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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
8C_421/2018  
 
 
Urteil vom 28. August 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiberin Polla. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle Appenzell Ausserrhoden, 
Neue Steig 15, 9100 Herisau, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
handelnd durch B.________ und C.________, 
und diese vertreten durch Rechtsanwalt Christoph Anwander, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (medizinische Massnahmen), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts Appenzell Ausserrhoden vom 13. Februar 2018 
(O3V 17 11). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 2006 geborene A.________ leidet nach einer Frühgeburt u.a. an einer diskreten cerebralen Bewegungsstörung und einer Teilleistungsschwäche im Bereich Visuokonstruktion. Er bezog deshalb Leistungen der Invalidenversicherung (Ergo- und Physiotherapie; medizinische Massnahmen zur Behandlung der Geburtsgebrechen Ziff. 247, 494, 497, 390 und 395 vgl. Mitteilungen der IV-Stelle Appenzell Ausserrhoden vom 25., 28., 29. und 30. August 2006, 9. Februar 2007 sowie 4. November 2015). 
Am 25. Januar 2017 liess die Physiotherapeutin von A.________ um Kostenübernahme einer weiteren ambulanten Physiotherapie durch die IV-Stelle ersuchen. Gestützt auf die Einschätzung des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD; Beurteilungen des Dr. med. D.________ vom 1. und 15. Februar 2017), wonach die beantragte Physiotherapie für die Kreuzbandläsion am rechten Knie rezeptiert worden und die dezente cerebrale Störung nur als Nebendiagnose aufgeführt sei, lehnte die IV-Stelle die Kostenübernahme hierfür ab (Verfügung vom 8. März 2017). 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Obergericht Appenzell Ausserrhoden mit Entscheid vom 13. Februar 2018 gut und wies die IV-Stelle an, die Kosten für die ambulante Physiotherapie zu übernehmen. 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids. 
A.________ lässt Abweisung der Beschwerde beantragen, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichtet auf eine Stellungnahme. 
Erwägungen: 
 
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen). 
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die Leistungspflicht der IV-Stelle für die am 25. Januar 2017 beantragte medizinische Massnahme (ambulante Physiotherapie) bejahte. 
 
3.  
 
3.1. Die Leistungspflicht eines Unfallversicherers gemäss UVG setzt unter anderem voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod) ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht. Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten oder nicht als in der gleichen Weise beziehungsweise nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht werden kann. Entsprechend dieser Umschreibung ist für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs nicht erforderlich, dass ein Unfall die alleinige oder unmittelbare Ursache gesundheitlicher Störungen ist; es genügt, dass das schädigende Ereignis zusammen mit anderen Bedingungen die körperliche oder geistige Integrität der versicherten Person beeinträchtigt hat, der Unfall mit andern Worten nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die eingetretene gesundheitliche Störung entfiele (BGE 142 V 435 E. 1 S. 438; 129 V 177 E. 3.1 S. 181).  
Die Versicherungsleistungen werden auch bei Rückfällen und Spätfolgen gewährt (Art. 11 UVV), wenn zwischen den erneut geltend gemachten Beschwerden und der seinerzeit beim versicherten Unfall erlittenen Gesundheitsschädigung ein natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang besteht (BGE 118 V 293 E. 2c S. 296 f.). 
 
3.2. Bei einem durch den Unfall verschlimmerten oder überhaupt erst manifest gewordenen krankhaften Vorzustand entfällt die Leistungspflicht erst, wenn der Unfall nicht mehr die natürliche und adäquate Ursache darstellt, der Gesundheitsschaden also nur noch und ausschliesslich auf unfallfremden Ursachen beruht. Dies trifft zu, wenn entweder der (krankhafte) Gesundheitszustand, wie er unmittelbar vor dem Unfall bestanden hat (status quo ante), oder aber derjenige Zustand, wie er sich nach schicksalsmässigem Verlauf eines krankhaften Vorzustandes auch ohne Unfall früher oder später eingestellt hätte (status quo sine), erreicht ist (SVR 2011 UV Nr. 4 S. 12, 8C_901/2009 E. 3.2; Urteil 8C_269/2016 vom 10. August 2016 E. 2.4; RKUV 1994 Nr. U 206 S. 328 E. 3b, U 180/93 mit Hinweisen). Trifft ein Unfall auf einen vorgeschädigten Körper und steht medizinischerseits fest, dass weder der status quo ante noch der status quo sine je wieder erreicht werden können, so handelt es sich nach der Rechtsprechung um eine "richtungsgebende Verschlimmerung" (Urteil 8C_240/2016 vom 13. Juli 2016 E. 3).  
Solange der Status quo sine vel ante nicht erreicht ist, hat der Unfallversicherer damit gestützt auf Art. 36 Abs. 1 UVG in aller Regel neben den Taggeldern auch Pflegeleistungen und Kostenvergütungen zu übernehmen, worunter auch die Heilbehandlungskosten nach Art. 10 UVG fallen. 
 
4.  
 
4.1. Die Vorinstanz stellte fest, der Versicherte habe bereits mehrere Male aufgrund der cerebralen Lähmungen im Sinne des Geburtsgebrechens Ziff. 390 GgV Physiotherapie erhalten (medizinische Massnahmen nach Art. 13 Abs. 1 IVG;). Nach einem vorläufigen Therapieende im Juni 2010 sei ab Januar 2011 insbesondere zur Gangschulung und Beübung der Aussenrotationsfähigkeit erneut wöchentlich Physiotherapie verordnet und bis Ende 2012 zulasten der Invalidenversicherung durchgeführt worden. Im Jahr 2013 habe sich der Beschwerdeführer eine Ruptur des vorderen Kreuzbandes (VKB) am rechten Knie zugezogen, was im Anschluss daran auch physiotherapeutisch behandelt worden sei, wobei die Krankenversicherung die Kosten übernommen habe (vgl. E. 5.2 nachstehend). Anfang 2016 seien wiederum Schmerzen aufgetreten, die zwei Monate lang einer wöchentlichen Physiotherapie bedurft hätten, wobei die Schmerzen Ende 2016 zugenommen und neu zusätzlich im linken Knie geklagt worden seien. Die behandelnde Physiotherapeutin habe dazu im Bericht vom 8. Juni 2017 ausgeführt, der Versicherte bewege sich viel und gerne, bevorzuge dabei Ball- und Reaktionssportarten wie Tennis und Fussball, was bei seiner Instabilität sicher nicht von Vorteil sei. Das rechte Knie und seine umgebenden Strukturen seien immer wieder gereizt und überlastet, da es sehr instabil sei. Das linke Knie werde durch das Schonen des rechten und ebenfalls durch den allgemeinen Hypotonus mit laxen Gelenken und Koordinationsproblemen überbelastet. Die Probleme bestünden aufgrund des gerissenen Kreuzbandes, aber auch wegen der schon vorbestehenden Schwäche des rechten Beines und des Koordinationsdefizits beider Seiten aufgrund der dezenten unilateralen Cerebralparese. Gestützt auf den im Rahmen der Nachuntersuchung der Kreuzbandruptur erstellten Bericht des Dr. med. E.________, Oberarzt an der Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, Spital F.________, vom 22. Dezember 2016, sei die Symptomatik des zunehmenden Stolperns und der Zunahme der Knieprobleme nicht allein auf die Ruptur des vorderen Kreuzbandes zurückzuführen, welche Aussage durch Dr. med. G.________, Leitender Arzt am Ostschweizer Spital H.________, der den Versicherten wegen der bilateral spastischen Cerebralparese behandle, gestützt werde. Dieser habe im Bericht vom 7. April 2017 ausgeführt, die Kreuzbandläsion am rechten schwächeren leicht beeinträchtigten Bein sei aus medizinischer Sicht zwar durch einen Unfall bedingt, aber im Kontext der leichten Cerebralparese zu sehen. Die erneute Aufnahme der Physiotherapie wäre ohne Bewegungsstörung nicht notwendig gewesen, da bei einer normal kurzen Ausheilung der Kreuzbandläsion eine nachfolgend begrenzte, kräftigende Physiotherapie ausgereicht hätte. Dass gemäss Dr. med. E.________ die Kniegelenksproblematik im Vordergrund stehe, schliesse - so die Vorinstanz - eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung nicht aus. Da die Physiotherapie zumindest auch aufgrund des Geburtsgebrechens notwendig sei, habe aufgrund der allgemeinen Prioritätenordnung nach Art. 64 ATSG die Invalidenversicherung für die Kosten aufzukommen.  
 
4.2. Die IV-Stelle rügt sinngemäss eine Verletzung von Bundesrecht durch die Vorinstanz, indem diese die Kosten der verordneten Physiotherapie gestützt auf Art. 6 Abs. 2 lit. g UVG nicht der Unfallversicherung überbunden hat. Die Kreuzbandläsion sei klarerweise durch einen Unfall verursacht worden, weshalb die Unfallversicherung leistungspflichtig sei. Die Ruptur sei nicht vorwiegend auf eine Erkrankung zurückzuführen, sondern höchstens durch eine solche begünstigt worden, bzw. die Heilung sei nicht gleich optimal wie bei einem sonst völlig gesunden Versicherten verlaufen. Auch die im vorinstanzlichen Verfahren eingereichten weiteren medizinischen Berichte bestätigten unfallursächliche Beschwerden mit heilungserschwerendem Einfluss der cerebralen Störung.  
 
5.  
 
5.1.  
 
5.1.1. Mit Blick auf die Ausführungen der Vorinstanz (E. 4. 1 hiervor) steht fest, dass die bestehende Problematik und die deswegen verordnete Physiotherapie nicht allein auf die rechtsseitige Kreuzbandruptur zurückgeführt werden kann. Ohne die vorbestehende Bewegungsstörung wäre gemäss Aktenlage die beantragte Physiotherapie nicht notwendig geworden, was jedoch auch nicht geltend gemacht wird.  
 
5.1.2. Um die Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers (im Sinne eines Rückfalls oder von Spätfolgen) zu begründen, genügt mit der IV-Stelle, dass der unfallbedingten Bandruptur teilkausale Bedeutung für die erneute Notwendigkeit der medizinischen Massnahme zukommt, auch wenn der Kreuzbandriss im Kontext der Cerebralparese zu sehen ist und somit der Vorzustand bzw. unfallfremde Ursachen mitverantwortlich für die verordnete ambulante Physiotherapie sind. Von keiner Seite behauptet wird, dass die Verordnung zur Physiotherapie vom 19. Dezember 2016, worin die Diagnose eines Status nach VKB-Ruptur rechts und einer dezenten Cerebralparese aufgeführt wurde auch ohne die Läsion des rechten Kreuzbandes notwendig geworden wäre. Es liegt somit ein versichertes Ereignis vor (Unfall oder unfallähnliche Körperschädigung; vgl. Art. 6 Abs. 2 UVG und Art. 9 Abs. 2 UVV, je in der hier anwendbaren, bis 31. Dezember 2016 gültig gewesenen Fassung). Dieses entspricht einer eigentlichen Teilursache und nicht einer beliebig austauschbaren Gelegenheits- oder Zufallsursache für die hier strittige Massnahme (SVR 2012 UV Nr. 8 S. 27, 8C_380/2011 E. 4.2.2; Urteil 8C_337/2016 vom 7. Juli 2016 E. 4.1.2). Die Notwendigkeit einer erneuten Physiotherapie wurde durch die unfallbedingte Kreuzbandläsion (mit) verursacht. Erst mit dem Erreichen eines Zustands wie er vor der Kreuzbandruptur bestand oder sich auch ohne diese ergeben hätte, entfällt eine Teilursächlichkeit für die noch bestehenden Beschwerden, was die Vorinstanz in Verletzung von Bundesrecht verkannte. Solange dieser Zustand nicht erreicht ist, hat der Unfallversicherer gestützt auf Art. 36 Abs. 1 UVG Leistungen zu erbringen (E. 3 hiervor) und damit die im Streit stehenden Kosten für die am 19. Dezember 2016 verordnete ambulante Physiotherapie zu tragen.  
 
5.2. Keine Rolle spielt dabei mit Blick auf die in Art. 64 Abs. 2 ATSG statuierte Leistungsreihenfolge der Sozialversicherungszweige bei Heilbehandlung, dass hier eine Leistungspflicht der Krankenversicherung bei Unfällen Minderjähriger (Art. 1a Abs. 2 lit. b KVG) im Raum steht. Entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts ist eine Leistung aus dem Versicherungszweig Unfall geschuldet, die durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung zu übernehmen ist, da sie das Risiko Unfall versichert, wenn keine anderweitige Unfallversicherung vorhanden ist (vgl. Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 505 Rz. 323). Der Leistungsträger ist in diesem Fall die Krankenkasse, die demnach als Unfallversicherer auftritt. Die Unfallversicherung (als Sozialversicherungszweig) ist nach der Ordnung von Art. 64 Abs. 2 ATSG gegenüber der Invalidenversicherung vorrangig leistungspflichtig, weshalb eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung auch unter diesem Aspekt nicht zum Tragen kommt, sondern bei der zuständigen Krankenkasse verbleibt (vgl. BGE 134 V 1 E. 6.1 S. 2 ff.). Die Beschwerde ist begründet.  
 
6.   
Die Gerichtskosten sind vom unterliegenden Beschwerdegegner zu tragen. 
 Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Obergerichts Appenzell Ausserrhoden, 3. Abteilung, vom 13. Februar 2018 wird aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle Appenzell Ausserrhoden vom 8. März 2017 bestätigt. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Obergericht Appenzell Ausserrhoden zurückgewiesen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht Appenzell Ausserrhoden, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 28. August 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Polla