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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.72/2002/sta 
 
Urteil vom 27. Februar 2002 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesrichter Aeschlimann, Fonjallaz, 
Gerichtsschreiberin Leuthold. 
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Ludwig Schmid, Falknerstrasse 26, Postfach 160, 4001 Basel, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, Postfach, 4001 Basel, 
Strafgerichtspräsident des Kantons Basel-Stadt, Schützenmattstrasse 20, 4003 Basel, 
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, Bäumleingasse 1, 4051 Basel. 
 
Art. 10 Abs. 2 BV, Art. 5 Ziff. 3 und Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Haftentlassung) 
 
(Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, vom 3. Januar 2002) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Im August 1997 wurde gegen drei Repräsentanten der Firma A.________ AG, Basel, unter ihnen X.________, Strafanzeige wegen Verdachts des Betruges, eventuell der Veruntreuung erstattet. X.________ verschwand in der zweiten Hälfte des Jahres 1997 aus Basel, worauf er zur Verhaftung ausgeschrieben wurde. Am 20. Juni 2001 stellte er sich der Polizei in Basel. Der Haftrichter am Strafgericht Basel-Stadt ordnete mit Verfügung vom 21. Juni 2001 gegen X.________ die Untersuchungshaft an. Diese wurde wiederholt erstreckt. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt erhob am 7. November 2001 gegen X.________ Anklage. Sie legt ihm gewerbsmässigen Betrug und mehrfache Urkundenfälschung im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit bei der A.________ AG sowie mehrfache Veruntreuung und Diebstahl zum Nachteil dieser Firma zur Last. Ausserdem wirft sie ihm gewerbsmässigen Betrug und mehrfache Urkundenfälschung im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit bei der Firma B.________ vor; diese Firma mit Sitz in St. Vincent (Karibik) habe Büroräume in Frankfurt am Main gehabt, und der Angeklagte sei Leiter des Büros in Frankfurt gewesen. X.________ ersuchte mit Eingabe vom 29. November 2001 um Entlassung aus der Haft. Der Strafgerichtspräsident lehnte das Gesuch am 3. Dezember 2001 ab und stellte gleichzeitig beim Haftrichter Antrag auf Verlängerung der Haft um acht Wochen. Mit Verfügung vom 6. Dezember 2001 wurde die Haft bis zum 31. Januar 2002 verlängert. Der Angeklagte erhob dagegen Beschwerde an das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt. Dieses wies die Beschwerde mit Urteil vom 3. Januar 2002 ab. 
B. 
X.________ liess am 11. Februar 2002 durch seinen Anwalt gegen den Entscheid des Appellationsgerichts staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht einreichen. Er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und er sei aus der Haft zu entlassen. Ferner ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren. 
C. 
Der Strafgerichtspräsident und das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt stellen unter Verzicht auf Gegenbemerkungen den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Staatsanwaltschaft liess sich nicht vernehmen. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 3. Januar 2002, mit dem die am 6. Dezember 2001 verfügte Verlängerung der Untersuchungshaft bis zum 31. Januar 2002 bestätigt wurde. Der Strafgerichtspräsident erstreckte die Haft am 28. Januar 2002 bis zum 28. März 2002. Der Beschwerdeführer befindet sich somit weiterhin in Haft und hat demzufolge nach wie vor ein aktuelles praktisches Interesse an der Überprüfung des angefochtenen Entscheids (Art. 88 OG). 
 
Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die staatsrechtliche Beschwerde einzutreten. 
2. 
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Abweisung seiner Beschwerde gegen die Haftverlängerung verletze das Recht auf persönliche Freiheit. Er beruft sich dabei auf Art. 10 Abs. 2 BV sowie auf Art. 5 Ziff. 3 und Art. 6 Ziff. 2 EMRK. Die Berufung auf die letztgenannte Vorschrift ist verfehlt, da Art. 6 Ziff. 2 EMRK nicht die persönliche Freiheit, sondern den (hier nicht zur Diskussion stehenden) Grundsatz der Unschuldsvermutung gewährleistet. 
2.1 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen Anordnung oder Aufrechterhaltung der Haft erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht grundsätzlich nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 123 I 31 E. 3a S. 35, 268 E. 2d S. 271, je mit Hinweisen). Die Vorschrift von Art. 5 EMRK geht ihrem Gehalt nach nicht über den verfassungsmässigen Anspruch auf persönliche Freiheit hinaus. Indessen berücksichtigt das Bundesgericht bei der Konkretisierung dieses Anspruchs auch die Rechtsprechung der Konventionsorgane (BGE 114 Ia 281 E. 3 S. 282 f. mit Hinweisen). 
2.2 Nach § 69 der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Stadt (StPO) ist die Anordnung oder Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft zulässig, wenn der Angeschuldigte einer mit Freiheitsstrafe bedrohten Tat dringend verdächtig ist und überdies Flucht-, Kollusions- oder Fortsetzungsgefahr besteht. Ausserdem darf die Haft die voraussichtliche Dauer der Freiheitsstrafe nicht übersteigen (§ 72 Abs. 1 StPO). 
Das Appellationsgericht nahm an, im vorliegenden Fall seien der dringende Tatverdacht sowie Fluchtgefahr gegeben und die Fortdauer der Haft sei nicht unverhältnismässig. 
 
Der Beschwerdeführer wirft der kantonalen Instanz in allen drei Punkten eine Verletzung der Verfassung vor. 
2.3 Im angefochtenen Entscheid wurde ausgeführt, nach der Praxis des Appellationsgerichts gelte bei Vorliegen der Anklageschrift die Voraussetzung des dringenden Tatverdachts ohne weiteres als erfüllt, weil damit in aller Regel eine Erhärtung und Verdichtung von anfänglich vielleicht noch eher vagen Verdachtsmomenten verbunden sei. 
 
Der Beschwerdeführer bezeichnet diese Praxis als verfassungswidrig. Er ist der Meinung, weil es sich bei der Anklageschrift um eine "Parteischrift des Staatsanwaltes" handle, müsse der Haftrichter aufgrund der gesamten Akten abklären, ob tatsächlich im Umfang der Anklageschrift ein dringender Tatverdacht bestehe. Indem das Appellationsgericht sich lediglich auf die Anklageschrift berufe, habe es den "Grundsatz der Unmittelbarkeit" verletzt. 
 
Der in § 121 Abs. 3 StPO verankerte Grundsatz, wonach das Gericht alle für die Entscheidfindung wesentlichen Beweise unmittelbar erhebt, gilt für die Hauptverhandlung vor dem erkennenden Gericht. Er findet im Verfahren vor dem Haftrichter keine Anwendung. Die Rüge, das Appellationsgericht habe das Unmittelbarkeitsprinzip verletzt, ist klarerweise unzutreffend. 
 
Wurde gegen einen in Haft befindlichen Angeschuldigten Anklage erhoben, so kann der Haftrichter in der Regel davon ausgehen, der dringende Tatverdacht sei gegeben. Eine Ausnahme wäre dann zu machen, wenn der Angeschuldigte im Haftprüfungs- oder Haftbeschwerdeverfahren darzutun vermöchte, dass die Annahme eines dringenden Tatverdachts unhaltbar sei. Ein solcher Ausnahmefall lag hier nicht vor. Die allgemeine Haftvoraussetzung des dringenden Tatverdachts konnte im vorliegenden Fall ohne Verletzung der Verfassung bejaht werden. 
2.4 Zur Frage der Fluchtgefahr führte das Appellationsgericht aus, es sei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer trotz der formell weiter bestehenden Anmeldung seit Jahren nicht mehr bei seiner Mutter in Basel gewohnt habe. Auch habe ihn sein angeblich fester Wohnsitz in Basel nicht daran gehindert, während vier Jahren auf der Flucht und unbekannten Aufenthaltes zu sein. Nach seiner Verhaftung habe der Beschwerdeführer erklärt, dass seine Lebensgefährtin am 1. Juli 2001 ein Kind bekommen habe und er definitiv zu ihr ins Ausland ziehen und sie heiraten wolle. Er habe sich aber geweigert, Angaben über seinen Wohnort zu machen. Aufgrund dieses Aussageverhaltens sei das Bestehen einer Fluchtgefahr zu bejahen. Es treffe zwar zu, dass der Beschwerdeführer sich selber der Polizei gestellt habe. Dabei habe er sich offenbar falsche Vorstellungen darüber gemacht, was ihm vorgeworfen werde. Nachdem der Beschwerdeführer zunächst erklärt habe, er habe nichts gegen seine Haft einzuwenden, habe er später eingeräumt, sich nur wegen des "Frankfurter Falls" gestellt zu haben, nicht auch wegen der ihm vorgeworfenen "A.________ AG"-Angelegenheit. Die kantonale Instanz hielt fest, die Einsicht, dass es um mehr gehe, als der Beschwerdeführer ursprünglich erwartete, habe neben seinem Aussageverhalten auch sein allgemeines Verhalten im Untersuchungsgefängnis in markanter Weise geändert. Dies berechtige zur Annahme, dass die Beurteilung der Fluchtgefahr heute nicht mehr die gleiche sein könne wie im Zeitpunkt seiner Verhaftung, in welchem Fluchtgefahr zwar ebenfalls angenommen worden sei, allerdings neben dem Haftgrund der Kollusionsgefahr. 
 
In der staatsrechtlichen Beschwerde wird nichts vorgebracht, was geeignet wäre, diese Überlegungen als verfassungswidrig erscheinen zu lassen. Es wird im Wesentlichen bloss eingewendet, das Appellationsgericht habe die Tatsache ungenügend gewürdigt, dass sich der Beschwerdeführer freiwillig der Polizei gestellt habe. Dieser Einwand ist unbegründet. Das Appellationsgericht hat den erwähnten Umstand berücksichtigt, doch legte es dar, weshalb gleichwohl die Gefahr vorhanden sei, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Freilassung die Flucht ergreifen würde. Die betreffenden, oben angeführten Überlegungen sind sachlich vertretbar. Es lässt sich mit Grund annehmen, sowohl mit Rücksicht auf die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers als auch im Hinblick auf die Schwere der im Falle eines Schuldspruchs drohenden Strafe bestünden gewichtige Indizien für eine konkrete Fluchtgefahr. Werden die gesamten Verhältnisse des Beschwerdeführers in Betracht gezogen, so verletzte das Appellationsgericht die Verfassung und die EMRK nicht, wenn es den Haftgrund der Fluchtgefahr bejahte. 
2.5 Hinsichtlich der Frage der Verhältnismässigkeit der Haft führte das Appellationsgericht aus, dem Beschwerdeführer würden in der Anklageschrift Delikte vorgeworfen, die zu hohen Freiheitsstrafen führen könnten. Art. 146 Abs. 2 StGB sehe beispielsweise eine Strafe von bis zu "fünf" (richtig: zehn) Jahren Zuchthaus oder Gefängnis nicht unter drei Monaten vor. Es bestehe der Verdacht, der Beschwerdeführer habe sich des gewerbsmässigen Betruges, der mehrfachen Veruntreuung, des Diebstahls und der mehrfachen Urkundenfälschung schuldig gemacht. Solange dieser Verdacht vorliege, sei es berechtigt, mit einer Strafe zu rechnen, die wesentlich höher sei als die per Ende Januar 2002 etwas länger als sieben Monate dauernde Untersuchungshaft. Die angefochtene Haftverlängerung verletze deshalb den Grundsatz der Verhältnismässigkeit nicht. 
 
In der staatsrechtlichen Beschwerde wird eingewendet, aus den Akten ergebe sich, dass der Beschwerdeführer sowohl im Fall A.________ AG als auch im Fall Firma B.________ "nur in geringem Mass an der kriminellen Tätigkeit der beiden Gesellschaften" mitgewirkt habe. Der Haftrichter habe eine antizipierte Strafzumessung vorzunehmen, welche auch dem Verschulden gemäss Art. 63 StGB Rechnung trage. Das Appellationsgericht habe auf die "abstrakte Höchststrafe" bezüglich der in der Anklage genannten Delikte abgestellt und damit willkürlich gehandelt. Angesichts der ausgestandenen Untersuchungshaft von mehr als einem halben Jahr könne im vorliegenden Fall nicht mehr gesagt werden, die Fortdauer der Haft sei verhältnismässig. 
 
Eine Haftdauer ist dann unverhältnismässig, wenn sie die mutmassliche Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe übersteigt. Der Haftrichter darf die Haft nur solange erstrecken, als ihre Dauer nicht in grosse Nähe der konkret zu erwartenden Strafe rückt (BGE 123 I 268 E. 3a S. 273 mit Hinweisen). Ausgangspunkt für die Beurteilung der mutmasslichen Freiheitsstrafe bildet das zu erwartende Urteil des erkennenden Gerichts. Diesbezüglich muss der Haftrichter von einer Hypothese ausgehen. Er ist aber weder befugt noch in der Lage, dem Entscheid des Sachrichters über die auszufällende Sanktion vorzugreifen. Die Anklage wirft dem Beschwerdeführer gewerbsmässigen Betrug, mehrfache Veruntreuung, Diebstahl und mehrfache Urkundenfälschung vor, wobei sich der Deliktsbetrag auf insgesamt rund Fr. 3,5 Mio. belaufen soll. Mit Rücksicht auf diese Umstände ging das Appellationsgericht mit Grund davon aus, es sei mit einer Strafe zu rechnen, die wesentlich höher sein dürfte als die per Ende Januar 2002 etwas mehr als sieben Monate dauernde Untersuchungshaft. Die kantonale Instanz verstiess nicht gegen die Verfassung, indem sie die Fortdauer der Haft als verhältnismässig erachtete. 
 
Nach dem Gesagten verletzte das Appellationsgericht weder die Verfassung noch die EMRK, wenn es die Beschwerde gegen die Haftverlängerung vom 6. Dezember 2001 abwies. Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich als unbegründet und ist daher abzuweisen. 
3. 
Dem Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne von Art. 152 Abs. 1 und 2 OG kann mit Rücksicht auf die gesamten Umstände des Falles entsprochen werden. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt: 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben. 
2.2 Advokat Ludwig Schmid, Basel, wird als amtlicher Anwalt des Beschwerdeführers bezeichnet und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft, dem Strafgerichtspräsidenten und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 27. Februar 2002 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: