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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_317/2020  
 
 
Urteil vom 10. Februar 2021  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, vertreten durch Rechtsanwalt Serge Flury, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 16. April 2020 (VBE.2019.420). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1968 geborene A.________ meldete sich am 17. Dezember 2013 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau veranlasste eine polydisziplinäre Begutachtung (Expertise der MEDAS Interlaken Unterseen GmbH vom 5. Juli 2016) und sprach der Versicherten mit Verfügung vom 7. Dezember 2016 ab 1. Juli 2014 eine halbe Invalidenrente zu. Die dagegen erhobene Beschwerde zog A.________ wieder zurück, nachdem ihr das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Beschluss vom 21. Juni 2017 eine mögliche Schlechterstellung angedroht hatte. Am 16. August 2017 schrieb das Versicherungsgericht das Verfahren als durch Rückzug der Beschwerde erledigt von der Kontrolle ab.  
 
A.b. Die IV-Stelle liess die Versicherte rheumatologisch-psychiatrisch begutachten (Expertise vom 6. Februar 2019) und hob in der Folge die bisherige halbe Invalidenrente mit Verfügung vom 13. Mai 2019 auf das Ende des der Zustellung folgenden Monats auf.  
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 16. April 2020 ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________ die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids. Sie macht geltend, ihr seien die gesetzlichen Leistungen, mindestens eine halbe Rente, weiterhin auszurichten. 
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz die von der Verwaltung am 13. Mai 2019 verfügte Aufhebung der Invalidenrente zu Recht bestätigte.  
 
2.2. Nach Art. 53 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG kann der Versicherungsträger auf formell rechtskräftige Verfügungen, welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Überprüfung gebildet haben, zurückkommen, wenn diese nach damaliger Sach- und Rechtslage zweifellos unrichtig sind, und - was auf periodische Dauerleistungen regelmässig zutrifft (vgl. BGE 119 V 475 E. 1c S. 480) - ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Die Wiedererwägung im Sinne dieser Bestimmung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung einschliesslich unrichtiger Feststellung im Sinne der Würdigung des Sachverhalts, insbesondere bei einer klaren Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes. Zweifellose Unrichtigkeit meint dabei, dass kein vernünftiger Zweifel an der (von Beginn weg bestehenden) Unrichtigkeit der Verfügung möglich, also einzig dieser Schluss denkbar ist (BGE 138 V 324 E. 3.3 S. 328).  
 
Soweit ermessensgeprägte Teile der Anspruchsprüfung vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage einschliesslich der Rechtspraxis im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung in vertretbarer Weise beurteilt worden sind, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus (BGE 141 V 405 E. 5.2 S. 414 f.; Urteil 9C_766/2016 vom 3. April 2017 E. 1.1.2). Bei der Annahme zweifelloser Unrichtigkeit im Bereich der invaliditätsmässigen Leistungsvoraussetzungen ist daher Zurückhaltung geboten (Urteile 9C_994/2010 vom 12. April 2011 E. 3.2.1, in: SVR 2011 IV Nr. 71 S. 213; 9C_309/2017 vom 13. Juli 2017 E. 3.2 Abs. 2). Ansonsten würde die Wiedererwägung zum Instrument einer voraussetzungslosen Neuprüfung des Anspruchs, was sich nicht mit dem Wesen der Rechtsbeständigkeit formell zugesprochener Dauerleistungen verträgt (Urteil 9C_819/2017 vom 13. Februar 2018 E. 2.2 mit weiteren Hinweisen). 
 
2.3. Letztinstanzlich kann als Rechtsfrage frei überprüft werden, ob im angefochtenen Entscheid von einem bundesrechtskonformen Verständnis der zweifellosen Unrichtigkeit ausgegangen wurde. Die Feststellungen, die der entsprechenden Beurteilung zugrunde liegen, sind hingegen tatsächlicher Natur und folglich nur auf offensichtliche Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit hin überprüfbar (vgl. etwa Urteil 9C_394/2019 vom 27. August 2019 E. 3.3).  
 
3.   
 
3.1. Die Vorinstanz erachtete die der Verfügung vom 7. Dezember 2016 zugrunde liegenden Sachverhaltsabklärungen und Rechtsanwendungen als offensichtlich unrichtig, weshalb sie sie als zweifellos unrichtig qualifizierte. Sie stellte fest, gemäss damaliger Einschätzung der MEDAS-Experten im Gutachten vom 5. Juli 2016 sei die Beschwerdeführerin in ihrer angestammten Tätigkeit seit dem 18. Juli 2013 100 % arbeitsunfähig gewesen. In einer angepassten Tätigkeit habe indes eine Arbeitsfähigkeit von 50 %, bzw. 2 x 2 Stunden pro Tag oder einmal 4 Stunden pro Tag, bei einer Leistungsminderung von 25 % bestanden. Die Gutachter seien davon ausgegangen, dass nach einer Angewöhnungsphase schlussendlich keine Leistungsminderung mehr vorliegen würde. Weiter hielt das kantonale Gericht fest, Dr. med. B.________, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, Regionaler Ärztlicher Dienst (RAD), habe sich in seinem Bericht vom 15. Juli 2016 darauf beschränkt, die Ausführungen der MEDAS-Experten zu wiederholen. In retrospektiver Hinsicht sei die Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit somit unzureichend begründet gewesen.  
 
Darüber hinaus erkannte die Vorinstanz, dass Dr. med. C.________, Facharzt Rheumatologie und Allgemeine Innere Medizin, in seinem MEDAS-Teilgutachten die von ihm attestierte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit im Wesentlichen auf die subjektiven Schmerz- und Beschwerdeangaben der Versicherten gestützt habe, was den Anforderungen der Rechtsprechung (BGE 139 V 547 E. 9.4 S. 568; Urteil 8C_700/2016 vom 24. Januar 2017 E. 4.2) nicht genüge. 
 
3.2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, nebst dem MEDAS-Gutachten vom 5. Juli 2016 und dem Bericht des Dr. med. B.________ vom 15. Juli 2016, die sich beide mit der Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit befasst hätten, seien noch weitere medizinische Akten vorhanden gewesen, die das kantonale Gericht jedoch willkürlich nicht berücksichtigt habe. So habe Dr. med. B.________ am 15. Juli 2016 darauf hingewiesen, dass er bereits in seinem Bericht vom 20. Januar 2016 von einer 50%igen Arbeitsfähigkeit ausgegangen sei. Die Beschwerdeführerin bringt zudem vor, auch Dr. med. D.________, Fachärztin Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, sei in ihrem Gutachten vom 6. November 2013 zuhanden des Taggeldversicherers ab dem 1. Januar 2014 von einer Arbeitsfähigkeit von mindestens 50 % ausgegangen. Der von der Vorinstanz gezogene Schluss, eine retrospektive Einschätzung der Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit fehle, sei somit offensichtlich falsch.  
 
Ebenfalls sei laut Beschwerdeführerin auch die Annahme des kantonalen Gerichts, Dr. med. C.________ habe seine Arbeitsfähigkeitsschätzung im Wesentlichen in Anlehnung an die subjektiven Schmerzen und Beschwerdeangaben der Versicherten abgegeben, nachweislich nicht richtig. Insgesamt sei die damalige Rentenzusprache nicht offensichtlich unrichtig gewesen, weshalb die Voraussetzungen von Art. 53 Abs. 2 ATSG nicht erfüllt seien. Die Vorinstanz habe Bundesrecht verletzt. 
 
4.   
 
4.1. Wohl trifft mit der Vorinstanz zu, dass grundsätzlich eine auf keiner nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung der massgeblichen Arbeitsfähigkeit beruhende Invaliditätsbemessung nicht rechtskonform und die entsprechende Verfügung zweifellos unrichtig ist im wiedererwägungsrechtlichen Sinne (Urteil 9C_188/2020 vom 26. Mai 2020 E. 2.1 mit Hinweis). Diese Rechtsprechung ist hier jedoch nicht einschlägig.  
 
So lag der damaligen Verfügung vom 7. Dezember 2016 ein polydisziplinäres MEDAS-Gutachten vom 5. Juli 2016 zugrunde, das explizit (fachärztliche) Angaben zur Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit enthält (E. 3.1 oben). Das kantonale Gericht kam diesbezüglich zwar nicht offensichtlich unrichtig zum Schluss, dass sich weder die MEDAS-Gutachter noch Dr. med. B.________ im RAD-Bericht vom 15. Juli 2016 retrospektiv zur Arbeitsfähigkeit in Bezug auf eine angepasste Tätigkeit äusserten. Wie die Beschwerdeführerin jedoch richtig vorbringt, waren weitere fachärztliche Stellungnahmen aktenkundig - die im Übrigen auch Eingang in das MEDAS-Gutachten vom 5. Juli 2016 fanden - die bereits vor der Exploration im Juli 2016 bei der MEDAS von einer 50%igen Arbeitsfähigkeit der Versicherten in einer angepassten Tätigkeit berichteten (E. 3.2). Diese blieben im kantonalen Entscheid unberücksichtigt (zur Sachverhaltsergänzung durch das Bundesgericht vgl. BGE 143 V 177 E. 4.3 S. 188). Folglich kann beim Vorgehen der IV-Stelle, die bei der Rentenzusprache mit Verfügung vom 7. Dezember 2016 in Anlehnung an den RAD auf die gutachterliche Einschätzung der Arbeitsfähigkeit in leidensangepassten Tätigkeiten abstellte, jedenfalls nicht von einer offensichtlich unrichtigen Sachverhaltsabklärung gesprochen werden. 
 
4.2.  
 
4.2.1. Die Vorinstanz erkannte, Dr. med. C.________ habe in seinem rheumatologischen Teilgutachten im Wesentlichen die subjektiven Schmerz- und Beschwerdeangaben der Versicherten als Grund für seine Arbeitsfähigkeitsschätzung angeführt. Es ist aktenkundig, dass der Rheumatologe zwar die generalisierten Weichteilschmerzen und ein lumbospondylogenes Schmerzsyndrom bei der Versicherten als im Vordergrund stehend erachtete. Wie die Beschwerdeführerin allerdings zutreffend geltend macht, erhob Dr. med. C.________ auch funktionelle Beeinträchtigungen, die er bei den Diagnosen mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit aufführte. Er berichtete explizit von Einschränkungen sowohl an der Lendenwirbelsäule als auch im Bereich der linken unteren Extremität mit einer deutlichen Einschränkung der Hüftgelenkbeweglichkeit und einer Fehlhaltung/Fehlstellung des linken Kniegelenkes infolge einer Beinlängendifferenz. Hinzu kommt, dass er eine ausgeprägte linkskonvexe Torsionsskoliose sowie bildgebend eine Mehretagendegeneration ermittelte. Im Weiteren gab Dr. med. C.________ an, dass eine deutliche Reduktion der zumutbaren Belastbarkeit des Achsenskelettes bzw. der unteren Extremitäten bestehe.  
 
4.2.2. Das rheumatologische Gutachten war Teil der MEDAS-Expertise, die darüber hinaus neurologische und insbesondere auch psychiatrische Untersuchungen enthielt, die, wie von der Rechtsprechung gefordert, in einem Konsensualverfahren in eine Gesamtschätzung der Arbeitsfähigkeit mündeten. Mit Blick auf das Gesagte kann von einer damaligen unrichtigen Rechtsanwendung durch die IV-Stelle nicht die Rede sein.  
 
5.   
 
5.1. Insgesamt kann bei der Rentenzusprache mit Verfügung vom 7. Dezember 2016 bei der damals gegebenen Aktenlage und unter Berücksichtigung der gebotenen Zurückhaltung hinsichtlich der für die Berentung massgeblichen, mit einem gewissen Ermessen verbundenen Bewertung der Arbeitsfähigkeit weder eine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsabklärung noch eine sonstige Rechtsverletzung (vgl. E. 2.2 oben) ausgemacht werden. Bei dieser Sachlage scheidet die Wiedererwägung als Rückkommenstitel aus (vgl. auch BGE 141 V 405 E. 5.3 S. 415).  
 
5.2. Dass die Rente allenfalls nach Art. 17 Abs. 1 ATSG revidiert werden könnte, wird von der IV-Stelle nicht geltend gemacht und ist in Anlehnung an das von der Vorinstanz herangezogene bidisziplinäre Gutachten des Dr. med. E.________, Facharzt für Rheumatologie und Innere Medizin, und des PD Dr. F.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 6. Februar 2019 auch nicht ersichtlich.  
 
6.   
Nach dem Gesagten bleibt es bei der bisherigen Rente; die Beschwerde ist begründet. Mit der Aufhebung des angefochtenen Entscheids und der (inhaltlich mitangefochtenen, vgl. etwa Urteil 9C_385/2017 vom 21. August 2017 E. 1) Verfügung vom 13. Mai 2019 hat es sein Bewenden. 
 
7.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 16. April 2020 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 13. Mai 2019 werden aufgehoben. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Migros-Pensionskasse, Schlieren, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 10. Februar 2021 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber