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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_551/2018  
 
 
Urteil vom 4. Januar 2019  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Oswald. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, handelnd durch seine Eltern B.________ und C.________, vertreten durch Rechtsanwältin Irja Zuber, c/o Procap Schweiz, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (medizinische Massnahme), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. Juli 2018 (IV 2017/334). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 2009 geborene A.________ bezieht mit Wirkung seit 17. Februar 2015 eine Entschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades der Invalidenversicherung (Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen [fortan: IV-Stelle] vom 6. Juni 2016). Am 14. Januar 2016 wurde der Versicherte durch seine Eltern mit Verweis auf ein im November 2015 erstmals diagnostiziertes Geburtsgebrechen (Autismus-Spektrum-Störung gemäss Ziffer 405 des Anhangs zur Verordnung über Geburtsgebrechen vom 9. Dezember 1985 [GgV, SR 831.232.21]) zum Leistungsbezug für Minderjährige (medizinische Massnahmen) angemeldet. Die IV-Stelle traf medizinische Abklärungen und holte insbesondere einen Abklärungsbericht des Dr. med. D.________, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, und der lic. phil. E.________, Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, ein. Dabei bestätigten die Gutachter die Diagnose einer autistischen Störung nicht (Expertise vom 4. Mai 2017). Mit zwei separaten Verfügungen vom 28. Juli 2017 lehnte die IV-Stelle eine Kostengutsprache sowohl für die Behandlung eines Geburtsgebrechens (Art. 13 IVG; fortan: Verfügung Art. 13 IVG) als auch für medizinische Massnahmen nach Art. 12 IVG (fortan: Verfügung Art. 12 IVG) ab. 
 
B.   
Der Versicherte erhob gegen beide Verfügungen Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen. Dieses wies die Beschwerde gegen die Verfügung Art. 13 IVG ab. Die Verfügung Art. 12 IVG hob es auf und stellte fest, A.________ habe Anspruch auf Vergütung der Kosten der medizinischen Behandlung (insbes. Logopädie, allfällige heilpädagogische Früherziehung sowie Behandlung der Enuresis und Enkopresis) durch die Invalidenversicherung. 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. Juli 2018 sei aufzuheben, soweit sie zur Erbringung von logopädischen, heilpädagogischen Leistungen sowie zur Behandlung der Enuresis und Enkopresis verpflichtet werde. 
Der Beschwerdegegner anerkennt die fehlende Zuständigkeit der Invalidenversicherung zur Erbringung von heilpädagogischen Leistungen und schliesst im Übrigen auf Abweisung der Beschwerde. Zudem beantragt er die unentgeltliche Rechtspflege. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die Vorinstanz trägt auf Gutheissung der Beschwerde in Bezug auf die logopädischen und heilpädagogischen Leistungen an, im Übrigen auf deren Abweisung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Streitgegenstand bildet, entsprechend dem Beschwerdeantrag, die Aufhebung der Verfügung Art. 12 IVG durch die Vorinstanz sowie deren Feststellung, der Beschwerdeführer habe gestützt auf Art. 12 IVG einen Anspruch auf medizinische Behandlung (insbes. Logopädie, allfällige heilpädagogische Früherziehung sowie Behandlung der Enuresis und Enkopresis) zulasten der Invalidenversicherung. Insofern besteht zwischen dem Beschwerdeantrag und der Beschwerdebegründung (dortige Ziffer 6) eine Ungereimtheit.  
 
1.2. Die Parteien sind sich indessen einig, dass gegenüber der Invalidenversicherung kein Anspruch auf Übernahme der Kosten für Logopädie und heilpädagogische Früherziehung besteht, sondern diese Massnahmen grundsätzlich durch den Kanton zu finanzieren sind. Ziffer 4 des vorinstanzlichen Entscheids vom 18. Juli 2018 ist dementsprechend aufzuheben, soweit die Invalidenversicherung darin zur Kostenübernahme für Logopädie und heilpädagogische Früherziehung verpflichtet wird.  
Strittig bleibt, ob gestützt auf Art. 12 Abs. 1 IVG ein Anspruch auf Behandlung der Enuresis und Enkopresis durch die Invalidenversicherung besteht. 
 
2.   
Gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die Eingliederung ins Erwerbsleben oder in den Aufgabenbereich gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Art. 12 IVG bezweckt damit namentlich, die Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der sozialen Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander abzugrenzen. Diese Abgrenzung beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit oder einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in den Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört (vgl. etwa Urteile 9C_452/2014 vom 29. Oktober 2014 E. 2.1; 9C_912/2014 vom 7. Mai 2015 E. 1.2, je mit Hinweisen). 
Kein taugliches Abgrenzungskriterium ist der Eingliederungserfolg für sich allein betrachtet, zumal praktisch jede ärztliche Vorkehr, die medizinisch erfolgreich ist, auch im erwerblichen Leben eine entsprechende Verbesserung bewirkt (vgl. bereits Urteile des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 285/71 vom 24. Januar 1972 E. 1; I 115/00 vom 7. März 2001 E. 1b; ausserdem ULRICH MEYER/MARCO REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 3. Aufl. 2014, N. 2 zu Art. 12 IVG). Nach Rechtsprechung und Praxis kommen medizinische Massnahmen nach Art. 12 IVG bei Minderjährigen in Frage zur Korrektur stabiler Funktionsausfälle oder Defekte sowie wenn das Leiden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem schwer korrigierbaren, die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit erheblich behindernden stabilen pathologischen Zustand führen würde (BGE 131 V 9 E. 4.2 S. 21 mit Hinweisen; SVR 2013 IV Nr. 41 S. 123, Urteil 8C_53/2013 E. 3.2; vgl. auch Kreisschreiben des Bundesamt für Sozialversicherungen [BSV] über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung [KSME] Ziff. 38 ff.). 
 
3.   
Am Recht steht ein bei Erlass der strittigen Verfügung achtjähriger Junge, der (u.a.) an - offenbar sporadischer - Enuresis (Einnässen) sowie Enkopresis (Einkoten) leidet. 
Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat bereits mit Urteil I 240/77 vom 11. Mai 1978 festgehalten, bei der Enuresis handle es sich der Natur nach um ein labiles Krankheitsgeschehen, das zudem nicht geeignet sei, zu einem die Ausbildung erheblich beeinträchtigenden Defektzustand zu führen (a.a.O. E. 1 i.f., ZAK 1978 462 f.). Daran ist festzuhalten. Dass es sich mit der Enkopresis wesentlich anders als mit der Enuresis verhalten würde, ist weder ersichtlich noch geltend gemacht. Bei der Therapie von Einnässen und Einkoten (gemäss Abklärungsbericht bei Dr. med. F.________) handelt es sich mithin - mit der Beschwerdeführerin - um eine reine Leidensbehandlung, die nicht unmittelbar auf die erwerblich-berufliche Eingliederung gerichtet ist. Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte, dass sie zur Vermeidung eines stabilen Defektzustandes notwendig wäre, von dem mit hinlänglicher Zuverlässigkeit wesentliche Auswirkungen auf die spätere Erwerbstätigkeit oder Berufsbildung zu erwarten wären (E. 2 hievor). Damit sind die Voraussetzungen für eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung gestützt auf Art. 12 IVG nicht erfüllt (vgl. auch SVR 2008 IV Nr. 16 S. 46, Urteil I 501/06 E. 6). Entsprechend dem Antrag der Beschwerdeführerin ist der vorinstanzliche Entscheid vom 18. Juli 2018 deshalb auch insoweit aufzuheben, als darin die Invalidenversicherung zur Übernahme der Behandlung von Enuresis und Enkopresis verpflichtet wird. 
 
4.   
Nach dem Gesagten sind die Dispositivziffern vier bis sechs des kantonalen Entscheids aufzuheben. Die Verfügung der IV-Stelle vom 28. Juli 2017 (Verfügung Art. 12 IVG) ist zu bestätigen und die Sache zur Neuverlegung der Kosten des kantonalen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückzuweisen. 
 
5.   
Ausgangsgemäss wird der Beschwerdegegner grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 BGG), da die Bedürftigkeit des Versicherten anhand der Akten ausgewiesen ist. Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach er der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der Lage ist. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die Dispositiv-Ziffern 4-6 des Entscheids des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. Juli 2018 werden aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 28. Juli 2017 (Verfügung Art. 12 IVG) bestätigt. 
 
2.   
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwältin Irja Zuber wird als unentgeltliche Anwältin bestellt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Der Rechtsvertreterin des Beschwerdegegners wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 500.- ausgerichtet. 
 
5.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen. 
 
6.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 4. Januar 2019 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Oswald