Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 127/01 
 
Urteil vom 20. September 2002 
IV. Kammer 
 
Besetzung 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber Batz 
 
Parteien 
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
1. A.________, 1942, vertreten durch Fürsprecher Stefan Fraefel, Belpstrasse 16, 3007 Bern, 
2. Krankenkasse KPT, Tellstrasse 18, 3014 Bern, 
Beschwerdegegner, 
 
Vorinstanz 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern 
 
(Entscheid vom 1. Februar 2001) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1942 geborene, beim Bundesamt X.________ tätige A.________ leidet als Folge einer 1964 durchgemachten Poliomyelitis vor allem an schweren Restlähmungen der Beine und an einer Beckengürtelschwäche. Die Invalidenversicherung erbrachte verschiedene Leistungen, darunter namentlich stationäre und ambulante Physiotherapie sowie diverse Hilfsmittel. Die ambulante Physiotherapie war zuletzt mit Verfügung vom 2. Dezember 1994 bis zum 31. Dezember 1999 zugesprochen worden. 
 
Am 6. Dezember 1999 ersuchte A.________ die Invalidenversicherung um Kostengutsprache für die weitere ambulante Physiotherapie ab 1. Januar 2000. Dieses Begehren wies die IV-Stelle Bern nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 1. Mai 2000 ab. 
B. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess mit Entscheid vom 1. Februar 2001 die dagegen eingereichten Beschwerden des Versicherten und der Krankenkasse KPT teilweise gut, hob die angefochtene Verfügung vom 1. Mai 2000 auf und wies die Sache an die Verwaltung zurück, damit diese, nach erfolgten Abklärungen im Sinne der Erwägungen, über die Kostengutsprache für ambulante Physiotherapie neu verfüge. 
C. 
Das Bundesamt für Sozialversicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Verfügung vom 1. Mai 2000 wiederherzustellen. 
 
Der Versicherte lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Die Krankenkasse KPT verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die IV-Stelle trägt auf Gutheissung der Beschwerde an. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG). 
2. 
2.1 Das kantonale Gericht hat die massgebenden Bestimmungen über den Anspruch auf medizinische Massnahmen physiotherapeutischer Art bei Lähmungen und andern motorischen Funktionsausfällen (Art. 12 Abs. 1 und 2 IVG sowie Art. 2 Abs. 1-3 IVV) und die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 120 V 279 Erw. 3a, 108 V 217 Erw. 1a; AHI 1999 S. 126 Erw. 2a mit weiteren Hinweisen) zutreffend dargelegt. Es kann darauf verwiesen werden. 
2.2 Ergänzend ist festzuhalten, dass Art. 12 IVG namentlich bezweckt, die Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der sozialen Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander abzugrenzen. Diese Abgrenzung beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit oder einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in den Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört (BGE 104 V 81 Erw. 1, 102 V 41 f.). 
Das Gesetz umschreibt die Vorkehren medizinischer Art, welche von der Invalidenversicherung nicht zu übernehmen sind, mit dem Rechtsbegriff "Behandlung des Leidens an sich". Wo und solange labiles pathologisches Geschehen besteht und mit medizinischen Vorkehren angegangen wird, seien sie kausal oder symptomatisch, auf das Grundleiden oder dessen Folgeerscheinungen gerichtet, stellen solche Heilmassnahmen, sozialversicherungsrechtlich betrachtet, Behandlung des Leidens an sich dar. Dem labilen pathologischen Geschehen hat die Rechtsprechung seit jeher im Prinzip alle nicht stabilisierten Gesundheitsschäden gleichgestellt, die Krankheitswert haben. Demnach gehören jene Vorkehren, welche auf die Heilung oder Linderung pathologischen oder sonst wie Krankheitswert aufweisenden Geschehens labiler Art gerichtet sind, nicht ins Gebiet der Invalidenversicherung. Erst wenn die Phase des (primären oder sekundären) labilen pathologischen Geschehens insgesamt abgeschlossen und ein stabiler bzw. relativ stabilisierter Zustand eingetreten ist, kann sich - bei volljährigen Versicherten - überhaupt die Frage stellen, ob eine Vorkehr Eingliederungsmassnahme sei. Die Invalidenversicherung übernimmt in der Regel nur unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur stabiler Defektzustände oder Funktionsausfälle gerichtete Vorkehren, sofern sie die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten Erfolges im Sinne des Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen. Dagegen hat die Invalidenversicherung eine Vorkehr, die der Behandlung des Leidens an sich zuzuzählen ist, auch dann nicht zu übernehmen, wenn ein wesentlicher Eingliederungserfolg vorausgesehen werden kann. Der Eingliederungserfolg, für sich allein betrachtet, ist im Rahmen des Art. 12 IVG kein taugliches Abgrenzungskriterium, zumal praktisch jede ärztliche Vorkehr, die medizinisch erfolgreich ist, auch im erwerblichen Leben eine entsprechende Verbesserung bewirkt (BGE 120 V 279 Erw. 3a, 115 V 194 Erw. 3, 112 V 349 Erw. 2, 105 V 19 und 149, 104 V 82, 102 V 42). 
2.3 Die Voraussetzungen für die Gewährung von Physiotherapie bei Lähmungen und andern motorischen Funktionsausfällen als medizinische Massnahmen durch die Invalidenversicherung hat der Bundesrat näher umschrieben (Art. 2 Abs. 2 und Abs. 3 IVV in Verbindung mit Art. 12 Abs. 2 IVG). Auch im Anwendungsbereich dieser Verordnungsbestimmungen muss das gesetzliche Erfordernis eines stabilen oder zumindest relativ stabilisierten Gesundheitszustandes erfüllt sein. Der Invalidenversicherung erwächst nach Art. 2 Abs. 2 und Abs. 3 IVV auch dann keine Leistungspflicht, wenn die Physiotherapie auf die Behandlung eines - auf die Lähmung zurückgehenden - sekundären Krankheitsgeschehens gerichtet ist wie beispielsweise Zirkulationsstörungen, Skelettdeformitäten oder Kontrakturen. Ebenfalls nicht zu Lasten der Invalidenversicherung gehen physiotherapeutische Vorkehren, die nur labiles pathologisches Geschehen mildern (BGE 108 V 218 Erw. 1a mit Hinweisen). 
2.4 Die Rechtsprechung hat festgehalten, dass sich stabilisierende Vorkehren stets gegen labiles pathologisches Geschehen richten. Deshalb muss eine kontinuierliche Therapie, die notwendig ist, um das Fortschreiten eines Leidens zu verhindern, als Behandlung des Leidens an sich bewertet werden. Keine stabile Folge von Krankheit, Unfall oder Geburtsgebrechen ist daher ein Zustand, der sich nur dank therapeutischer Massnahmen einigermassen im Gleichgewicht halten lässt, gleichgültig welcher Art die Behandlung sei (BGE 98 V 209). Ein solcher Zustand ist, solange er im Gleichgewicht bewahrt werden kann, wohl stationär, aber nicht im Sinne der Rechtsprechung stabil. Die medizinischen Vorkehren, die zur Aufrechterhaltung des stationären Zustandes erforderlich sind, können daher von der Invalidenversicherung nicht übernommen werden (BGE 102 V 42 f.; AHI 1999 S. 127 Erw. 2d, ZAK 1988 S. 86 f. Erw. 1). 
3. 
Vorliegend haben die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung aus den in den Akten liegenden Unterlagen, insbesondere den Berichten der Ärzte Dr. L.________ (vom 4. Februar 2000, 24. Oktober 1994 und 19. August 1991) sowie Dr. W.________ (vom 4. April 1979), namentlich zu Recht den Schluss gezogen, dass die beim Beschwerdegegner seit ca. 20 Jahren durchgeführte Physiotherapie voraussichtlich dauernd weiter notwendig ist, weshalb die in Frage stehenden Vorkehren nicht auf stabile Folgen der Lähmungen und damit auch nicht auf einen zumindest relativ stabilisierten Zustand gerichtet sind. Bei den umstrittenen Therapien handelt es sich vielmehr primär darum, den ohne Behandlungen vermehrt auftretenden Schmerzen sowie der bestehenden Rezidivgefahr durch dauernde physiotherapeutische Behandlung vorzubeugen bzw. Linderung zu verschaffen und auf diese Weise den Zustand einigermassen im Gleichgewicht zu halten (vgl. Erw. 2.4 hievor). Wie das Bundesamt zutreffend darlegt, liegt damit ein im Sinne der Rechtsprechung stationärer, nicht aber stabiler Zustand vor, weshalb die anbegehrten Therapien invalidenversicherungsrechtlich als Behandlung des Leidens an sich zu bewerten sind. Bei diesen Gegebenheiten kann die streitige Physiotherapie nicht als medizinische Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 12 IVG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 3 IVV qualifiziert werden. Daran vermögen die Ausführungen der Vorinstanz und des Beschwerdegegners nichts zu ändern. Dass die vorgenommenen Behandlungen sich günstig auf die Arbeits- resp. Erwerbsfähigkeit auswirken bzw. für die Erhaltung derselben wesentlich sind, wie in den von der Vorinstanz angeführten Berichten des Dr. L.________ vom 4. Februar 2000 und 19. August 1991 eingewendet wird, gibt ebenfalls zu keiner andern Beurteilung Anlass. Denn ein - in der Regel mit jeder Therapie verbundener - Eingliederungserfolg allein ist nicht entscheidend dafür, ob eine medizinische Vorkehr als Eingliederungsmassnahme im Sinne des Art. 12 Abs. 1 IVG anerkannt werden kann (dazu Erw. 2.2 hievor in fine mit Hinweisen). Ohne dass es der von der Vorinstanz angeordneten ergänzenden Abklärungen bedarf, muss es bei der Feststellung sein Bewenden haben, dass die Invalidenversicherung die anbegehrte, an sich zweckmässige und sinnvolle Physiotherapie gleichwohl nicht zu übernehmen hat, indem die Massnahme in den Bereich der Krankenversicherung gehört. Den im Übrigen zutreffenden Darlegungen der Verwaltung, auf welche verwiesen werden kann, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nichts beizufügen. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
1. 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 1. Februar 2001 aufgehoben. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der IV-Stelle Bern und der Eidgenössischen Ausgleichskasse zugestellt. 
 
Luzern, 20. September 2002 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Die Präsidentin der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: