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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_152/2019  
 
 
Urteil vom 6. Mai 2019  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokat Nicolai Fullin, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 17. Januar 2019 (VBE.2019.12). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Mit Verfügung vom 21. November 2018 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau A.________ eine vom 1. November 2015 bis 30. April 2016 befristete ganze Invalidenrente sowie ab dem 1. Mai 2016 eine halbe Rente zu. 
 
B.   
Am 7. Januar 2019 erhob der von A.________ mandatierte Rechtsanwalt Nicolai Fullin im Namen seiner Klientin beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau Beschwerde mit den Rechtsbegehren, die Verwaltungsverfügung sei abzuändern und die IV-Stelle sei zu verpflichten, seiner Mandantin über den 30. April 2016 hinaus eine ganze Invalidenrente zu leisten. In prozessualer Hinsicht verlangte er die Ansetzung einer Nachfrist für die Begründung der Beschwerde. Mit Entscheid vom 17. Januar 2019 trat das Gericht auf die Beschwerde nicht ein. 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit den Begehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und das kantonale Gericht sei zu verpflichten, auf die Beschwerde vom 7. Januar 2019 einzutreten sowie eine Nachfrist für die Beschwerdebegründung zu gewähren. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Es ist unbestritten, dass die am 7. Januar 2019 bei der Vorinstanz eingereichte Beschwerde gegen die Verfügung der IV-Stelle vom 21. November 2018 rechtzeitig war, aber den Anforderungen an die Begründung nach Art. 61 lit. b Satz 1 ATSG nicht genügte. Hingegen ist streitig, ob das kantonale Gericht in zulässiger Weise mit Verweis auf rechtsmissbräuchliches Verhalten seitens der Versicherten nicht auf deren Beschwerde eingetreten ist. 
 
2.   
Die Vorinstanz legte die rechtlichen Grundlagen betreffend die Verfahrensregeln von Art. 61 lit. b ATSG, wonach eine Beschwerde eine gedrängte Sachverhaltsfeststellung, ein Rechtsbegehren und eine kurze Begründung zu enthalten hat, zutreffend dar. Insbesondere gab sie die Rechtsprechung von BGE 134 V 162, der die Voraussetzungen für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs und dem daraus folgenden Verzicht auf die gesetzlich vorgesehene Nachfristansetzung bei ungenügender oder fehlender Begründung des Rechtsbegehrens präzisiert, korrekt wieder. Darauf wird verwiesen. 
 
3.   
 
3.1. Das kantonale Gericht stellte verbindlich fest (Art. 105 Abs. 1 BGG), die Beschwerdefrist der relevanten Verfügung der IV-Stelle vom 21. November 2018 habe am 7. Januar 2019 geendet. Die von der Beschwerdeführerin unterzeichnete Vollmacht, welche vom 20. Dezember 2018 datiere, sei am 27. Dezember 2018 bei ihrem Rechtsvertreter eingetroffen. Aus den Akten ist ausserdem ersichtlich, dass der Rechtsanwalt die Verwaltung noch am 27. Dezember 2018 um Zustellung des Dossiers mit dem Hinweis auf die laufende Rechtsmittelfrist bat, das jedoch bis zum 7. Januar 2019 nicht bei ihm eintraf.  
 
3.2. Ein die Anwendung von Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG ausschliessender offenbarer Missbrauch ist zu bejahen, wenn die Rechtsvertretung oder eine sonstige rechtskundige Person eine bewusst mangelhafte Rechtsschrift einreicht, um damit eine Nachfrist zur Begründung zu erwirken (BGE 134 V 162 E. 4.1 S. 164). Ausschlaggebend für die Beantwortung der Frage, ob der Rechtsvertretung ein rechtsmissbräuchliches Verhalten anzulasten sei, sind die konkreten Umstände (Urteil 9C_248/2010 vom 23. Juni 2010 E. 3.3, in: SVR 2011 IV Nr. 7 S. 19).  
 
3.2.1. Die Vorinstanz warf dem Rechtsanwalt vor, er habe nicht dargetan, dass ein Instruktionsgespräch mit der Versicherten unmöglich gewesen wäre. Hierzu ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin bereits im vorinstanzlichen Verfahren geltend machte, ihr Rechtsvertreter habe nicht einmal die vollständige Verfügung. Aus den Akten geht hervor, dass er offenbar lediglich im Besitz der Auszahlungsverfügung war. Ausserdem wurde der Anwalt erst Ende Dezember mandatiert und war folglich beim vorangegangenen Verwaltungsverfahren nicht involviert. Bei dieser Ausgangslage sind die Ausführungen der Versicherten, ein Instruktionsgespräch hätte nicht gereicht, um die Beschwerde zu begründen, nachvollziehbar. Die Richtigkeit der Verfügung konnte der Rechtsanwalt ohne die vollständige Verfügung und die übrigen Akten nicht überprüfen. Die Beschwerdeführerin weist denn auch zu Recht darauf hin, dass Aktenkenntnis in aller Regel erforderlich ist, um die Erfolgsaussichten einer Beschwerde beurteilen zu können, was wiederum mit zur sorgfältigen Mandatsausübung gehöre (BGE 134 V 162 E. 5.1 S. 168). Dass der Rechtsvertreter am letzten Tag der Rechtsmittelfrist vorsorglich eine unbegründete Beschwerde einreichte, ist insbesondere mit Blick darauf, dass er erst kurz vor Ablauf der Rechtsmittelfrist mandatiert wurde und keine Kenntnisse vom vorgängigen Verwaltungsverfahren besass, die Konsequenz einer seriösen Mandatsführung.  
 
3.2.2. Nach Auffassung der Vorinstanz wäre es dem Rechtsvertreter im Weiteren zumutbar und möglich gewesen, nach Eingang der unterschriebenen Vollmacht innerhalb der verbliebenen fünf bis sechs Arbeitstage die Akten vor Ort bei der IV-Stelle einzusehen. Es erscheint fraglich, inwiefern eine rechtzeitige Akteneinsicht des Rechtsvertreters vor Ort, wie die Vorinstanz dies forderte, im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung der Weihnachts- und Neujahrstage überhaupt möglich gewesen wäre. Darauf ist jedoch nicht weiter einzugehen. Denn so oder anders kann dem Rechtsanwalt der Umstand, dass er die Akten schriftlich einforderte, entgegen dem kantonalen Gericht nicht zum Nachteil gereichen, da dies den üblichen Gepflogenheiten entspricht (vgl. Urteil 8C_556/2009 vom 1. März 2010 E. 4.2, in: SVR 2010 UV Nr. 29 S. 117). So ist auch in BGE 134 V 162 E. 5.2 S. 168 f. die Rede davon, dass der Rechtsvertreter unverzüglich die Akten einzuholen und nach deren Eingang die innert Frist vorsorglich eingereichte Beschwerde mit einer Begründung zu ergänzen habe.  
 
3.3. Nach dem Gesagten hat der Rechtsanwalt nach seiner Mandatierung alles unternommen, was von ihm vernünftigerweise in einer solchen Situation erwartet werden konnte. Die Vorinstanz wäre gehalten gewesen, eine Nachfrist zur Begründung der Beschwerde vom 7. Januar 2019 einzuräumen. Der angefochtene Entscheid verletzt somit Bundesrecht. Die Sache ist unter Aufhebung des Entscheids vom 17. Januar 2019 an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie eine angemessene Nachfrist zur Einreichung der Begründung ansetze und die Sache nach Vorliegen derselben materiell behandle.  
 
4.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 17. Januar 2019 aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 6. Mai 2019 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber