Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
H 199/01 
 
Urteil vom 4. Mai 2005 
IV. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber Arnold 
 
Parteien 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
W.________, 1931, Beschwerdegegnerin, vertreten durch G.________, 
 
Vorinstanz 
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden 
 
(Entscheid vom 2. Mai 2001) 
 
Sachverhalt: 
A. 
A.a Auf Gesuch vom 4. November 1997 hin bejahte das Amt für AHV und IV des Kantons Thurgau einen ahv-rechtlichen Anspruch der 1931 geborenen W.________ "auf einen Kostenbeitrag von Fr. 931.35 an orthopädische Mass-Schuhe oder orthopädische Serienschuhe samt Fertigstellung" (Mitteilung vom 15. Januar 1998). 
A.b Mit Vorbescheid vom 18. Januar 2001 eröffnete die Verwaltung W.________, ihr am 6. November 2000 gestelltes Ersuchen um einen Kostenbeitrag an Spezialschuhe würde abgewiesen, da Spezialschuhe nicht im Anhang zur Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Altersversicherung (HVA) aufgeführt seien. Am 9. Februar 2001 erliess die Verwaltung eine gleich lautende Verfügung. 
B. 
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde hob die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau die Verfügung vom 9. Februar 2001 auf und stellte fest, W.________ habe "Anspruch auf eine Kostenbeteiligung im Umfang von Fr. 457.90 an ihrem Orthopädieschuh" (Entscheid vom 2. Mai 2001). 
C. 
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben. 
 
W.________ lässt sich nicht vernehmen. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Das kantonale Gericht hat die gesetzliche Regelung über den Anspruch auf Hilfsmittel der Alters- und Hinterlassenenversicherung (Art. 43ter Abs. 1 [in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung] und Abs. 3 AHVG in Verbindung mit Art. 66ter AHVV und die gestützt darauf vom Eidgenössischen Departement des Innern [EDI] erlassene Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Altersversicherung [HVA] mit anhangweise aufgeführter Hilfsmittelliste [HVA Anhang]) zutreffend dargelegt, worauf verwiesen wird. Richtig wiedergegeben hat es auch die in Ziff. 4.51 der - nach Art. 2 Abs. 1 Satz 2 HVA als abschliessend zu betrachtenden - Hilfsmittelliste umschriebenen Voraussetzungen für die finanzielle Beteiligung an den Kosten orthopädischer Massschuhe und orthopädischer Serienschuhe (einschliesslich Fertigungskosten). 
 
Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im hier zu beurteilenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der strittigen Verwaltungsverfügung (hier: 9. Februar 2001) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2). 
2. 
Der Rechtsstreit dreht sich um die Frage, ob die Beschwerdegegnerin Anspruch auf teilweisen Ersatz der Kosten im Betrag von total Fr. 610.50 gemäss der Rechnung des eidg. dipl. Schuhmachermeisters P.________, vom 26. Oktober 2000 hat. 
2.1 Auf Grund der fakturierten Leistungen ("Einlagen: Orthopädische Einlagen mit durchgehender Basis, Einlagenkorrektur an bestehender Einlage [links], Schuhkorrektur an Spezialschuhen: Brandsohlen Verbreiterung links mit neuer Brandsohle und Gummihalbsohlen [beidseits]) steht fest, dass die Hilfsmittelversorgung invaliditätsbedingt abgeänderte Spezialschuhe betrifft, und nicht orthopädische Massschuhe oder orthopädische Serienschuhe. Mit der Beschwerdeführerin - und entgegen der Rechtsauffassung der Vorinstanz - fällt deshalb Ziff. 4.51 HVA Anhang als direkte normative Anspruchsgrundlage ausser Betracht. 
2.2 Die Akten enthalten weiter keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdegegnerin vor Entstehen des Anspruchs auf eine Altersrente Kosten für ein invalidenversicherungsrechtliches Hilfsmittel gemäss Ziff. 4 "Schuhwerk und orthopädische Fusseinlagen" des Anhangs zur Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (HVI) vergütet worden sind. Damit lässt sich der strittige Vergütungsanspruch auch nicht auf Art. 4 HVA abstützen, welcher eine Besitzstandsgarantie bei vorangehender Abgabe von Hilfsmitteln durch die IV beinhaltet. 
2.3 Zu prüfen bleibt, ob die Beschwerdegegnerin gestützt auf die Austauschbefugnis ("droit à la substitution de la prestation", "diritto alla sostituzione della prestazione"), wie sie in verschiedenen Sozialversicherungszweigen zur Anwendung kommt (BGE 127 V 123 Erw. 2a, 120 V 285 Erw. 4a, 292 Erw. 3c; vgl. auch BGE 126 III 351 Erw. 3c), von der AHV den strittigen Kostenbeitrag beanspruchen kann. 
2.3.1 Im zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil D. vom 19. April 2005, H 384/00, gelangte das Eidgenössische Versicherungsgericht zum Schluss, die ursprünglich in der iv-rechtlichen Hilfsmittelversorgung begründete (BGE 107 V 93) und später auf die (medizinischen) Massnahmen ausgedehnte Rechtsfigur der Austauschbefugnis (vgl. BGE 120 V 285 Erw. 4a, 292 Erw. 3c mit Hinweisen) gelange in Änderung der bisherigen Rechtsprechung auch im Bereich des ahv-rechtlichen Hilfsmittelanspruchs zur Anwendung. Der - wie in der IV - abschliessende Charakter der Hilfsmittelliste im Anhang der HVA bildet demnach keinen Grund, der Austauschbefugnis hier die Anwendung zu versagen. Vielmehr gebieten - bei im Wesentlichen gleicher normativer Ausgangslage auf der Stufe der formellen Gesetze (AHVG, IVG) - die Verhältnismässigkeit und die Rechtsgleichheit zur Erreichung der gesetzlichen Eingliederungsziele verfassungsrechtlich deren Berücksichtigung (erwähntes Urteil, Erw. 3.4.6 mit Hinweisen). Austauschbefugnis bedeutet dabei, dass die versicherte Person auf der Grundlage und nach Massgabe des Gesetzes mit einer Geldzahlung zu entschädigen ist, wenn sie aus schützenswerten Gründen von einem gesetzlichen Leistungsanspruch keinen Gebrauch macht und statt dessen einen funktionell gleichen Behelf zur Erreichung desselben gesetzlichen Zieles wählt. Der Kerngehalt der Austauschbefugnis liegt darin, dass es grundsätzlich ohne Bedeutung ist, auf welchem Weg oder durch welches Mittel das gesetzliche Ziel angestrebt wird (erwähntes Urteil, Erw. 3.2.1 mit Hinweisen). 
2.3.2 Die Beschwerdegegnerin leidet seit dem dritten Lebensjahr an den Folgen einer Poliomyelitis (Kinderlähmung). Laut Angaben des behandelnden Arztes Dr. med. K.________, Allgemeine Medizin FMH, (Berichte vom vom 9. Mai 1990 und 5. Dezember 1997), erforderte die krankheitsbedingte Beinlängendifferenz von anfänglich 18 cm mehrere operative Eingriffe, wobei aktuell eine Beinlängendifferenz von 2,5 cm bestehe und die Schuhgrössen um etwa zwei Nummern differieren würden. Als weitere Residuen nennt der behandelnde Arzt eine Muskelatrophie am gesamten rechten Bein, einen Spitzfuss und eine Hammerzehe der rechten Grosszehe sowie eine Ulnarisparese links. 
Im Dezember 1988 erlitt die Beschwerdegegnerin einen cerebrovaskulären Insult, was sie dazu zwang, ihre über Jahrzehnte hinweg trotz körperlichen Beeinträchtigungen ausgeübte selbstständige Erwerbstätigkeit als Wirtin aufzugeben. Seit 1. Dezember 1989 bezog sie - bei einem Invaliditätsgrad von 75 % - eine ganze Invalidenrente sowie eine iv-rechtliche Hilflosenentschädigung wegen leichter Hilflosigkeit (Präsidialbeschlüsse der IV-Kommission des Kantons Thurgau vom 26. November 1990, Verfügungen der Ausgleichskasse Warenhäuser, Zürich, vom 19. Februar 1991). Die entsprechenden Leistungen wurden in der Folge nach Lage der Akten revisionsweise mehrfach bestätigt, bevor das Amt für AHV und IV des Kantons Thurgau in der Mitteilung vom 12. Januar 1999 festhielt, ab 1. Januar 1998 bestehe ein Anspruch auf eine Hilflosentschädigung wegen Hilflosigkeit mittleren Grades, dies nachdem die Verwaltung die tatsächlichen Verhältnisse durch eine Mitarbeiterin (Frau B.________) hatte abklären lassen (Fragebögen vom 24. September 1998 betreffend Hilflosenentschädigung der IV und der AHV). Dabei ergab sich, dass die Beschwerdegegnerin für die Fortbewegung im Freien sowie im Rahmen der Pflege gesellschaftlicher Kontakte der regelmässigen und erheblichen Hilfe (direkter oder indirekter Art) bedarf, weil sie nach der Kinderlähmung und dem Hirnschlag nurmehr einen unsicheren Gang habe. Nach einem Sturz im Mai 1996, bei welchem die Beschwerdegegnerin Verletzungen an den oberen Extremitäten erlitten habe (mehrfacher Armbruch, Schulterverletzung), sei sie zudem nicht mehr in der Lage, ohne Hilfe den Zug zu besteigen. 
2.3.3 Angesichts der Spätfolgen der im Alter von drei Jahren durchgemachten Poliomyelitis (Berichte des Dr. med. K.________ vom 9. Mai 1990 und 5. Dezember 1997) sowie der Nachwirkungen des im Mai 1988 erlittenen cerebrovaskulären Insults, welche laut Angaben der Abklärungsperson der IV-Stelle insgesamt zu einem unsicheren Gang, einschliesslich entsprechender Hilfsbedürftigkeit, führen (Fragebögen vom 24. September 1998), hat die Beschwerdegegnerin für die Fortbewegung und Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt und für die Selbstsorge (vgl. Art. 2 Abs. 1 HVA) Anspruch auf Kostenvergütung für die in Ziff. 4.51 HVA-Anhang genannten orthopädischen Massschuhe und Serienschuhe. Die Beschwerdeführerin macht zu Recht nicht geltend, dass sich der leistungsbegründende medizinische Sachverhalt in der Zeit vom 15. Januar 1998 (Datum der Mitteilung, wonach dem ersten Gesuch um Kostenvergütung entsprochen werde) und der hier strittigen, abschlägigen Verwaltungsverfügung vom 9. Februar 2001 in wesentlicher Weise verändert hat oder dass die Leistungszusprechung im Januar 1998 unrechtmässig erfolgt ist. Art und Genese der die Fortbewegung zu Fuss betreffenden körperlichen Beeinträchtigungen legen nahe, dass im hier massgebenden Zeitpunkt (9. Mai 2001) wie bereits in den vorangehenden Jahren eine Hilfsmittelversorgung gemäss Ziff. 4.51 HVA-Anhang gesundheitsbedingt indiziert war. Indem die Beschwerdegegnerin im Februar 2001 durch P.________, eidg. dipl. Schuhmachermeister und seinerseits zugelassener Lieferant, mit invaliditätsbedingt abgeänderten Spezialschuhen versorgt wurde, hat sie von einem gesetzlichen Leistungsanspruch keinen Gebrauch gemacht und statt dessen einen funktionell gleichen Behelf mit demselben Eingliederungsziel - vorrangig ist dabei die verbesserte Fortbewegung - in Anspruch genommen. Gegenüber der Verwaltung hat der bereits im Rahmen der Versorgung mit orthopädischen Massschuhen im Jahre 1998 beauftragte Schumachermeister P.________ offenbar erklärt, er habe statt der medizinisch indizierten Versorgung mit orthopädischen Massschuhen durch abgeänderte Spezialschuhe eine kostengünstigere Lösung realisiert (handschriftliche Notiz vom 13. November 2000). Ob die Initiative hiefür allein vom Fachmann ausging und inwieweit die Beschwerdegegnerin am entsprechenden Entscheid beteiligt war, kann offen bleiben, da jedenfalls auf schützenswerte Beweggründe im Sinne der Rechtsprechung (Erw. 2.3.1 am Ende) zu erkennen ist. Damit sind die Voraussetzungen für die Anwendung der Austauschbefugnis im hier zu beurteilenden Fall erfüllt, weshalb der kantonale Entscheid, wonach gemäss Art. 2 Abs. 2 HVA 75 % der Rechnung vom 26. Oktober 2000 vergütet werden, im Ergebnis rechtens ist. 
3. 
Da Versicherungsleistungen strittig sind, ist das Verfahren kostenlos (Umkehrschluss aus Art. 134 OG). Der obsiegenden Beschwerdegegnerin sind letztinstanzlich keine Kosten verursacht worden, weshalb kein Anspruch auf eine Parteientschädigung besteht (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 2 OG). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben und keine Partenschädigung ausgerichtet. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 4. Mai 2005 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: