rechtsgenüglich erbracht, weshalb in dubio pro reo davon auszugehen sei, dass er keine Kenntnis gehabt hatte (Ziff. 26). Die Zustellfiktion könne für den ganzen Strafbefehl nicht greifen (Ziff. 27). 
 
2.2. Der Strafbefehl wird den zur Einsprache befugten Personen unverzüglich schriftlich eröffnet (Art. 353 Abs. 3 StPO). Ohne gültige Einsprache wird der Strafbefehl zum rechtskräftigen Urteil (Art. 354 Abs. 3 StPO). Das erstinstanzliche Gericht entscheidet über die Gültigkeit des Strafbefehls und der Einsprache (Art. 355 Abs. 2 StPO). Ungültig ist eine verspätete Einsprache. Folgen der Fristversäumnis können mit der Wiederherstellung gemäss Art. 94 StPO behoben werden. Dabei ist glaubhaft zu machen, dass den Säumigen an der Säumnis kein Verschulden trifft (Art. 94 Abs. 1 StPO; dazu BGE 142 IV 201 E. 2.4 S. 205).  
Die Zustellung gilt als erfolgt, bei einer eingeschriebenen Postsendung, die nicht abgeholt worden ist: am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste (Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO). Die Begründung dieses Prozessrechtsverhältnisses verpflichtet die Parteien, sich nach Treu und Glauben zu verhalten und dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akten zugestellt werden können, welche das Verfahren betreffen (BGE 142 IV 201 E. 2.3 S. 204 f.). Diese Obliegenheit beurteilt sich nach den konkreten Verhältnissen und dauert nicht unbeschränkt an (Urteil 6B_674/2019 vom 19. September 2019 E. 1.4.3). 
 
Der Beschwerdeführer wendet ein, er habe mit einer Zustellung nicht rechnen müssen. Implizit macht er ein willkürliches Abstellen auf den Polizeirapport geltend. Jedoch qualifiziert der blosse Widerspruch zu den Erwägungen der Vorinstanz eine Entscheidung noch nicht als willkürlich, da ihr bei der Beweiswürdigung ein weites Ermessen zusteht (BGE 141 IV 369 E. 6.3 S. 375) und eine Entscheidung nur als willkürlich zu gelten hat, wenn sie schlechterdings unhaltbar ist und nicht bereits, wenn eine andere Lösung ebenfalls möglich erscheint (BGE 143 IV 241 E. 2.3.1 S. 244). 
 
2.3. Vor der Vorinstanz hatte der Beschwerdeführer vorgebracht, als die Polizei am 4. August 2018 bei der B.________ AG vorgesprochen habe, sei diese nur zufällig mit ihm ins Gespräch gekommen. Er sei nicht darüber informiert worden, dass ein Strafverfahren betreffend Nichtabgabe von Kontrollschildern gegen ihn eröffnet werde. Bezüglich der übrigen Delikte sei er auf das Strafverfahren gegen ihn anlässlich der Einvernahmen hingewiesen worden (Urteil S. 4). Wie die Vorinstanz folgert, bleibt einzig zu prüfen, ob der Beschwerdeführer auch mit einer Zustellung im Strafverfahren betreffend Nichtabgabe der Kontrollschilder hatte rechnen müssen (Urteil S. 5).  
 
2.4. Die Vorinstanz stellt fest, die Entzugsverfügung des Strassenverkehrsamts vom 11. Juni 2018 betreffend das entzogene Kontrollschild habe sich an die Halterin des Fahrzeugs, die B.________ AG, gerichtet. Nach dem Polizeirapport war dem Beschwerdeführer eine Frist von 20 Tagen gesetzt worden (Akten StA, Faszikel 5, act. 11). Da das Schild nicht abgegeben worden sei, sei die Polizei mit dem Einzug beauftragt worden. Die Polizei sei davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer als Vertreter der B.________ AG verpflichtet gewesen wäre, die Kontrollschilder und den Fahrzeugausweis herauszugeben. Es sei behördennotorisch, dass er Verantwortlicher auch dieser B.________ AG sei. Das sei nicht Verfahrensgegenstand. Die Polizeiwachtmeisterin habe auf Ersuchen des Strassenverkehrsamts bei der B.________ AG vorgesprochen. Als Verpflichteten habe die Polizei den Beschwerdeführer angesehen und ihn im Rapport als Beschuldigten aufgeführt. Die Polizistin habe die Sache mit ihm besprochen. Er habe sich umgehend um die Angelegenheit kümmern wollen und von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch gemacht. Er sei von der Anzeigestellung in Kenntnis gesetzt worden. Das ergebe sich klar aus dem Rapport (Akten StA, Faszikel 5, act. 12). Es seien keine Gründe ersichtlich, warum die Polizistin diesen einfachen Sachverhalt falsch hätte rapportieren sollen.  
 
Im Ergebnis stehe für das Kantonsgericht ausser Zweifel, dass der Beschwerdeführer von der Polizei korrekt über die Anzeige an die Staatsanwaltschaft orientiert worden sei, dass er somit über das gegen ihn laufende Verfahren betreffend Nichtabgabe von Kontrollschildern und den Fahrzeugausweis orientiert gewesen sei und er mit Zustellungen habe rechnen müssen. Er hätte bei einer Landesabwesenheit sicherstellen müssen, dass eine Zustellung erfolgen könne. 
 
2.5. Zusammengefasst ergibt sich, dass gegen den Beschwerdeführer bereits weitere Strafverfahren liefen. Die Polizistin kam einzig mit der fraglichen Angelegenheit im Auftrag des Strassenverkehrsamts ins Hotel und besprach die Sache mit dem Beschwerdeführer, der angab, sich umgehend um die Angelegenheit zu bemühen, und von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machte, was unweigerlich eine polizeiliche Anzeige bei der Staatsanwaltschaft zur Folge haben musste; er wurde denn auch von der Anzeigestellung in Kenntnis gesetzt (Akten StA, Faszikel 5, act. 11 und 12). Der Beschwerdeführer richtet sich nicht in qualifizierter Weise (Willkürrüge i.S.v. Art. 42 Abs. 2 und Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG) gegen den in antizipierter Würdigung ergangenen Verzicht auf Befragung der Polizistin.  
 
Die Vorinstanz nimmt angesichts des Routinefalls "ausser Zweifel" (Urteil S. 7) gestützt auf den Rapport eine korrekte Information des Beschwerdeführers zur Anzeigestellung an. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern das Bundesgericht nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" unter Willkürgesichtspunkten (BGE 144 IV 345 E. 2.2.1 S. 347 f.) davon ausgehen müsste, "dass der Beschuldigte von der Einleitung eines Verfahrens diesbezüglich gegen ihn keine Kenntnis hatte" (Beschwerde Ziff. 26). Der In-dubio-Grundsatz findet auf die Frage, welche Beweismittel zu berücksichtigen und wie sie gegebenenfalls zu würdigen sind, keine Anwendung. Bei sich widersprechenden Beweismitteln stellt das Gericht nicht unbesehen auf den für den Angeklagten günstigeren Beweis ab. Der Grundsatz enthält keine Anweisung, welche Schlüsse aus den vorhandenen Beweismitteln zu ziehen sind (BGE 144 IV 345 E. 2.2.3.1 S. 349). Das Gericht würdigt die Beweise frei nach seiner aus dem gesamten Verfahren gewonnenen Überzeugung (Art. 10 Abs. 2 StPO) und frei von Beweisregeln (BGE a.a.O.). Es ist auch nicht erkennbar, dass die Vorinstanz im Sinne einer Beweisregel auf den Polizeirapport abgestellt hätte (die Verweisung auf BGE 97 IV 227 erscheint nicht einschlägig; oben E. 2.1). 
 
3.   
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Luzern, 1. Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 4. Dezember 2019 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Briw