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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_422/2011 
 
Urteil vom 19. September 2011 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann, 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Serge Flury, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 1. März 2011. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Der 1957 geborene A.________ meldete sich im Februar 2004 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau sprach ihm orthopädische Serienschuhe als Hilfsmittel zu. Im Mai 2004 ersuchte A.________ des Weitern um Arbeitsvermittlung und eine Rente. Die IV-Stelle verneinte beide Ansprüche (Verfügungen vom 30. September 2008). 
 
B. 
Die von A.________ mit dem Antrag auf Aufhebung der Verfügungen und Zusprechung der gesetzlichen Leistungen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 1. März 2011 teilweise gut. Es hob die Verfügung vom 30. September 2008 betreffend berufliche Massnahmen auf und wies die Sache zu deren Durchführung an die IV-Stelle zurück. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab. 
 
C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben, soweit der Anspruch auf eine Invalidenrente abgewiesen werde, und es sei ihm eine Viertelsrente zuzusprechen. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Die Vorinstanz lässt sich in ablehnendem Sinne vernehmen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Die Behebung des Mangels muss für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). 
 
2. 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Viertelsrente der Invalidenversicherung und in diesem Zusammenhang der Grad der Arbeitsunfähigkeit. 
 
2.1 In ihrem Gutachten vom 24. Juni 2007 hatten die Ärzte der Klinik X.________ auf die Frage, wie viele Stunden pro Tag der Versicherte in einer körperlich leichten bis mittelschweren Tätigkeit arbeitsfähig sei, ausgeführt, dass eine schrittweise Steigerung der Arbeitsfähigkeit unter intensiver psychiatrischer und hausärztlicher Behandlung auf 70-80 % (6-7 Stunden täglich) mit zwei zusätzlichen Pausen möglich und zumutbar sei. Des Weitern bejahten sie die Frage, ob dabei eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit bestehe, und bezifferten diese mit "langfristig [...] 30 % durch das etwas langsamere Arbeitstempo und den Bedarf von vermehrten Pausen wegen Müdigkeit". 
Als der Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren vorbrachte, die gutachterlichen Ausführungen seien dahingehend zu verstehen, dass die festgestellte 70%ige zeitliche Arbeitsfähigkeit zusätzlich um 30 % eingeschränkt sei, was eine Arbeitsfähigkeit von 49 % ergebe, sah sich der kantonale Instruktionsrichter veranlasst, der Klinik X.________ am 4. Januar 2011 folgende Fragen zu unterbreiten: "Ist bei der aktuellen Arbeitsfähigkeit (4 ¼ Std. täglich) bzw. bei der verbesserten Arbeitsfähigkeit (6-7 Std. täglich) durchwegs zusätzlich noch eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit von 30 % zu berücksichtigen? Oder ist das Ergebnis des Gutachtens so zu verstehen, dass die Arbeits- bzw. Leistungsfähigkeit langfristig insgesamt als zu 30 % eingeschränkt zu betrachten sei?". Mit Schreiben vom 28. Januar 2011 antwortete die Klinik X.________: "Die Arbeitsfähigkeit ist insgesamt als 30 % eingeschränkt zu beurteilen." 
 
2.2 Nach Würdigung der medizinischen Akten, insbesondere des Gutachtens vom 24. Juni 2007 und der ergänzenden Auskunft vom 28. Januar 2011, ging die Vorinstanz in ihrem Entscheid davon aus, dass der Beschwerdeführer in der Lage sei, eine leidensangepasste Tätigkeit im Umfang von 70-80 %, mithin zu 75 %, auszuüben. Gestützt auf die Schweizerische Lohnstrukturerhebung (LSE) 2008 (auf das konkret erzielte Einkommen konnte nicht abgestellt werden, weil es nicht dem Gegenwert der Arbeitsleistung entsprach und die Restarbeitsfähigkeit nicht ausgeschöpft wurde) ermittelte sie ein Einkommen von Fr. 44'984.- pro Jahr (75 % von Fr. 59'978.- [Fr. 4'806.- pro Monat, aufgerechnet auf ein Jahr und die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 41,6 Std.]). Nach der Gegenüberstellung mit dem unbestritten gebliebenen Valideneinkommen von Fr. 72'686.- gelangte sie zu einem rentenausschliessenden Invaliditätsgrad von gerundet 38 %. 
 
2.3 Der Beschwerdeführer macht geltend, die vorinstanzliche Feststellung einer Arbeits- und Erwerbsfähigkeit von 75 % sei offensichtlich unrichtig, nachdem die Gutachter der Klinik X.________ am 28. Januar 2011 klar eine Einschränkung von insgesamt 30 % festgehalten hätten, was nichts anderes heisse, als dass die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit unter Berücksichtigung der Zeit- und der Leistungskomponente 70 % (statt 75 %) betrage. Aufgrund der eindeutigen Aktenlage, insbesondere mit Blick auf die bei den Gutachtern der Klinik X.________ nachträglich eingeholte Auskunft, sei es willkürlich, zu einem anderen Schluss zu gelangen; die gutachterlichen Angaben würden im Resultat ganz offensichtlich unterdrückt. Dies müsse insbesondere auch deshalb gelten, weil die Vorinstanz keinen leidensbedingten Abzug vom Invalideneinkommen vornehme. Bei einer Erwerbsfähigkeit von 70 % resultiere ein Invalideneinkommen von Fr. 40'370.40, welches nach Gegenüberstellung mit dem unbestrittenen Valideneinkommen von Fr. 72'686.- zu einem Invaliditätsgrad von (gerundet) 44 % führe. 
 
2.4 Entgegen den Vorbringen in der Beschwerde ist es nicht offensichtlich unrichtig, wenn die Vorinstanz auch nach Kenntnis der präzisierenden Stellungnahme der Klinik X.________ vom 28. Januar 2011 von einer Arbeitsfähigkeit von 75 % (als Mittelwert zwischen 70 und 80 %; Urteil 9C_280/2010 vom 12. April 2011 E. 4.2, nicht publ. in: BGE 137 V 71, aber in: Pra 2011 Nr. 91 S. 651; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 822/04 vom 21. April 2005 E. 4.4) ausgeht. Denn das Schreiben der Klinik X.________ kann mit Blick auf die Fragestellung, welche zusammengefasst lautet, ob die Einschränkung von 30 % zusätzlich zu veranschlagen ist, nicht als Korrektur der ursprünglichen Arbeitsfähigkeitsschätzung von "70-80 %" auf 70 % betrachtet werden. Bundesrechtswidrig ist es allerdings, wenn die Vorinstanz für die sich aus dem Gutachten vom 24. Juni 2007 ergebenden lohnmindernden Faktoren - das langsamere Arbeitstempo und den Bedarf von vermehrten Pausen wegen Müdigkeit - entgegen der Rechtsprechung (Urteil 9C_324/2008 vom 6. Januar 2009 E. 3.2.3 in fine, I 742/06 vom 18. Mai 2007 E. 4.2) keinen leidensbedingten Abzug vornimmt (vgl. BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 9C_728/2009 vom 21. September 2010 E. 4.1.2, in: SVR 2011 IV Nr. 31 S. 90). Wird der Abzug mit nur gerade 5 % veranschlagt, was zu einem Invalideneinkommen von Fr. 42'735.- führt, ergibt sich mit 41,2 % bereits ein die Erheblichkeitsschwelle von 40 % übersteigender Invaliditätsgrad und damit der Anspruch auf eine Viertelsrente (Art. 28 Abs. 2 IVG in der seit 1. Januar 2008 geltenden bzw. Art. 28 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Fassung). Ein solcher resultiert im Übrigen auch bei Gewährung eines vorliegend maximal gerechtfertigten Abzugs von 15 % (Invalideneinkommen von Fr. 33'738.-; Invaliditätsgrad von 46 %), wobei dem Beschwerdeführer auch nicht mehr hätte zugesprochen werden können (Art. 107 Abs. 1 BGG). 
 
2.5 Zum selben Ergebnis (Anspruch auf eine Viertelsrente) gelangt man bei Berücksichtigung des langsameren Arbeitstempos und der Notwendigkeit zusätzlicher Pausen im Rahmen des medizinischen Zumutbarkeitsprofils, d.h. bei Zugrundelegung einer entsprechend verminderten Arbeitsfähigkeit von 70 % (vgl. auch Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes [RAD] vom 23. Mai 2008), alsdann ohne Vornahme eines leidensbedingten Abzuges, weil den genannten gesundheitlichen Einschränkungen ansonsten doppelt Rechnung getragen würde (Urteil 8C_261/2011 vom 5. Juli 2011 E. 7.3, 8C_530/2010 vom 24. Januar 2011 E. 4.2). Dieser Weg führt zu einem Invalideneinkommen von Fr. 41'985.- (70 % von Fr. 59'978.-; vgl. E. 2.2) und damit ebenfalls zu einem den Anspruch auf eine Viertelsrente begründenden Invaliditätsgrad (42 %). 
 
2.6 Zur Festsetzung von Beginn und Höhe der dem Beschwerdeführer nach dem Gesagten zustehenden Viertelsrente ist die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen. 
 
3. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat dem obsiegenden Beschwerdeführer überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 1. März 2011, soweit er den Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung betrifft, und die Rentenverfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 30. September 2008 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Viertelsrente der Invalidenversicherung hat. Die Sache wird zur Festsetzung von Rentenbeginn und -höhe an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der AHV-Ausgleichskasse des Schreiner-, Möbel- und Holzgewerbes und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 19. September 2011 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Meyer 
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann