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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
1B_14/2018  
 
 
Urteil vom 31. Januar 2018  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, Präsident, 
Bundesrichter Fonjallaz, Kneubühler, 
Gerichtsschreiber Stohner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bernhard Isenring, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl, 
Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8036 Zürich. 
 
Gegenstand 
Haftentlassungsgesuch, 
 
Beschwerde gegen die Präsidialverfügung des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, 
vom 22. Dezember 2017 (SB170201-O/Z10/js). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Das Bezirksgericht Zürich verurteilte A.________ am 22. März 2017 wegen Erpressung, ungetreuer Geschäftsbesorgung, Geldwäscherei sowie mehrfacher grober und einfacher Verletzung der Verkehrsregeln zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 3½ Jahren, einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen und einer Busse von Fr. 400.--. Vor Schranken meldete A.________ gegen das Urteil Berufung an. Mit Berufungserklärung vom 24. Mai 2017 wendet sich A.________ insbesondere gegen die Schuldsprüche, bezüglich welcher eine Freiheitsstrafe ausgefällt wurde, und damit einhergehend gegen das Strafmass. Zugleich stellte A.________ einen Antrag auf vorzeitigen Strafantritt, welchem am 7. Juni 2017 stattgegeben wurde. Die Staatsanwaltschaft erhob am 5. Juli 2017 Anschlussberufung, welche auf die Strafzumessung beschränkt ist. Das Berufungsverfahren ist vor dem Obergericht des Kantons Zürich hängig. 
Das Bezirksgericht eröffnete das erstinstanzliche Urteil am 5. April 2017 mündlich und versetzte A.________ in Sicherheitshaft. Am 7. April 2017 stellte A.________ ein Haftentlassungsgesuch. Das Bezirksgericht wies dieses am 10. April 2017 ab und leitete es dem Zwangsmassnahmengericht des Bezirks Zürich zum Entscheid weiter, welches das Gesuch am 20. April 2017 ebenfalls abwies. Am 11. Mai 2017 wies das Obergericht die Beschwerde von A.________ gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts ab. Dieser Entscheid wurde vom Bundesgericht mit Urteil vom 6. Juli 2017 bestätigt (Verfahren 1B_236/2017). 
 
B.   
Mit Eingabe vom 13. Dezember 2017 stellte A.________ ein Gesuch um Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug respektive aus der Sicherheitshaft. Das Obergericht wies das Gesuch mit Präsidialverfügung vom 22. Dezember 2017 ab. 
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 12. Januar 2018 beantragt A.________, diesen Entscheid des Obergerichts aufzuheben und ihn - allenfalls unter Anordnung von Ersatzmassnahmen - aus dem vorzeitigen Strafvollzug respektive aus der Sicherheitshaft zu entlassen oder eventuell die Sache ans Obergericht zu neuer Entscheidung zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verteidigung. 
Das Obergericht verzichtet auf Vernehmlassung. Die Staatsanwaltschaft hat sich nicht vernehmen lassen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Gegen den kantonal letztinstanzlichen Haftentscheid des Obergerichts ist die Beschwerde in Strafsachen gegeben (Art. 78 Abs. 1 i.V.m. Art. 80 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdeführer ist zur Beschwerde berechtigt (Art. 81 Abs. 1 BGG), zumal er am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und als direkt betroffener Adressat des angefochtenen Entscheids ein rechtlich geschütztes Interesse an dessen Änderung bzw. Aufhebung hat.  
 
1.2. Der angefochtene Entscheid betrifft Zwangsmassnahmen im Sinne von Art. 196 ff. StPO. Die Auslegung und Anwendung der in der StPO geregelten Voraussetzungen für Grundrechtsbeschränkungen prüft das Bundesgericht mit freier Kognition (Art. 95 lit. a BGG). Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 135 I 71 E. 2.5 S. 73 f.).  
 
2.   
Der vorzeitige Strafantritt (Art. 236 StPO) stellt seiner Natur nach eine strafprozessuale Zwangsmassnahme auf der Schwelle zwischen Strafverfolgung und Strafvollzug dar (BGE 133 I 270 E. 3.2.1 S. 277). Für eine Fortdauer der strafprozessualen Haft in den Modalitäten des vorzeitigen Strafvollzugs muss weiterhin ein besonderer Haftgrund vorliegen und die Haftdauer hat verhältnismässig zu sein (vgl. BGE 143 I 241 E. 3.5 S. 246). 
Der Beschwerdeführer stellt den dringenden Tatverdacht aufgrund des erstinstanzlichen Urteils nicht in Frage. Hingegen bestreitet er das Vorliegen des besonderen Haftgrunds der Fluchtgefahr. Ausserdem beantragt er Ersatzmassnahmen im Sinne von Art. 237 ff. StPO; als mildere Massnahme falle insbesondere eine Pass- und Schriftensperre in Betracht. 
 
3.  
 
3.1. Die Annahme von Fluchtgefahr setzt ernsthafte Anhaltspunkte dafür voraus, dass die beschuldigte Person sich dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion durch Flucht entziehen könnte (Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts braucht es für die Annahme von Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich die beschuldigte Person, wenn sie in Freiheit wäre, dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Im Vordergrund steht dabei eine mögliche Flucht ins Ausland, denkbar ist jedoch auch ein Untertauchen im Inland (Urteil 1B_8/2016 vom 25. Januar 2016 E. 3.1). Die Schwere der drohenden Sanktion darf zwar als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände des betreffenden Falls, insbesondere die gesamten Lebensverhältnisse der beschuldigten Person, in Betracht gezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62; 117 Ia 69 E. 4a S. 70; je mit Hinweisen). So ist es geboten, die familiären und sozialen Bindungen des Häftlings, dessen berufliche Situation und Schulden sowie Kontakte ins Ausland und Ähnliches mitzuberücksichtigen.  
 
3.2. Mit Urteil 1B_236/2017 vom 6. Juli 2017 erwog das Bundesgericht, die Schwere der drohenden Freiheitsstrafe stelle einen erheblichen Fluchtanreiz dar (E. 2.3). Weiter führte das Bundesgericht zusammenfassend aus, es sei unbestritten, dass der Beschwerdeführer in der Schweiz gut verankert bzw. fest etabliert sei: Er sei in Deutschland geboren worden, im Alter von drei Jahren in die Schweiz gekommen, habe hier die kaufmännische Lehre gemacht und bei verschiedenen Firmen als Buchhalter und EDV-Verantwortlicher gearbeitet. Er habe hier ein Haus gekauft und seine beiden erwachsenen Töchter sowie seine Mutter und sein Bruder lebten hier. Das wirtschaftliche Fortkommen des Beschwerdeführers in der Schweiz erscheine allerdings unsicher. Er sei zuletzt vor seiner Verhaftung selbständig als Buchhalter und EDV-Berater tätig gewesen und habe nach eigenen Angaben zwischen 4'000 und 5'000 Franken pro Monat verdient. Vermögen habe er nicht, sondern hohe Schulden: Laut erstinstanzlichem Urteil schulde er dem Staat 1,3 Mio. Franken und der Privatklägerschaft 1,8 Mio. Franken. Der Beschwerdeführer könne daher durchaus ernsthaft versucht sein, sich diesen Verbindlichkeiten und der weiteren Strafverfolgung durch Flucht zu entziehen. Dies umso mehr, als er sich auch schon im Ausland aufgehalten habe, seine Freundin in Brasilien lebe und seine Erwerbstätigkeit als Buchhalter und EDV-Berater nicht an die Schweiz gebunden sei. Denkbar wäre auch eine Flucht nach Deutschland, wo er sich als deutsch-schweizerischer Doppelbürger vor einer Auslieferung sicher fühlen könnte. Dazu komme, dass er über den Verbleib der nach Auffassung des Bezirksgerichts deliktisch erworbenen Vermögenswerte von 1,8 Mio. Franken keine Auskunft geben wolle, sodass damit zu rechnen sei, dass er darauf Zugriff habe und sie zum Aufbau einer neuen Existenz verwenden könnte. Die Beurteilung des Obergerichts, dass unter diesen Umständen Fluchtgefahr bestehe, sei keineswegs bundesrechtswidrig, sondern dränge sich geradezu auf (E. 2.4).  
 
3.3. Die Vorinstanz hat in der angefochtenen Präsidialverfügung auf die bundesgerichtliche Begründung im Urteil 1B_236/2017 vom 6. Juli 2017 verwiesen und festgehalten, es sei nur, aber immerhin zu prüfen, ob die vom Beschwerdeführer geltend gemachten, seither eingetretenen Veränderungen - keine deutsche Staatsbürgerschaft gemäss Bestätigung des deutschen Bundesverwaltungsamts, Beziehung zur in Brasilien lebenden Freundin beendet (vgl. hierzu auch E. 3.4 hiernach) - eine andere Beurteilung rechtfertigten.  
Die Vorinstanz hat erwogen, es werde vom Beschwerdeführer bloss behauptet und nicht belegt, dass die Beziehung zu seiner in Brasilien lebenden Freundin mittlerweile nicht mehr bestehe. Die einzig relevante Veränderung zur früheren Beurteilung des Bundesgerichts im Urteil 1B_236/2017 vom 6. Juli 2017 bestehe darin, dass der Beschwerdeführer nicht deutsch-schweizerischer Doppelbürger sei, sondern einzig die schweizerische Staatsbürgerschaft besitze. Allerdings habe der Beschwerdeführer offenbar während einer gewissen Zeit in Deutschland gelebt, habe er doch anlässlich einer Einvernahme vom 21. Januar 2016 ausgesagt, eine deutsche Aufenthaltsbewilligung und einen deutschen Führerausweis zu besitzen, weil er den Schweizer Ausweis habe abgeben müssen, als er nach Deutschland gezogen sei. Zudem lebe die Ex-Frau des Beschwerdeführers in Thailand. Dieser habe selbst angegeben, ihr (im Rahmen des Scheidungsverfahrens) 300'000 Franken überwiesen zu haben. Vor diesem Hintergrund sei nach wie vor von Fluchtgefahr auszugehen. Mildere Ersatzmassnahmen (wie namentlich eine Pass- und Schriftensperre) seien nicht ersichtlich. Die Ausreise - zumindest - in das Schengen-Ausland sei ohne Reisepapiere ohne Weiteres zu bewerkstelligen. 
 
3.4. Der Beschwerdeführer bringt vor, seit der letzten Beurteilung durch das Bundesgericht mit Urteil 1B_236/2017 vom 6. Juli 2017 seien wesentliche Veränderungen eingetreten, welchen die Vorinstanz nur unzureichend Rechnung getragen habe. So sei er anerkanntermassen ausschliesslich Schweizer Staatsangehöriger. Zudem sei die Beziehung zu seiner in Brasilien lebenden Freundin beendet.  
Die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, wonach er zeitweise in Deutschland gelebt und seiner Ex-Frau in Thailand 300'000 Franken überwiesen hat, werden vom Beschwerdeführer hingegen nicht bestritten. 
 
3.5. Der Beschwerdeführer wurde erstinstanzlich unter anderem zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 3½ Jahren verurteilt, wobei die Staatsanwaltschaft in ihrer Anschlussberufung eine Erhöhung auf 4½ Jahre beantragt hat. Der Beschwerdeführer befindet sich (erst) seit rund zehn Monaten (5. April 2017) in Haft respektive im vorzeitigen Strafvollzug. Aufgrund der drohenden mehrjährigen Freiheitsstrafe und finanziellen Verpflichtungen besteht für den Beschwerdeführer unverändert ein erheblicher Anreiz, sich der Strafverfolgung durch Flucht zu entziehen. Zudem ist weiterhin damit zu rechnen, dass er auf die nach Auffassung des Bezirksgerichts deliktisch erworbenen Vermögenswerte von 1,8 Mio. Franken Zugriff hat, was ein Untertauchen und den Aufbau einer neuen Existenz erleichtern würde.  
Dieser erhebliche Fluchtanreiz kann weder durch die beschriebenen sozialen Bindungen noch durch die beruflichen Aussichten kompensiert werden. Die schweizerische Staatsangehörigkeit vermag daran nichts zu ändern, insbesondere da der Beschwerdeführer nach dem Gesagten durchaus einen relevanten Bezug zum Ausland aufweist ([Ex-]Freundin in Brasilien, früherer Aufenthalt in Deutschland, Ex-Frau in Thailand) und auch ein Untertauchen im Inland in Betracht zu ziehen ist (vgl. zum Ganzen auch Urteil 1B_217/2014 vom 9. Juli 2014 E. 2.5). Namentlich belegt der Beschwerdeführer in keiner Weise (bspw. durch Einreichung von Schriftverkehr), dass die Beziehung zu seiner in Brasilien lebenden Freundin tatsächlich beendet ist. 
Zusammenfassend besteht nach wie vor ausgeprägte Fluchtgefahr. 
 
3.6. Mildere Ersatzmassnahmen für Haft - wie die vom Beschwerdeführer beantragte Pass- und Schriftensperre - können geeignet sein, einer gewissen (niederschwelligen) Fluchtneigung ausreichend Rechnung zu tragen. Besteht dagegen wie vorliegend eine ausgeprägte Fluchtgefahr, erweisen sich Ersatzmassnahmen nach der einschlägigen Praxis des Bundesgerichts regelmässig und auch im zu beurteilenden Fall als nicht ausreichend (vgl. Urteil 1B_322/2017 vom 24. August 2017 E. 3.1 mit vielen Hinweisen, nicht publ. in: BGE 143 IV 330).  
 
4.   
Die Beschwerde ist somit abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Mit Urteil 1B_236/2017 vom 6. Juli 2017 wies das Bundesgericht das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wegen Aussichtslosigkeit der Beschwerde ab. Die Vorinstanz hat in der angefochtenen Verfügung eingehend und überzeugend begründet, weshalb die seither eingetretene Veränderung (insbesondere keine deutsche Staatsbürgerschaft) keine andere Beurteilung des Haftentlassungsgesuchs rechtfertigt. Die vorliegende Beschwerde ist deshalb ebenfalls als aussichtslos zu qualifizieren, was zur Abweisung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung führt (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.   
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 31. Januar 2018 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Merkli 
 
Der Gerichtsschreiber: Stohner