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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
2A.247/2006 /leb 
 
Urteil vom 3. August 2006 
II. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, Präsident, 
Bundesrichter Hungerbühler, Müller, 
Gerichtsschreiber Klopfenstein. 
 
Parteien 
A.________, 
Beschwerdeführer, vertreten durch 
Fürsprecher Urs Jost, 
 
gegen 
 
Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern, Kramgasse 20, 3011 Bern, 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, Speichergasse 12, 3011 Bern. 
 
Gegenstand 
Ausweisung, 
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil 
des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 
vom 6. April 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der italienische Staatsangehörige A.________ (geb. 1961) reiste 1986 in die Schweiz ein und heiratete im selben Jahr eine Schweizer Bürgerin. Der Ehe entsprossen die drei Kinder B.________ (geb. 1986), C.________ (geb. 1988) und D.________ (geb. 1993). Am **. ** 2004 wurde die Ehe geschieden. Die Kinder kamen in eine Pflegefamilie bzw. in ein Internat; das Sorgerecht war den Eltern entzogen worden. A.________ besitzt die Niederlassungsbewilligung. 
B. 
Am 11. August 2000 verurteilte das Obergericht des Kantons Bern A.________ wegen mehrfachen Mordes und Diebstahls zu 16 Jahren Zuchthaus und zu einer ambulanten Behandlung für Rauschgiftsüchtige während und nach dem Strafvollzug. Eine hiegegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wies das Bundesgericht am 9. August 2001 ab. 
C. 
Nachdem das Amt für Migration und Personenstand des Kantons Bern (Migrationsdienst) A.________ das rechtliche Gehör gewährt hatte, wies es ihn mit Verfügung vom 11. April 2005 auf den Tag seiner Entlassung aus dem Strafvollzug für unbestimmte Zeit aus der Schweiz aus. Zur Begründung führte der Migrationsdienst im Wesentlichen aus, A.________ habe in schwerwiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz verstossen. Ihm sei zuzumuten, wieder in sein Heimatland zurückzukehren. 
Die gegen diese Verfügung bei der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern (POM) erhobene Beschwerde blieb erfolglos, und mit Urteil vom 6. April 2006 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die gegen den Entscheid der POM vom 17. November 2005 gerichtete Beschwerde ebenfalls ab. 
D. 
Mit Eingabe vom 8. Mai 2006 führt A.________ "Verwaltungsbeschwerde" (recte: Verwaltungsgerichtsbeschwerde) beim Bundesgericht mit dem Antrag, den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 6. April 2006 aufzuheben. Gleichzeitig wird um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ersucht. 
 
Die Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Denselben Antrag stellen das Verwaltungsgericht des Kantons Bern und das Bundesamt für Migration. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 
Gegen die sich auf Art. 10 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) stützende Ausweisungsverfügung ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig (Art. 100 Abs. 1 lit. b Ziff. 4 e contrario; BGE 114 Ib E. 1a S. 2), und der Beschwerdeführer ist hierzu legitimiert (Art. 103 lit. a OG). 
1.2 Das Bundesgericht wendet auf Verwaltungsgerichtsbeschwerde hin das Bundesrecht von Amtes wegen an; es ist an die von den Parteien vorgebrachten Begründungen nicht gebunden und kann die Eingabe auch aus anderen als den geltend gemachten Gründen gutheissen oder abweisen (Art. 114 Abs. 1 OG; BGE 128 II 145 E. 1.2.2 S. 150 f.). Hat - wie hier - eine richterliche Behörde als Vorinstanz entschieden, so ist deren Sachverhaltsfeststellung verbindlich, sofern diese nicht offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensgarantien erfolgt ist (Art. 105 Abs. 2 OG). 
2. 
2.1 Die Niederlassungsbewilligung erlischt u.a. mit der Ausweisung (Art. 9 Abs. 3 lit. b ANAG). Gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG kann ein Ausländer aus der Schweiz ausgewiesen werden, wenn er wegen eines Verbrechens oder Vergehens gerichtlich bestraft wurde. Die Ausweisung soll jedoch nur ausgesprochen werden, wenn sie nach den gesamten Umständen angemessen erscheint (Art. 11 Abs. 3 ANAG). Hierbei sind vor allem die Schwere des Verschuldens des Ausländers, die Dauer seiner Anwesenheit in der Schweiz und die ihm und seiner Familie drohenden Nachteile zu berücksichtigen (Art. 16 Abs. 3 der Vollziehungsverordnung vom 1. März 1949 zum Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, ANAV; SR 142.201). Ob eine Ausweisung im Sinne der Art. 11 Abs. 3 ANAG und Art. 16 Abs. 3 ANAV "angemessen", d.h. verhältnismässig sei, ist eine Rechtsfrage, die vom Bundesgericht im Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde frei geprüft wird (Art. 104 lit. a OG). Dem Bundesgericht ist es jedoch verwehrt, sein eigenes Ermessen - im Sinne einer Überprüfung der Zweckmässigkeit (Opportunität; vgl. 116 Ib 353 E. 2b) der Ausweisung - an die Stelle desjenigen der zuständigen kantonalen Behörde zu setzen (BGE 125 II 105 E. 2a S. 107, mit Hinweisen). 
Die Prüfung der entscheidenden Frage der Verhältnismässigkeit ist gestützt auf die gesamten wesentlichen Umstände des Einzelfalles vorzunehmen (BGE 125 II 521 E. 2b S. 523 f. mit Hinweisen). 
2.2 Die formellen Voraussetzungen für eine Ausweisung des Beschwerdeführers sind aufgrund der ergangenen strafrechtlichen Verurteilung gegeben. Er wurde wegen zweifachen Mordes mit einer langjährigen Zuchthausstrafe belegt. Unter diesen Umständen besteht ein entsprechend gewichtiges öffentliches Interesse an seiner Entfernung und Fernhaltung aus der Schweiz (vgl. zur strengen Praxis des Bundesgerichtes bei Drogendelikten und bei Delikten gegen die körperliche Integrität BGE 125 II 521 E. 4a S. 526 ff.). 
2.3 Die kantonalen Behörden haben sodann die für die Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Ausweisung zu berücksichtigenden Kriterien zutreffend dargelegt. Sie haben zu Recht grosses Gewicht auf die begangenen Straftaten gelegt und das Verschulden in Berücksichtigung der Ausführungen im rechtskräftigen Strafurteil vom 11. August 2000 als besonders schwer qualifiziert ("Das vom Beschwerdeführer an den Tag gelegte Aggressionspotential ist beängstigend und sein Verschulden im obersten Bereich einzustufen", S. 9 des angefochtenen Entscheides). Der damals drogensüchtige Beschwerdeführer hatte am 25. Januar 1997 zusammen mit einem Mittäter zwei Menschen ermordet. Die Tat hatte zunächst bloss bezweckt, vom ersten Opfer ein wenig "Stoff" und Geld zu erlangen, hatte dann aber zur Ermordung des Betreffenden sowie zur Elimination der einzigen Tatzeugin geführt, wobei im Urteil des Obergerichts von einem "grausamen Tatvorgehen", einem "klaren Niedermetzeln" die Rede ist (Urteil des Obergerichts, a.a.O., pag. 1669 ff.). Das gezeigte deliktische Verhalten des Beschwerdeführers war, wie das Verwaltungsgericht deshalb zu Recht festhielt, "besonders gravierend und die öffentliche Sicherheit in ausserordentlicher Weise gefährdend" (S. 9 des angefochtenen Entscheides). 
Die gegenläufigen privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz fallen nicht schwer ins Gewicht. Er ist erst als Erwachsener in die Schweiz gekommen und kann daher nicht als "Ausländer der zweiten Generation" bezeichnet werden (vgl. dazu BGE 130 II 176 E. 4.4.2 S. 190 f.). Er hat sich hier gemäss den Feststellungen des Verwaltungsgerichts weder beruflich noch sozial integriert und spricht zudem praktisch kein Deutsch (S. 14 und 15 des angefochtenen Entscheides). Fast die Hälfte seines Aufenthaltes in der Schweiz verbrachte er in Unfreiheit (Einreise 1986, in Haft seit 1997). Er ist von seiner Ehefrau geschieden und hat kein Sorgerecht über die Kinder, die in einer Pflegefamilie bzw. einem Internat untergebracht sind. Die Ausweisung des Beschwerdeführers erscheint nach den Grundsätzen des ANAG daher nicht unverhältnismässig und hält auch vor Art. 8 EMRK stand (vgl. zu einem allfälligen konventionsrechtlichen Aufenthaltsanspruch eines für seine Kinder nicht sorgeberechtigten Ausländers BGE 120 Ib 1 E. 3c S. 5, 22 E. 4a/b S. 25. f.). 
2.4 
2.4.1 Das ANAG gilt für Staatsangehörige der Europäischen Gemeinschaft und ihre Familienangehörigen nur so weit, als das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen, FZA; SR 0.142.112.681) keine abweichende Bestimmung enthält oder dieses Gesetz eine vorteilhaftere Rechtsstellung vorsieht (Art. 1 lit. a ANAG). 
Als italienischer Staatsbürger kann sich der Beschwerdeführer auf die Garantien des Freizügigkeitsabkommens bzw. auf Art. 5 des Anhanges I FZA berufen. 
2.4.2 Gemäss Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA dürfen die vom Freizügigkeitsabkommen - unter anderem nach dem erwähnten Art. 2 Anhang I FZA - gewährten Rechtsansprüche "nur durch Massnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, eingeschränkt werden" (BGE 130 II 176 E. 3.1 S. 179 f. mit Hinweisen). Weitere Präzisierungen finden sich vor allem in der Richtlinie 64/221/EWG des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (kurz: RL 64/221/EWG; publ. in: ABl. Nr. 56, S. 850), auf welche in Art. 5 Abs. 2 Anhang I FZA Bezug genommen wird. 
 
2.4.3 Nach den gemäss Art. 5 Anhang I FZA anwendbaren Grundsätzen wird insbesondere eine hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung zur Rechtfertigung von Entfernungs- oder Fernhaltemassnahmen gefordert. Dabei darf "ausschliesslich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelperson ausschlaggebend" sein. Art.3 Abs.1 RL 64/221/EWG steht somit Massnahmen entgegen, die aus generalpräventiven Gründen verfügt werden (BGE 130 II 176 E.3.4.1 S.183 mit Hinweisen). Ausserdem können gemäss Art. 3 Abs. 2 RL 64/221/EWG strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres Massnahmen begründen. Eine frühere strafrechtliche Verurteilung darf daher nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Zwar wird in die Interessenabwägung nach Art. 11 Abs. 3 ANAG regelmässig auch die Rückfallgefahr und der Resozialisierungsgedanke einbezogen (vgl. BGE 130 II 176 E. 4.2 S. 185 mit zahlreichen Hinweisen). Die Prognose über das Wohlverhalten gibt in jener Abwägung aber nicht den Ausschlag (BGE 125 II 105 E. 2c S. 110 mit Hinweisen). Dagegen ist im Rahmen von Art. 5 Anhang I FZA die Feststellung einer gegenwärtigen Gefährdung eine Grundvoraussetzung für den Erlass von Entfernungs- oder Fernhaltemassnahmen. 
2.4.4 Das Verwaltungsgericht durfte aufgrund der von ihm getroffenen und für das Bundesgericht nach Massgabe von Art. 105 Abs. 2 OG verbindlichen Feststellungen (E. 1.2) zulässigerweise davon ausgehen, dass vom Beschwerdeführer aufgrund der von ihm begangenen Straftat(en) nach wie vor ein gewisses Risiko ausgeht. Zwar stuft ihn das Verwaltungsgericht als "heute nicht mehr drogensüchtig" ein (angefochtener Entscheid S. 11); es weist aber gleichzeitig auf das persönlichkeitsadäquate Aggressionspotential des Beschwerdeführers hin, dessentwegen auch nach der Entlassung aus dem Strafvollzug eine Fortsetzung der Psychotherapie empfohlen werde. Der Beschwerdeführer neigt in gewissen Situationen nach wie vor zu impulsiven Reaktionen (S. 12/13 des angefochtenen Entscheides). Gewalttätiges Verhalten kann trotz der bisherigen positiven Entwicklung auch in Zukunft nicht völlig ausgeschlossen werden. Entsprechend grösser wird dieses Risiko, falls der Beschwerdeführer - was erfahrungsgemäss ebenfalls nicht ausgeschlossen werden kann - in die Drogensucht zurückfallen sollte. Dass der Beschwerdeführer offenbar immer noch illegale Drogen konsumiert, geht sogar aus dem von ihm selber eingereichten Therapiebericht des Forensisch-psychiatrischen Dienstes der Universität Bern vom 13. Februar 2006 hervor: 
"Umso schwerer erklärbar sind die (...) positiven Nachweise von regelwidrigem Substanzkonsum. Entsprechend problematisch müssen auch die in die Zukunft weisenden Absichtserklärungen von Herrn A.________ gesehen werden. Ob also in dem dann von ihm selbst verantwortlich mitzugestaltenden Lebensumfeld eine vollständige Drogenabstinenz erwartet werden kann, ist gerade auch unter diesen genannten Vorerfahrungen als zweifelhaft, wenn nicht gar unwahrscheinlich zu erachten." 
Wenn der Beschwerdeführer aufgrund des von ihm begangenen schweren Verbrechens und der von seiner Person ausgehenden nach wie vor ausgehenden, nicht unerheblichen Gefährdung der öffentlichen Ordnung gestützt auf Art. 10 ANAG ausgewiesen wird, verstösst diese Sanktion nicht gegen Art. 5 des Anhanges I FZA. 
3. 
Dies führt zur Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. 
 
Bei diesem Verfahrensausgang sind die bundesgerichtlichen Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 in Verbindung mit Art. 153 und 153a OG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung kann nicht entsprochen werden, da er aufgrund der sorgfältigen und überzeugenden Prüfung der Sach- und Rechtslage im vorinstanzlichen Urteil nicht ernsthaft mit einem Erfolg der vorliegenden Beschwerde rechnen konnte (Art. 152 OG). Der finanziellen Lage des Beschwerdeführers ist bei der Festsetzung der Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen (Art. 153a OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen. 
3. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 500.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt. 
4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Polizei- und Militärdirektion und dem Verwaltungsgericht (Verwaltungsrechtliche Abteilung) des Kantons Bern sowie dem Bundesamt für Migration schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 3. August 2006 
Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: