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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 733/04 
 
Urteil vom 13. Mai 2005 
II. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin Schüpfer 
 
Parteien 
M.________, 1948, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Gabi Kink, Sonnengut 4, 5620 Bremgarten AG, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdegegnerin 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau 
 
(Entscheid vom 29. September 2004) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1948 in Jugoslawien geborene, als Bauarbeiter bei einer Temporärfirma tätige M.________ meldete sich am 15. März 2001 wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau nahm unter anderem verschiedene medizinische Berichte zu den Akten und gab bei der Klinik X.________ ein Gutachten in Auftrag, welches Dr. med. H.________, Chefärztin Psychosomatik, am 19. März 2003 erstattete. Mit Verfügung vom 17. Oktober 2003 sprach die IV-Stelle dem Versicherten basierend auf einem Invaliditätsgrad von 57 % ab 1. Juni 2001 eine halbe Invalidenrente nebst Zusatzrente für die Ehefrau und eine Kinderrente zu. Auf Einsprache hin legte sie den Rentenbeginn neu auf den 1. März 2001 und hielt im Übrigen an der Verfügung fest (Entscheid vom 20. Februar 2004). 
B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 29. September 2004 ab. 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt M.________ beantragen, es sei ihm in Aufhebung des kantonalen Entscheides ab 1. März 2001 eine ganze Rente nebst Zusatzrenten zuzusprechen, eventuell sei die Sache zur weiteren Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Weiter beantragt er die unentgeltliche Verbeiständung. 
 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Invalidenrente. 
 
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen über die Begriffe der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG) und der Invalidität (Art. 8 ATSG), den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG, je in der bis 31. Dezember 2003 und ab 1. Januar 2004 geltenden Fassung), die Invaliditätsbemessung nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG; BGE 128 V 32 Erw. 4a) sowie die Grundsätze über die Aufgaben des Arztes (BGE 115 V 134, vgl. auch 105 V 158 Erw. 1 in fine) und den Beweiswert eines Arztberichtes (BGE 122 V 160, siehe auch 125 V 352 Erw. 3) zutreffend dargelegt. Es wird darauf verwiesen. Das Gleiche gilt für den Umstand, dass bei der Prüfung eines schon vor dem In-Kraft-Treten des ATSG auf den 1. Januar 2003 entstandenen Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung die allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln heranzuziehen sind, gemäss welchen grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten. Demzufolge ist ab einem eventuellen Rentenbeginn bis Ende 2003 die Anspruchsberechtigung unter dem Gesichtspunkt der bis dahin geltenden Fassung des IVG, ab 1. Januar 2004 bis zum Erlass des Einspracheentscheides unter jenem der 4. IV-Revision zu beurteilen (vgl. BGE 130 V 445 Erw. 1 mit Hinweisen). 
2. 
Einig sind sich die Parteien, dass die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers ab dem relevanten Zeitpunkt des Rentenbeginns (BGE 129 V 222) einzig durch psychische Faktoren limitiert ist. 
2.1 Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit können in gleicher Weise wie körperliche Gesundheitsschäden eine Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 ATSG bewirken. Nicht als Folgen eines psychischen Gesundheitsschadens und damit invalidenversicherungsrechtlich nicht als relevant gelten Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit, welche die versicherte Person bei Aufbietung allen guten Willens, die verbleibende Leistungsfähigkeit zu verwerten, abwenden könnte; das Mass des Forderbaren wird dabei weitgehend objektiv bestimmt (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 298 Erw. 4c in fine). Die Annahme eines psychischen Gesundheitsschadens, so auch einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, setzt zunächst eine fachärztlich (psychiatrisch) gestellte Diagnose nach einem wissenschaftlich anerkannten Klassifikationssystem voraus (BGE 130 V 398 ff. Erw. 5.3 und Erw. 6). Wie jede andere psychische Beeinträchtigung begründet indes auch eine diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche noch keine Invalidität. Vielmehr besteht eine Vermutung, dass die somatoforme Schmerzstörung oder ihre Folgen mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sind. Bestimmte Umstände, welche die Schmerzbewältigung intensiv und konstant behindern, können den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess unzumutbar machen, weil die versicherte Person alsdann nicht über die für den Umgang mit den Schmerzen notwendigen Ressourcen verfügt. Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, entscheidet sich im Einzelfall anhand verschiedener Kriterien. Im Vordergrund steht die Feststellung einer psychischen Komorbidität von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer. Massgebend sein können auch weitere Faktoren, so: chronische körperliche Begleiterkrankungen; ein mehrjähriger, chronifizierter Krankheitsverlauf mit unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne länger dauernde Rückbildung; ein sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens; ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr beeinflussbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn; "Flucht in die Krankheit"); das Scheitern einer konsequent durchgeführten ambulanten oder stationären Behandlung (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) trotz kooperativer Haltung der versicherten Person (BGE 130 V 352). Je mehr dieser Kriterien zutreffen und je ausgeprägter sich die entsprechenden Befunde darstellen, desto eher sind - ausnahmsweise - die Voraussetzungen für eine zumutbare Willensanstrengung zu verneinen (Erwägung 1.2 des zur Veröffentlichung bestimmten Urteils J. vom 16. Dezember 2004, I 770/03 mit Hinweisen). 
2.2 Im Gutachten vom 19. März 2003 stellt Dr. med. H.________ folgende Diagnosen mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit : 
- chronisches multilokuläres Schmerzsyndrom mit/bei somatoformer Störung mit ausgepägter Symptomausweitung ICD-10 F45.4, F54 
- gemischte dissoziative Störung ICD-10 F44.7 bei histrionischer Persönlichkeitsstruktur 
- subsyndromale posttraumatische Belastungsstörung ICD-10 F43.1 
- Anpassungsstörung mit ängstlichen und depressiven Anteilen ICD-10 F43.22. 
 
Dabei stehe das auffällige Schmerzverhalten mit Weinkrämpfen, Selbstlimitierung bei fehlendem somatischem Korrelat im Sinne einer gemischten dissoziativen Störung (IDC-10 F44.7) im Vordergrund. Bei dissoziativer Symptomatik stelle sich die gutachterliche Frage, inwiefern der Patient nicht wollen könne (krankheitsbedingtes Fehlen des Willens, bewusstseinsferner Prozess) und wie weit er nicht können wolle (bewusste Aggravation, bewusstseinsnaher Anteil). Üblicherweise liege bei dieser Diagnose eine Mischung beider Komponenten vor. Durch die krankheitsbedingten, bewusstseinsfernen Anteile an der Symptomatik - einschliesslich der depressiven- und Angstsymptomatik leichten Grades - werde die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit beim Beschwerdeführer auf 50 % geschätzt. Zusätzlich sei diese aber durch erhebliche soziale Risikofaktoren eingeschränkt. Der als Hausarzt fungierende Rheumatologe Dr. med. A.________ schliesst eine Aggravation und eine Wiederaufnahme irgendeiner Erwerbstätigkeit aus. Auch der den Beschwerdeführer behandelnde Dr. med. S.________, Oberarzt am Externen Psychiatrischen Dienst (EPD), attestiert - bei praktisch gleichen Diagnosen - aus psychiatrischer Sicht eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit, wobei er eine 3 bis 4-stündige Beschäftigung im geschützten Rahmen als sinnvoll erachtet. 
2.3 Wie die Vorinstanz überzeugend ausgeführt hat, liegt beim Beschwerdeführer eine psychische Komorbidität, insbesondere in Form einer dissoziativen Störung auf der Grundlage einer histrionisch strukturierten Persönlichkeit vor, bei welchem es sich um ein selbstständiges, vom psychogenen Schmerzsyndrom losgelöstes Leiden handelt. Die bisherigen ambulanten und stationären Behandlungen konnten das Krankheitsbild nicht günstig beeinflussen. Im Gutachten von Dr. H.________ wird ein praktisch vollständiger sozialer Rückzug geschildert. Der Patient verbringe ungefähr die Hälfte des Tages im Bett und verlasse die Wohnung nicht ohne Begleitung. Andererseits wird ebenfalls beschrieben, dass beispielsweise das Gangbild und das Bewegungsverhalten deutlich weniger gestört seien, wenn er sich unbeobachtet glaubt. Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass ein Ausnahmefall gegeben ist, bei dem die Ausrichtung von Rentenleistungen bei Vorliegen einer somatoformen Schmerzstörung gerechtfertigt erscheint. 
3. 
3.1 Der Beschwerdeführer rügt am Gutachten von Frau Dr. H.________, auf welches die Vorinstanz insbesondere auch im Hinblick auf die als zumutbar attestierte Arbeitsfähigkeit abgestellt hatte, es sei nicht umfassend, weil darin nicht ausgeführt werde, welche Tätigkeiten er in welchem zeitlichen Ausmass noch verrichten könne. Der behandelnde Psychiater, Dr. med. S.________, erachte einzig eine stundenweise bis halbtägige Beschäftigung an einem geschützten Arbeitsplatz als zumutbar und sinnvoll. 
3.2 Dem kann nicht gefolgt werden. Da die Einschränkung, wie auch der Beschwerdeführer selbst annimmt, einzig in den beschriebenen psychischen Diagnosen zu finden ist, kann er die attestierte Arbeitsfähigkeit in jeder körperlich zumutbaren, d.h. insbesondere einer einfachen leichten Tätigkeit verwerten. Da psychosoziale Komponenten aus invalidenversicherungsrechtlicher Sicht ausser Betracht zu fallen haben (vgl. BGE 127 V 294), besteht kein Grund, warum einzig eine Stelle in einer geschützten Werkstätte in Frage kommen soll. Im Gutachten von Frau Dr. med. H.________, welches entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers den rechtsprechungsgemässen Kriterien (BGE 125 V 352 Erw. 3, 122 V 160 Erw. 1c) vollumfänglich entspricht, wird überzeugend ausgeführt, warum seine Arbeitsfähigkeit zu 50 % und - unter Ausschluss der erheblichen sozialen Faktoren - nicht mehr eingeschränkt ist. Eine entsprechende Differenzierung hat Dr. S.________ nicht vorgenommen. Es besteht daher keine Veranlassung für eine erneute psychiatrische Begutachtung. 
4. 
Auch hinsichtlich der Ermittlung des Invaliditätsgrades kann auf die richtigen und umfassenden Ausführungen im kantonalen Entscheid verwiesen werden. Sie wird denn auch vom Beschwerdeführer nicht grundsätzlich bestritten. Er argumentiert einzig damit, dass als Invalideneinkommen nur ein solches Berücksichtigung finden könne, welches in einer geschützten Werkstätte erzielt werde. Dass dem nicht gefolgt werden kann, wurde bereits ausgeführt (Erwägung 3). Die vorinstanzliche Bemessung kann sogar als grosszügig beurteilt werden, als sie vom Tabellenlohn gemäss den Durchschnittszahlen des Bundesamtes für Statistik (LSE) einen Abzug in der Maximalhöhe (vgl. BGE 126 V 75) von 25 % vornahm. Dem kann aber insofern noch zugestimmt werden, als dabei auch berücksichtigt wurde, dass der Beschwerdeführer bereits als Gesunder einen erheblich unter den Durchschnittswerten liegenden Lohn verdient hatte. Die vorinstanzliche Invaliditätsbemessung erweist sich demnach auch in dieser Hinsicht als rechtmässig. 
5. 
Dem Begehren um unentgeltliche Verbeiständung (Art. 152 Abs. 2 OG) kann entsprochen werden, weil die Bedürftigkeit auf Grund der eingereichten Unterlagen ausgewiesen ist, die Beschwerde zwar als unbegründet, aber nicht als aussichtslos zu bezeichnen ist und die Vertretung geboten war (BGE 124 V 309 Erw. 6). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu im Stande ist. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwältin Gabi Kink für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung (Honorar und Auslagenersatz) von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Caisse AVS de la Fédération Patronale Vaudoise, Paudex, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 13. Mai 2005 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der II. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: 
 
i.V.